Kai Hattendorf ist 36 Jahre jung, groß und schlaksig und trägt einen dunkelblauen Anzug. Er spricht vor den Angestellten einer Krankenversicherung. Der PR-Profi erzählt von Verantwortung, "weil ich Familie habe". Von Ehrlichkeit - "Mein Opa hat immer gesagt: Ehrlich währt am längsten." Vom Respekt gegenüber jedermann. Kai Hattendorf zählt sich zum Kreis der jungen Fach- und Führungskräfte der deutschen Wirtschaft, er arbeitet bei der Deutschen Telekom. Und er ist Vorstandsmitglied der "Wertekommission", die sich für neue und alte Tugenden stark macht. Für ihn passt das zusammen.
Kommissionen gibt es viele in Deutschland. Ihnen haftet der Ruch an, dass dort unangenehme oder überflüssige Themen entsorgt werden. Die "Wertekommission" ist allerdings keine Einrichtung politischer Gremien, kirchlicher Akademien oder von Wirtschaftsverbänden. Sie ist eine freie Gründung, die "die Altersgruppe der 25- bis 45-jährigen Fach- und Führungskräfte in Deutschland zum Thema Werte vernetzt", wie er sagt. Der eingetragene Verein mit dem offiziös klingenden Namen nennt sich auch "Initiative Werte Bewusste Führung". Seit bald zwei Jahren agiert er bei Foren, Vorträgen, durch Buchveröffentlichungen. Was treibt junge Leute aus dem Management dazu, sich in ihrer Freizeit um Werte zu kümmern?
"Ein zentraler Erfolgsfaktor für die Zukunft" seien die Werte, hatten die Versicherungsangestellten zuvor gehört, bei ihrer Tagung über Werte im Alltag. Nein, das sei "kein Modethema", es sei latent immer schon dagewesen, erklärt Dr. Gertrud Demmler vom Vorstand der Versicherung. Es ist die "Siemens Betriebskrankenkasse", kurz SBK. Krankenversicherungen bräuchten auf dem freien Markt nichts mehr als Referenzen, Empfehlungen, gute Erfahrungen mit den direkten Ansprechpartnern. Wer täglich hundert Entscheidungen am Telefon treffen müsse, brauche "Leitplanken" für seine Arbeit.
Der Erfolgsfaktor "Werte" wird auch von den Mitgliedern der "Wertekommission" herausgestellt. "Wir sind davon überzeugt, dass Werte und Wertschöpfung zwei Seiten einer Medaille sind", erklärt Hattendorf vor seinen Zuhörerinnen und Zuhörern. Gut leben im Sinne von wertvoll leben lohne sich auch ökonomisch. Moral und Mammon schließen sich nicht aus, so das Credo des Vereins.
"Utilitarismus" nennt sich das, wenn Ethik vorwiegend ihres praktischen Nutzens wegen hochgehalten wird. Das größte Glück der größten Zahl ist das Leitmotiv, moderne Sozialpolitik argumentiert so. Hattendorf ist allerdings nicht über den reinen Nützlichkeitsgedanken auf die Werte gekommen. "Unsere Generation der Leute Mitte Dreißig stellt sich die Frage nach dem Sinn, wie jede Generation vor uns", bekennt er vor seinem Publikum. Jede Epoche hat ihre Herausforderungen und entwickelt entsprechende Werte. Das war für die Nachkriegsgeneration so, das war bei den Achtundsechzigern so, das hat die Friedensbewegung geprägt oder die Generation Wiedervereinigung. Für die Gründer der "Wertekommission" war dann die Erfahrung mit der New Economy um die Jahrtausendwende prägend. Was bisher galt, schien plötzlich überflüssig, das Internet, in Verbindung mit der Börse, versprach Geld ohne Arbeit und ohne Anstrengung und damit die Lösung aller Probleme. Bis die Blase platzte.
"Anything goes" lautete der Schlachtruf der New Economy, nach dem alles ging, wenn man sich nur auf die neue Zeit einließ. Am Ende ging vieles nicht mehr. Cabrios mussten verkauft werden, weil Banken geliehenes Geld zurückhaben wollten. Eltern, Freunde, Freundinnen, Ehepartner, Kinder wurden wieder wichtig, weil man feststellen musste, dass man zwar per Handy jederzeit telefonieren, aber nie mit Handys selber reden kann. Vertrauen, Arbeit, selbst so Old-Economy-Behaftetes wie Produktion kehrten als Werte in die Köpfe der kurzzeitig Verführten zurück. Und damit die Sinnfrage. Wozu tue ich mir das alles an? Wieviel setze ich ein? Was bekomme ich dafür? "Du musst spanische Telefonaktien kaufen" war plötzlich nicht mehr die richtige, die auf Dauer befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Fanden jedenfalls die Initiatoren der "Wertekommission". Kai Hattendorf war einer von ihnen. Sven Korndörffer, Bankdirektor der Norddeutschen Landesbank, gehört dazu, heute als Vorstandsvorsitzender des Vereins. Roland-Berger-Chef Burkhard Schwenker sitzt ebenso im Kuratorium wie Thomas Gauly als Generalbevollmächtigter von Altana. Audi-Chef Rupert Stadler sitzt im Ratgeberkreis, zusammen mit Wolfgang Picken, Pfarrer des Bonner Rheinviertels und Vorsitzender der dortigen Bürgerstiftung Rheinviertel. Was sie eint: "Das Ziel, dem Thema Werte in der Wirtschaft, in der Politik, in der Gesellschaft, einen höheren Stellenwert zu verschaffen, um damit einen positiven Stimmungswandel in Deutschland zu erreichen."
