Ein paar Seiten aus seinen Lebenserinnerungen hat Gerhard Schröder den tausend Zuhörern im Theater am Aegi in Hannover vorgelesen, es ist alles gut gegangen, er lehnt sich entspannt zurück. Jetzt soll er noch einige Fragen des ortsansässigen Soziologen Oskar Negt beantworten, eine leichte Übung für den Altbundeskanzler, schließlich kennt man sich seit langem. Man plaudert ein wenig, wendet die Frage hin und her, ob der Politiker Schröder etwas bewirkt habe in seiner Amtszeit. Der Kanzler a. D. weiß auf alles eine Antwort, nur einmal stutzt er und passt, als Negt von Schröder wissen will, ob es ihm gelungen sei, im politischen Geschäft "die Ethik zu schärfen".
Was ist das auch für eine Frage? Woher die Parlamentarier ihre ethischen Grundlagen beziehen, ob sie überhaupt welche haben und wie sie damit umgehen, kommt nicht vor im politischen Alltag. Politiker lassen sich gerne ansprechen auf ihre geistigen Fundamente, sie erfinden auch gerne Bilder wie "die Politik braucht moralische Leitplanken", aber zuletzt gestehen sie dann häufig, dass Politik und Ethik nur bei Bedarf miteinander verknüpft werden. Politik, das Bild vermitteln die Medien, ist die Abwägung von Interessen und wer am meisten Interessen hinter sich versammelt, setzt sich durch. Politik, das bedeutet im äußersten Fall Erpressung und Gegenerpressung, und wer am stärksten drückt, gewinnt. Politik heißt, die Machtfrage im Auge zu behalten, wer das nicht tut, verliert.
Dabei verwundert es schon ein wenig, wie Schröder fremdelt beim Thema Ethik. Während seiner ersten Amtsperiode hat er den "Nationalen Ethikrat" ersonnen, nach eigenem Verständnis ein "unabhängiger Sachverständigenrat". Die Einrichtung passte stilistisch gut zu Schröders Politik der Runden Tische. Nicht alle Abgeordneten haben die Gründung des Ethikrates gern gesehen, nicht wenige haben sogar dagegen rebelliert. Das Gremium, das ausschließlich externen Sachverstand versammelte, konnte nicht zuletzt als Konkurrenz zu bestehenden Enquete-Kommissionen aufgefasst werden.
Gleichwohl macht die Auseinandersetzung um den "Nationalen Ethikrat", der jetzt durch den "Deutschen Ethikrat" ersetzt wird, anschaulich, wie das Thema in der Politik verstanden wird. Die Ethik wird nicht im klassischen Sinne als philosophische Reflexion über Moral - in diesem Fall Moral in der Politik - verstanden, sondern als Politikberatung auf hohem Niveau. Wie hatte Schröder seinerzeit die Gründung des Ethikrates verteidigt: "...damit wir uns in der Bio- und Gentechnik nicht vom Fortschritt in der internationalen Forschung abkoppeln"? Das trifft es auf den Punkt: Die Verbindung von Ethik und Politik wird sozusagen bedarfsabhängig gesehen. Haushaltspolitik und Ethik? Ach, nicht notwendig. Genforschung und Ethik? Passt.
Lässt man sich auf diese Art der "Praktischen Nutzanwendung von Ethik" in der Politik ein, dann erhellt sich das Bild schlagartig. Sobald das persönliche Gewissen des einzelnen Abgeordneten als letzte Entscheidungsinstanz gefordert ist, zählt nicht allein die politische Verantwortung. Nein, auf einmal hält auch das Nachdenken über politische Verantwortung Einzug in die Parlamente. Der Volksmund hat eine einprägsame Metapher gefunden für eine solch glückliche Fügung, man spricht gemeinhin von "Sternstunden des Parlaments". Fragt man altgediente politische Beobachter, wann nach ihrer Erinnerung im Deutschen Bundestag ernsthaft und ausdauernd um die ethisch beste Lösung einer Menschheitsfrage gerungen wurde, erhält man für jedes Jahrzehnt ein Beispiel.
