Unsere Gesellschaft ist längst nicht so verkommen wie sie von manchen hingestellt wird. Immerhin gilt Deutschland als Spendenweltmeister. "Geld für einen guten Zweck" lässt sich auftreiben. Ob per Sammelbüchse oder per Wohlfahrtslotterie. Die "Aktion Sorgenkind" war stets dabei. Bis den Verantwortlichen bewusst wurde, dass "Geld für die armen Behinderten" nur kurzfristig das Gewissen beruhigen kann.
Heute fragt keine "Aktion Sorgenkind" mehr nach Ihrer Spende für die Benachteiligten. Heute fragt "Aktion Mensch": "In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?" Nicht mehr und nicht weniger. Auf Plakatwänden in der ganzen Republik, in Kino- und Fernseh-Spots, in Zeitungs- und Magazinanzeigen stellen die Initiatoren der bisher größten Kampagne der Sozialorganisation immer dieselbe Frage, nämlich nach dem Selbstverständnis der Menschen und ihrem Traum von Gesellschaft.
Keine kleine, und erst recht keine einfache Aufgabe. Denn die Frage erinnert nicht gerade an einen Slogan, "der sich schnell und werbewirksam einprägt", wie die Kampagnen-Macher selbstkritisch feststellen. "In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?" - für Kommunikationsstrategen, normalerweise zuständig für die Organisation der üblichen Polit-Shows mit den Zwei-bis-Drei-Wort-Botschaften (Von "Mehr Bildung!" über "Kinder statt Inder" bis "Du bist Deutschland"), ist das eine Katastrophe. Doch die etwas sperrige Formulierung scheint einen Nerv getroffen zu haben. Rund 700.000 Menschen haben seit Beginn der Kampagne im März 2006 die Homepage www.dieGesellschaft.de besucht, ungefähr 70.000 haben sich an der Diskussion beteiligt. Wie wir leben wollen, interessiert die Leute.
Dabei soll es nicht beim bloßen Meinungsaustausch bleiben. Die Homepage dient nicht nur als Wunschzettel für das, was "die anderen" oder "die Gesellschaft" tun soll, sondern die Diskussionen sollen im gesellschaftlichen Engagement münden, sprich im eigenen. 10 Millionen Euro ihrer jährlichen Lotterie-Umsätze von 400 Millionen Euro stellt die Aktion für "Projekte für eine gerechtere Gesellschaft" in diesem Jahr zur Verfügung. Dabei werden unter dem Motto: "Gesellschafter werden!" Initiativen unterstützt wie eine Beratungsstelle für Jugendliche in der Schuldenfalle, ein Gesundheitsprogramm in einer Obdachlosensiedlung oder Hilfen für jugendliche Straftäter.
Die Gesellschafter-Kampagne ist nur der vorläufige Höhepunkt einer Serie von Kampagnen, die die Sozialorganisation in den letzten Jahren angeschoben hat. In der Bioethik-Kampagne "1.000 Fragen" hatten sich bereits über 40.000 Nutzer mit Themen wie Sterbehilfe, vorgeburtliche Diagnostik, Spätabtreibung, Gentests oder Organtransplantation beschäftigt. Bei der Ausstellung und Kampagne zum "Im-perfekten Menschen" ging es um das "Recht auf Unvollkommenheit" für "Menschen mit und ohne Behinderung". Bevor sich die Aktion den großen Fragen in Politik und Gesellschaft zuwandte, hatte sie zunächst einmal vor der eigenen Tür gekehrt. So verabschiedete sich die 1964 nach dem Contergan-Skandal gegründete "Behindertenorganisation" nach zähem internen Ringen vom herablassenden Bild des "Sorgenkindes", das Menschen mit Behinderungen auf ihr Handicap reduzierte und es gleichzeitig zu unmündigen Almosenempfängern stempelte.
Im Jahr 2000 entschloss sie sich zur Namensänderung, aus der "Aktion Sorgenkind" wurde die "Aktion Mensch". Damit setzte sie auch nach außen hin ein Signal für den Umbau, der schon längst im Gange war. Wenn sich die Aktion heute in die gesellschaftliche Diskussion einschaltet, dann geht es auch um Armut, Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung von Menschen in den Randzonen der Republik. Aus der Spendensammelstelle für behinderte Kinder ist ein Sozialkonzern mit bewusstseinsbildendem Anspruch geworden.
