Der Autor des einstigen Wissenschaftsbestsellers "Die Erlebnisgesellschaft" hat mit seiner "verstehenden Soziologie" schon immer auf einen Mix aus fröhlicher Wissenschaft und Eventkultur gesetzt. Kein Wunder also, wenn sich in seinem aktuellen Buch "Die Sünde" nicht nur kleine Gedanken über Religion und Moderne oder über Prohibition und Lustprinzip finden lassen, sondern wenn dort ebenso ein Kochrezept, eine Anleitung zur Verfeinerung oraler Lüste und eine "to-do"-Liste zum Erlernen echter Lebenskunst versteckt ist. Denn Schulze ist angetreten, das Diesseits zu retten. Das Diesseits nämlich hat es nicht leicht. Die zarten Versuchungen des Alltags werden zunehmend in die Zange genommen. Auf der einen Seite sind da die versammelten Religionsfundamentalisten aus Orient und Okzident, auf der anderen Seite lauern Gesundheitsapostel und Flagellanten.
Da ist zum Beispiel das Rauchen: Einst in seiner absoluten Funktions- und Nutzlosigkeit die Glücksverkörperung eines jeden Connaisseurs und Bonvivants, ist der Blaue Dunst längst zum Höllenqualm des post-säkularen Zeitalters deklassiert worden. Dabei ist die Sucht doch viel zu schön: "Im Rauchen", so Schulze, "löst sich der Mensch von seiner Natur, ja er handelt ihr zuwider, um desto menschlicher zu sein: ein Spielender, ein Genießender, einer, der die biologischen Voraussetzungen für sinnlichen Genuss erst herstellt."
Doch der Tabakkonsument ist für den 1944 geborenen Theologensohn mehr als nur Lebenskünstler und Genüssling, er ist primär Retter des Projektes Moderne. Denn Moderne beschreibt für Schulze nicht nur der Weg zu Abstraktion und Ernüchterung; Moderne beschreibt eine Reise ins Diesseitige. Ließ sich der vormoderne Mensch in seiner Moral noch durch göttliche Gebote oder Warnhinweise vor lauernder Sünde leiten, so gilt für den Menschen am Ende der Aufklärung das Gegenteil: Der letzte Kick ist die Veredelung der Sinneslust.
Kein Wunder also, dass Gerhard Schulze in den mahnenden Worten auf Zigarettenpackungen oder in den Bildern von Krebs zerfressenen Lungen die gleichen Regungen angesprochen sieht, wie bei den Anblicken eines mit glühenden Zangen gefolterten Sünders auf den Gemälden von Hironymus Bosch: nämlich "schlechtes Gewissen und Furcht".
Schulzes Buch will nicht weniger liefern als eine sittliche Vermessung des Westens am Beginn des 21. Jahrhunderts. Als Gradmesser dieser kulturellen Selbstbeobachtung greift der Soziologe daher auf sieben Kategorien zurück, die einst von Papst Gregor I. formuliert worden sind, und die seither als die "sieben Todsünden" das schlechte Gewissen des Abendländers plagen: Völlerei, Unkeuschheit, Habsucht, Trägheit, Zorn, Hoffart und Neid. So fremd einige dieser Worte heute auch klingen, so ideal sind sie doch für eine Gegenüberstellung mit den Prinzipien der Nach-Aufklärung. Denn spätestens seitdem Friedrich Nietzsche bei den Hirnströmungen des Weltenschöpfers eine permanente Nulllinie ausgemacht haben will, hat sich ein Großteil des Gregorianischen Sündenkataloges in sein Gegenteil verkehrt. Heute wird ein gutes Leben durch Gaumenfreuden, Sinnlichkeit, Sex, Luxus und Selbstsicherheit bestimmt. Einzig Zorn und Neid mögen noch die gleichen unguten Gefühle erzeugen.
Mögen Feuilletons und Mummelgreise hierin stets eine tragische Dekadenzentwicklung gesehen haben; Gerhard Schulze steht zum Dolce Vita. Gerade nach dem 11. September wäre Einknicken nicht angebracht. Sich Mullahs oder Fernsehpredigern zu beugen, hieße nur, weiter vom Gift kirchlicher Sündenlehre zu kosten. Moralisch sein aber heißt: verfallen sein. Und so, wie man dank eines sauerländischen Bierbrauers bereits durch bloßen Alkoholkonsum ein Stück Regenwald retten kann, so rettet Schulze durch "Küssen in der Öffentlichkeit, Schinkenbrote, Schönheit und Liebe" die Welt vor Al-Qaida. Denn: "Der Hass auf den Westen zielt auf sein normatives Zentrum: das Projekt des schönen Lebens."
Einst, als Gerhard Schulze nicht nur Meister im hemmungslosen Daherreden war, sondern ebenso Theorie-Guru der Generation Love-Parade, konnte er mit seinem Buch "Die Erlebnisgesellschaft" dem Rave einige leicht philosophisch schwingende Beats beimischen. An diese Leistung versucht er, mit "Die Sünde" vergeblich wieder anzuknüpfen. Denn die allerorten diagnostizierte Rückkehr der Religion ist für ihn einzig Grund, die Musik noch lauter aufzudrehen. "Zum Vorwurf seiner Sündhaftigkeit schweigt sich der Westen aus. Was fehlt, ist ein selbstbewusstes Bekenntnis zum Diesseits und zur Lebensfreude." Das Unpolitische bleibt für Schulze also weiterhin politisch. Mögen die meisten seiner Kollegen gesehen haben, wie die hedonistischen 90er-Jahre zusammen mit den New Yorker Twin Towers in sich zusammenbrachen; dem Bamberger Soziologen ist das egal. Solange die Siegessäule noch steht, spielt Schulze weiter alte Platten.
Gerhard Schulze: Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde. Carl Hanser Verlag, München 2006; 290 S., 21,50 Euro.