Das klingt dürftig, doch die Erinnerungen der Parlamentsberichterstatter aus Bonner und Berliner Jahren sind vermutlich unvollständig. Die am häufigsten genannten Beispiele sind freilich derart typisch für das -nicht bloß zufällige - Zusammentreffen von Ethik und Politik, dass ihre Aufzählung auch unvollständig von Nutzen ist.
Die frühesten Erinnerungen reichen zurück in die frühen 1950er-Jahre, zur Debatte um die Wiederbewaffnung der jungen Bundesrepublik Deutschland. Der Einfluss von Lobbyismus oder parteipolitische Vorprägung lassen sich zwar als Entscheidungskriterien für oder gegen die Neugründung einer Armee nicht ausschließen. Die über einen längeren Zeitraum geführte Debatte ließ aber keinen Zweifel daran, dass vor allem der Widerstreit zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik ausgetragen werden musste. Der Schwur der Gründungsväter der Republik, dass "von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen darf", musste abgewogen werden gegen die Verteidigung der demokratischen Werte.
Deutlicher noch wurde das Ringen um die ethischen Grundlagen einer politischen Entscheidung wenige Jahre später, als im zeitlichen Zusammenhang mit den Frankfurter Auschwitzprozessen über die Verjährung von Mord gerungen wurde. Unter dem Begriff Verjährungsdebatte ist die Aussprache im Deutschen Bundestag vom 10. März 1965 bekannt geworden, in deren Folge die bevorstehende Verjährung von ungesühnten Morden nationalsozialistischer Täter verhindert wurde. Es war unbestritten eine "Sternstunde des Parlaments", auch weil ein weiterer Schritt der Vergangenheitsbewältigung getan wurde. Den Abgeordneten wurde klar, dass sie juristischen, philosophischen, ja moraltheologischen Rat einholen konnten - was auch damals schon ausgiebig geschehen ist -, dass sie die Entscheidung selbst aber niemals verlagern konnten auf ein Stellvertretergremium, auf so etwas wie einen externen "Weisenrat".
Immer wieder von neuem hat der Umgang mit der Schwangerenberatung und der Abtreibung das Parlament gezwungen, sich auf letzte Gewissensfragen einzulassen. Das Bundesverfassungsgericht und zuletzt noch einmal die unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen in den neuen und den alten Bundesländern haben die Abgeordneten immer aufs Neue gezwungen, sich mit dem Beginn des Lebens auseinander zu setzen. Unabhängig von ihren religiösen oder humanistische Einstellungen haben die Abgeordneten demonstriert, was es heißt, Entscheidungen über existenzielle Fragen beraten und entscheiden zu müssen.
Dieselbe Erfahrung haben Beobachter zuletzt bei den Beratungen über das Transplantationsgesetz machen können. Zur gesetzlichen Regelung der Zulässigkeit der postmortalen Organspende musste zum einen dem über den Tod hinaus fortwirkenden Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen Rechnung getragen werden. Zum anderen musste die weitaus überwiegende Zahl der Fälle, in denen der Verstorbene zu Lebzeiten - aus welchen Gründen auch immer - keine Erklärung zur Organspende abgegeben hatte, Berücksichtigung finden. Es war eine aufwühlende Debatte im Bonner Parlament im Juni 1997, bei der Zeitzeugen den Eindruck gewinnen konnten, dass sich bei nicht wenigen Abgeordneten erst im Austausch der Argumente die eigene Entscheidung herausbildete. Debattenkultur in ihrer Urform.
Der politische Alltag, das wissen dieselben Beobachter, ist ein anderer. Was hat Schröder am Ende geantwortet auf die Frage seines Freundes Negt, ob er der Ethik in der Politik Geltung verschafft habe? "Weiß ich nicht", meint Schröder und zuckt mit den Schultern. Eigentlich sei dies nie sein Ziel gewesen.