Dabei setzt die Aktion immer auch auf große Gefühle. Ihr Anspruch: Wer bei ihr mitmacht, soll zu einer Gemeinschaft gehören. Wer "Gesellschafter" wird, braucht sich nicht mehr auf die Rolle des Steuerzahlers, Wählers oder Konsumenten reduziert zu fühlen. Bei der Aktion Mensch ist der Lottospieler nicht "Kunde, sondern auch Mitstreiter und Unterstützer für gesellschaftliches Engagement", so der Begleittext zur Lotterie-Sparte.
Die Aktion will den Blick fürs Ganze eröffnen und gleichzeitig den Einzelnen aufwerten. Aktion Mensch trifft dabei auf ein Bedürfnis, das ihr Aufmerksamkeit für Themen beschert, die andere Kampagnen-Macher eher scheuen. Hinzu kommt, dass viele Menschen von den griffigen Slogans aus den PR-Häusern, die Politik, Wirtschaft und Verbände alle mit ähnlichen "Botschaften" bedienen, die Nase voll haben. Nicht nur, weil sie so glatt klingen, sondern weil sie den Absendern nicht mehr trauen. Die viel beklagte Politikverdrossenheit bezieht sich ja eher auf ihre Repräsentanten als auf die Inhalte. Warum mit Leuten diskutieren, die man nicht mehr für glaubwürdig hält?
Auch all die "Initiativen" und "Stiftungen", die sich neuerdings verstärkt mit gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigen, gehören nicht nur zu den Unverdächtigen. So sind die Anzeigen der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" unschwer als Stimmungsmache für eine neoliberale Wirtschaftspolitik zu erkennen - auch wenn sich die Initiatoren, der Arbeitgeberverband der Metall- und Elektroindustrie, vornehm zurückhalten und in den Anzeigen namentlich nicht auftauchen. Und die angeblich von Hause aus für Moral und Ethik Zuständigen, die Kirchen? Sie stehen in den Augen vieler für ebenso lebensferne wie absehbare Aussagen. Und vor allem: Diese Aussagen werden von oben herab nach unten "kommuniziert".
Die Aktion Mensch scheint zu den ganz wenigen Instanzen in Deutschland zu gehören, die die Menschen nach ihrer Meinung fragt, ohne diese direkt wieder für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Der demokratische Diskurs für alle - auch dank des Internets, das die Diskussion innerhalb der landesweiten Community erst möglich macht.
Allerdings birgt der herrschaftsfreie Meinungsaustausch auch Risiken - ein Grund, weshalb so viele ihn scheuen. Denn es können durchaus auch "unerwünschte" Ansichten geäußert werden. Etwas, was auch die Aktion Mensch erleben musste. Ausländerfeindliches, auch viel Frauenfeindliches gab es mittlerweile im Gesellschafter-Chat zu lesen. Der freie Diskurs führt nicht automatisch zu ethisch wertvollen Aussagen. Moderatoren löschen nun, so der Warnhinweis auf der Homepage, "Beiträge mit diskriminierendem, rassistischem oder fremdenfeindlichen Hintergrund unverzüglich". Hehre Ideale - wie der freie Austausch über unsere Vorstellungen von einer guten Welt - sind das eine. Anerkennung der Realitäten das andere. Zu diesen Realitäten gehört, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind. Nicht alle wollen mitdiskutieren über die künftige Gesellschaft.
Ihre Spenden nimmt man trotzdem. Nach dem Motto "Helfen und gewinnen" der "größten Soziallotterie Deutschlands" (Eigenwerbung) können Menschen beim Loskauf immer noch das schöne Gefühl pflegen, Gutes zu tun, und gleichzeitig vom großen Geld träumen. Wer nicht gewinnt, dem bleibt immerhin der Trost, dass wenigstens andere etwas davon haben. So nehmen auch die ewigen Verlierer der Aktion Mensch nichts übel. Wem das als heimlicher Tribut ans eigene schlechte Gewissen aufstößt, den mag der Gedanke milde stimmen: Nur wer ein Gewissen hat, will es beruhigen.
Die Autorin ist freie Journalistin in Köln.