Die blauen Sitze im Berliner Reichstagsgebäude sind begehrt. "Man muss jahrelang Zettel verteilen und sich die dümmsten Veranstaltungen antun, bis man in die Weihen kommt", beschreibt eine ehemalige Abgeordnete den langen und steinigen Weg ins Parlament. Mit der Bundestagswahl 2002 und dem per Gesetz verkleinerten Parlament schied fast ein Drittel der damals 666 Abgeordneten aus. Auch die Auflösung und Neuwahl des Bundestags 2005 hatte den Ausstieg zahlreicher Mitglieder zur Folge. Was diese Menschen jetzt machen, ist unklar. Mit dem Ende ihrer Parlamentszugehörigkeit endete für viele Ehemalige auch das Interesse der Medien an ihrer Person. Die letzten Einträge im Internet liegen mehrere Jahre zurück und wer nicht mehr auffällt, scheint nicht mehr stattzufinden.
Die Sozialwissenschaftlerin Maria Kreiner untersuchte ein Phänomen, welches in einer schnelllebigen Mediengesellschaft wie unserer kaum Beachtung findet. Ihre Verbleibstudie "Amt auf Zeit" zeigt, wie schwer es ist, wieder Fuß zu fassen nach dem Ausstieg. Sie führte 38 anonymisierte wissenschaftliche Interviews mit ehemaligen Abgeordneten aller Parteien mit teils überraschenden Ein- und Ausblicken. Unverblümt beschreibt einer ihrer Interviewpartner den Mandatsverlust als "einen wahnsinnig tiefen Einschnitt in die Persönlichkeit", den man erst einmal verkraften müsse. "Ein Bundestagsmandat", erklärt eine Interviewpartnerin, "ist praktisch der Höhepunkt der politischen Karriere." Aber es sei eben "nur ein Vierjahresvertrag".
Für Siegfried Helias zum Beispiel, Mitglied des Bundestags bis 2005, war der Ausstieg mit neuen Zielsetzungen verbunden. Er engagiert sich bei der City Stiftung Berlin für benachteiligte Kinder und nutzt neue private Freiräume. "Diesen Gewinn an Lebensqualität werde ich in Zukunft noch intensiver genießen", erklärt er. Bei seinem Ausscheiden aus dem Parlament sei die neue Lebensplanung für ihn bereits abgeschlossen gewesen, "und die Perspektiven waren so erfreulich, dass für Wehmut wenig Platz blieb."
Andere Abgeordnete erwarteten nicht so rosige Aussichten. In den Medien wurde der Fall der ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Lilo Friedrich bekannt, die für Hartz-IV stimmte und sich nach rund 100 fehlgeschlagenen Bewerbungen als "Putzfee" selbstständig machte. "Die Menschen glauben, man kommt aus dem Bundestag zurück und hat ausgesorgt", konstatiert sie. Eine Rente bekomme man schließlich erst ab dem 65. Lebensjahr. Auch das Karriereende des ehemaligen Grünen-Abgeordneten Thomas Wüppesahl sorgte für Aufsehen. Nachdem er seinen Sitz im Bundestag verloren hatte, war er 2004 am Überfall auf einen Geldtransporter beteiligt und sitzt seitdem für viereinhalb Jahre im Gefängnis.
Immerhin zwölf Prozent der Befragten von Maria Kreiner lassen sich als so genannte "Problemfälle" einordnen. Das sind mehr als doppelt so viele, wie bisherige Studien annahmen. Mehr als die Hälfte der befragten Abgeordneten aus den neuen Bundesländern hatte sich für den Fall des Mandatsverlustes nicht sozial abgesichert. Auch wenn die "materielle Problemlage" nicht jeden in die Kriminalität treibt, so bedauern doch viele ehemalige Abgeordnete, dass sie ständig mit ihrem Bundestagsdasein verbunden werden: "In dem Moment, wo Sie sagen, dass Sie Abgeordnete waren, haben Sie die ganze Vorurteilslandschaft, die in den Köpfen der Menschen existiert, am Hals." Dass man mutig ist und sich mit Leuten anlegt, werde im Berufleben nicht gewünscht. Die Studie von Maria Kreiner zeigt, dass die politische Karriere für einen Wiedereinstieg in das Berufsleben auch hinderlich sein kann. Die Untersuchung räumt mit vielen Vorurteilen auf, resümiert Kreiner. "Man sieht immer nur diejenigen, die ordentlich kassieren. Aber das Heer derjenigen, die auf die Nase fallen, sieht man nicht", fasst es ein Interviewpartner zusammen.