Von den hehren Zielen zu den Niederungen des Tagesgeschäfts. Kai Hattendorf konfrontiert die gelernten Sozialversicherungsfachangestellten mit einem konkreten Fall: Ein Mann mit Querschnittslähmung stellt bei seiner Teilnahme an den Paralympics fest, dass es weit bessere Rollstühle gibt als jenen, den er besitzt. Einen "Reiseduschrollstuhl", der ihn mobiler machen, ihm das Leben erleichtern würde. Der kostet allerdings das Vierfache des normalen Modells. Hattendorf: "Der Mann ruft bei Ihnen an und fragt, ob Sie ihm die Kosten für das bessere Modell erstatten. Was sagen Sie ihm?"
Die Antworten kommen verhalten. Immerhin, der Vorstand schaut zu. Soll man Kundenfreundlichkeit zeigen oder eher Sparsamkeit? Ein Herz für Menschen oder den kühlen Blick auf die Bilanzen? Korrekt wäre, das Anliegen abzulehnen. Schön für den gelähmten Sportler wäre, ihm das Gefährt zu bezahlen. In der Diskussion finden die Mitarbeiter eine Lösung: Nachverhandeln, das Anliegen ernstnehmen, weitere Geldquellen suchen, dem Antragsteller zu seinem Rollstuhl verhelfen, ohne alles selber zu bezahlen. "Jeder Fall ist anders", betont Hattendorf anschließend. Es gilt zu lernen: Entscheidungen stur nach Paragrafen sind unangemessen. Ökonomie als Kriterium genügt nicht. "Ihre Werte sind gefragt."
Woher nimmt die Post-New-Economy-Generation die erforderlichen Werte? Von dort, woher Werte immer schon ihren Ausgang nahmen: aus Familie, Schule, Religion, Kultur. Hattendorf spricht von den sieben Kardinaltugenden: Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit, Klugheit, Glaube, Liebe und Hoffnung. Er spricht von den sieben Todsünden, von Eitelkeit, Trägheit, Wollust, Maßlosigkeit, Zorn, Geiz und Neid. Solche Sammlungen sind für ihn Beispiele aus der Geschichte. Beispiele, die er für erwähnenswert und hilfreich hält.
Heute lauten Wertekanons anders. Die "Wertekommission" nennt Nachhaltigkeit, Integrität, Vertrauen, Respekt, Mut und Verantwortung als ihre Favoriten. Bei Hattendorfs Diskussion mit den Angestellten der Krankenversicherung geht es um Respekt, Verantwortung, Ehrlichkeit und Leistungsbereitschaft. Gemeinsam ist allen Katalogen: Es handelt sich um Sammlungen allgemeiner Handlungsorientierungen.
Vor seinen Zuhörerinnen und Zuhörern verknüpft Hattendorf solche Ideale mit dem alten Tugendkatalog und fragt nach dem rechten Maß dieser Werte. Respekt wird zwischen Unterwürfigkeit und Respektlosigkeit verortet, Verantwortung zwischen "schleifen lassen" und "nicht loslassen können", Ehrlichkeit zwischen Verschlagenheit und Taktlosigkeit, Offenheit zwischen Geschwätzigkeit und Sturheit, Leistungsbereitschaft zwischen dem Workaholic und dem Kollegen, der nur eine ruhige Kugel schiebt. Den Mitarbeitern geht im Gespräch auf: Es kann von allem, auch vom Guten, ein Zuviel geben.
Welche Werte leben Sie? Aktuell befragt die "Wertekommission" Führungskräfte in der Wirtschaft über die persönlichen Maßstäbe ihres Handelns. Hattendorf konkretisiert: "Wir wollen wissen, welche individuellen Wertvorstellungen den einzelnen leiten. Außerdem interessiert uns, welche Unternehmenswerte hochgehalten werden. Und dann würden wir gerne erfahren, wie individuelle und allgemeine Werte zusammengeführt werden können." Vereinsvorstand Sven Korndörffer will durch die Befragung "eine Versachlichung der Diskussion über den Stellenwert und die wirtschaftlichen Effekte einer an Werten orientierten Unternehmens- und Führungskultur erreichen". Es geht um etwas, was die Mitglieder der "Wertekommission" gerne für sich erreichen würden: "erfolgreich sein und Mensch bleiben". Ob dies geht, und ob dies immer geht, das wird auch die Generation "Werte-sind-wieder-in" erst erfahren, wenn sie - wie heute die Nachkriegsgeneration oder die Altachtundsechziger - in 30 Jahren auf ihr Leben zurückblickt.