Katharina Jäckel (Name von der Redaktion geändert) liegt auf der Intensivstation. Die Augen hat sie geschlossen. Ruhig und gleichmäßig senkt sich ihr Brustkorb. Sie wird künstlich beatmet. Am Kopfende ihres Bettes steht ein großer Turm, in dem sich eine Fülle von Gerätschaften drängen, deren Kabel zu Katharina Jäckel führen. Es piepst. Grüne und gelbe Bänder ziehen sich auf den Monitoren dahin.
An der Mitte des Bettes steht ein Intensivpfleger. Zusammen mit seiner Kollegin auf der anderen Seite wäscht er die alte Frau und spricht dabei leise mit ihr: "Frau Jäckel, ich nehme jetzt ihre Hand hoch, damit ich besser an ihren Bauch komme...". Frau Jäckel liegt seit zwei Wochen auf der Intensivstation. Nach einem schweren Schlaganfall wurde sie in das kleine Kreiskrankenhaus gebracht. Ihr Lebensgefährte ist verzweifelt. Nicht weil es seiner Freundin schlecht geht, sondern weil er das Gefühl hat, dass sie so nicht leben möchte.
Kein Jahr ist es her, da haben sie beide eine Patientenverfügung unterschrieben und sich gegenseitig Vorsorgevollmachten erteilt. Sie haben sich die Formulare auf Anraten einer Bekannten nicht aus dem Papierwarenladen geholt, sondern bei der Bayerischen Staatsregierung bestellt - und dann haben sie feinsäuberlich Frage für Frage beantwortet, haben Kästchen für Kästchen ausgefüllt. "Wofür, wenn sich die Ärzte doch nicht dran halten?" fragt sich der Lebensgefährte.
Er hat jetzt einen Anwalt eingeschaltet und will einen Prozess gegen das Krankenhaus führen, nicht weil er streitsüchtig wäre, sondern weil er es richtig machen will, weil er das Gefühl hat, so die Wünsche seiner Freundin am besten zu erfüllen, auch wenn sie dann stirbt. Die Ärzte wollen mit dem Anwalt nicht reden. Sie haben das Gefühl, dass ihnen etwas aufgezwungen wird. "Das Beatmungsgerät können wir nicht einfach abschalten, die Patientin würde grausam ersticken - und strafbar ist es dazu", stellt der Oberarzt fest. Dass die Gerichte das anders sehen, dass sie das Abschalten eines Beatmungsgeräts nicht als "aktive Tötung" bewerten, sondern als "passives Sterbenlassen" interessiert ihn wenig: "Wir können uns unsere ethischen Grundsätze nicht von Juristen entwerten lassen, die nicht wissen, wie es ist, am Krankenbett zu stehen, und den Tod eines Menschen gezielt herbeizuführen."
Den Tod von Alfred Heinz will niemand herbeiführen. Aber wie soll er seine letzten Lebenswochen verbringen? Wie viel Pflege kann er beanspruchen, wieviel Euro darf es kosten, einen Menschen würdig zu Ende leben zu lassen. Der ehemalige Vertreter liegt im Bett und kann nur ein Augenlid bewegen und schwach einen Finger der rechten Hand. Alfred Heinz wird künstlich beamtet. Kurz nachdem bei ihm Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert worden ist, eine tückische, zum sicheren Tod führende Krankheit, ist er ins Heim gezogen, weil er befürchtete, dass er zu Hause nicht ausreichend gepflegt werden könnte.
Er braucht 24 Stunden am Tag jemanden, der bei ihm sitzt und aufpasst, dass das Beatmungsgerät nicht aussetzt. Er braucht auch jemanden, der mit ihm redet oder der ihm vorliest. Alles dauert bei Alfred Heinz sehr lange, weil er sich nur mit einem komplizierten, langwierigen Wimpern-Alphabet verständigen kann. Diese Zeit hat im Heim aber kaum jemand. Der Personalschlüssel ist schlecht, andere Bewohner brauchen auch jemanden, der nach ihnen sieht. Drei Erstick-ungsanfälle hat Alfred Heinz bereits hinter sich.
Jetzt kämpft er darum, nach draußen zu kommen, in eine eigene Wohnung mit einem ambulanten Pflegedienst, der sich auf seine Bedürfnisse einstellt. Zu teuer, sagt das Sozialamt. Und das Leben im Heim soll dem sterbenskranken Mann zumutbar sein, er ist ja schließlich freiwillig dort eingezogen. Ein Recht auf Irrtum? Das will das Sozialamt nicht gelten lassen. Es muss die kargen Steuergroschen sorgsam verwalten. Der Mann könne ja ins Hospiz gehen, steht in einem Schriftsatz fürs Gericht, vor dem Alfred Heinz jetzt klagt, da gebe es auch Selbstbestimmung und es sei billiger als ambulante Pflege rund um die Uhr.
Aber ins Hospiz geht, wer bald stirbt - und Alfred Heinz will ja noch leben. So lange wie möglich. Er will sich wiederbeleben lassen. Er will nötigenfalls den Notarzt rufen. Das passt nicht zum Hospiz. Wer dorthin geht, will gerade keine intensivmedizinischen Interventionen mehr, wer hier lebt, rechnet damit, bald zu sterben und ist dazu bereit. Dass Alfred Heinz weiterleben will, dass er kämpft, medizinische Behandlungen will, dass er so abhängig von anderen ist und dennoch den Tod nicht als Erlösung ansieht, verstehen viele nicht. Alfred Heinz' Fall ist keiner, der in den Medien viel diskutiert wird, er lebt nicht als Beispiel dafür, dass es Menschen gibt, die ihr Selbstbestimmungsrecht durch den Abbruch lebenserhaltender Behandlungen wahren wollen.
Alfred Heinz will selbstbestimmt weiter leben, er will wieder ein Zuhause haben, in dem er sich ambulant versorgen lassen kann - diese Kosten wollen Sozialamt und Krankenkasse aber nicht tragen. "Das Selbstbestimmungsrecht im Rahmen von Patientenverfügungen ist ein Abwehrrecht", heißt es auf dem Deutschen Juristentag, der sich mit dem Thema "Gesetzliche Regelung der Sterbehilfe" befasst. Nur der "Status negativus" soll nach Auffassung vieler Juristen geschützt werden. "Warum?" fragen Menschen, die sich seit Jahren mit Sterbehilfe befassen und die die Probleme weniger bei der Überversorgung von Patienten sehen, deren Sterbeprozess gegen ihren Willen verlängert würde, als in der unzureichenden medizinischen und pflegerischen Versorgung schwerstkranker Menschen und ihrer Angehöriger: "Wenn ich mich nicht für eine gute Pflege durch qualifizierte Pfleger zu Hause entscheiden kann, ist der schnelle Tod durch Abbruch der lebenserhaltenden Behandlung im Krankenhaus vielleicht die bessere Alternative, aber mit Selbstbestimmung hat das wenig zu tun."
Alfred Heinz, Katharina Jäckel und ihre Angehörigen haben sich an der Debatte um Sterbehilfe und Sterbebegleitung in den Jahren vor ihren lebensbedrohlichen Erkrankungen nicht beteiligt. Das bisschen Vorsorge, das sie für ihr eigenes Leben mit Patientenverfügungen und Vorsorgevollmachten getroffen haben, reicht jetzt kaum weiter. Der Anwalt, den Katharina Jäckels Lebensgefährte beauftragt hat, verhandelt mit den Klinikärzten zwar auf Basis der vier mit vielen Kreuzen versehenen Seiten, er weiß aber, dass gerade der Fall, der eingetreten ist, nicht von der Patientenverfügung abgedeckt ist. Das liegt wohl nicht daran, kommen der Arzt und der Anwalt schließlich überein, dass Frau Jäckel diesen Zustand nicht regeln wollte - sie hatte wohl eher keine genaue Vorstellung, was passieren könnte.
Jetzt werden am Krankenbett ethische Konzepte debattiert, das Behandlungsteam formuliert, was in ihren Augen dem ethischen Prinzip des "nicht Schadens" entspricht, Angehörige und Anwalt versuchen das mutmaßlich als Selbstbestimmung Gewollte zu buchstabieren. Es ist ein Konflikt, aber die beiden Seiten sind keine Kontrahenten. Die Vorstellungen sind gegensätzlich, aber nach einer Runde intensiver Gespräche nicht feindlich gegeneinander.
Das Abwägen, das Menschen sonst oft in sich austragen, die Zögerlichkeit und Unentschlossenheit, die eigene Entscheidungen eines einzelnen Menschen oft prägt, stellt sich nun im Dialog zwischen unterschiedlichen Personen her, die mit der Patientin zu tun haben. Die Sauerstoffsättigung der künstlichen Beatmung wird reduziert, eine Infektion wird nicht mehr bekämpft. Wiederbelebungsversuche sollen im Falle eines Falles unterbleiben. Als die Patientin gegen alle Prognosen aufwacht, sehen alle Beteiligten ihre Position in Frage gestellt.
In der gleichen Nacht stirbt die alte Frau. Und ihr Lebensgefährte weiß nicht, ob er sich freuen soll, weil nun der Zustand, den seine Freundin wohl nicht wollte, endlich beendet ist, oder ob er verzweifeln muss, weil seine Lebensbegleiterin nicht mehr ist. Die Debatte über Sterbehilfe und neue Gesetze, über Beschlüsse des Juristentages und Empfehlungen ethischer Akademien verfolgt er in den nächsten Wochen genauer. Aber was er gut finden soll, was die richtige Lösung ist, weiß er nicht. Und noch etwas fehlt ihm nun: Ein Mensch, den er als Vorsorgebevollmächtigten beauftragen kann, eine Person, die, wenn es hart auf hart kommt, seine Patientenverfügung durchsetzen könnte. Das ist kein ethisches Problem - aber eines, das die schönsten ethischen Konzepte an ihre Grenzen führt.
Der Autor ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt auf Medizin- und Behindertenrecht. Er lebt in Hamburg, schreibt seit 20 Jahren über Euthanasie und hat 2006 das Buch "Keiner stirbt für sich allein - Sterbehilfe, Pflegenotstand und das Recht auf Selbstbestimmung" veröffentlicht.