Der irische Reporter Charles Stevens fühlte sich in Butte im amerikanischen Montana sofort wohl. Nicht nur rühmte sich die Minenstadt der angeblich längsten Bar der Welt. Überall in den Straßen wurde außerdem Stevens Muttersprache gesprochen. Jeder Vierte der 50.000 Einwohner stammte wie er von der grünen Insel. In den Kupferminen versuchten die Immigranten, ihren Traum vom Geld und Glück zu verwirklichen.
Das war vor 100 Jahren. Wie Stevens Enkel vor kurzem der "Irish Times" erzählte, wanderten Scharen von Iren damals in die Vereinigten Staaten oder Großbritannien aus. Heute erleben die Iren ein ähnliches Phänomen, allerdings in umgekehrter Richtung. Die Kinder und Kindeskinder der einstigen Emigranten kehren zurück. Zusätzlich strömen Nigerianer und Chinesen auf die Insel. Vor allem aber entdecken die Osteuropäer das einst als "Armenhaus Europas" bezeichnete Land. Irland öffnete mit Großbritannien und Schweden sofort den Arbeitsmarkt für die neu beigetretenen EU-Staaten. Welche Anziehungskraft dies haben würde, hat die Regierung unterschätzt. Gemessen daran, dass in ganz Irland grob gerechnet halb so viele Menschen wie in London leben, erlebt kein anderes EU-Land einen so starken Zustrom. 200.000 osteuropäische Arbeitskräfte kamen in zwei Jahren - zwanzigmal mehr als die Regierung erwartet hatte.
Vor allem Polen zieht es auf die Insel, die in ihrer Heimat vergeblich eine Arbeit suchen. So wie man einst in Butte an jeder Straßenecke Irisch sprach, hört man heute in der O'Connell Street in Dublin Polnisch. In Sandwich-Shops, Restaurants und auf Baustellen arbeiten Polen mit Litauern, Tschechen und Letten. Selbst in den meisten Pubs zapfen Osteuropäer das Guinness. "Irland ist heute vollkommen anders als noch vor wenigen Jahren. Es sind Menschen aus allen Ländern hier versammelt. Wenn man die Straßen in Dublin entlang läuft, findet man kaum noch einen Einheimischen", erzählt Izabela Chudzicka. Die Polin moderiert eine Informationssendung für ihre Landsleute auf Polnisch für den Dubliner Fernsehkanal City Channel. Außerdem sind bereits zwei polnische Zeitungen auf dem Markt, der Evening Herald bringt für die wachsende Leserschaft einmal in der Woche eine polnische Beilage heraus. Zuwanderung ist eine völlig neue Erfahrung für das kleine Land. Vor zehn Jahren war der Ausländeranteil an der Bevölkerung statistisch kaum messbar. Heute stammen Schätzungen nach acht Prozent der Erwerbspersonen und sechs Prozent der Bevölkerung aus dem Ausland.
Als Magnet wirkt das erstaunliche Wirtschaftswachstum. Aus dem einstigen Armenhaus Europas ist der "keltische Tiger" geworden. Bis 1993 wuchs die Wirtschaft im Schnitt um 2,4 Prozent im Jahr. In den zehn Jahren danach errechneten Statistiker ein durchschnittliches Wachstum von sieben Prozent. 1985 hatte fast ein Fünftel der Iren keine Arbeit. Heute herrscht Vollbeschäftigung mit einer Arbeitslosenquote von etwa vier Prozent. Irland hat einen der höchsten Lebensstandards in Europa.
Von Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts galt die Insel als klassisches Auswanderungsland. Zwei Millionen Menschen verließen infolge einer verheerenden Kartoffelpest 1847 das Land. Eine Million starben. Von diesem Aderlass hat sich Irland bis heute nicht erholt. Im 20. Jahrhundert trieb dann die schlechte wirtschaftliche Verfassung die Menschen außer Landes. Der bittere Spruch "Der letzte Ire macht das Licht aus" machte die Runde. Erst in den 90er-Jahren setzte - unterstützt von Reformen, niedrigen Zinsen und kräftigen EU-Beihilfen - ein rasanter Aufholprozess ein. Angelockt von niedrigen Unternehmenssteuern siedelten sich internationale Konzerne wie Intel, Microsoft, Ebay und Dell an. Erzielten die Iren je Kopf gerechnet im Jahr 1987 nur 69 Prozent der durchschnittlichen Wirtschaftsleistung in der EU, waren es 16 Jahre später 136 Prozent. Volkswirte rechnen damit, dass dieser Trend noch einige Jahre andauert und die Nachfrage nach Arbeitskräften weiter steigt.
Entsprechend willkommen sind die Immigranten. "Unsere Wirtschaft wäre am Ende, wenn die Hunderttausenden ausländischen Arbeiter das Land wieder verlassen würden", sagt der unabhängige Senatsabgeordnete Joe O'Toole. Zwar treibt auch die Iren die Sorge um, dass die ausländischen Arbeitskräfte die einheimischen vom Markt verdrängen könnten. Die Statistiken jedoch sprechen dagegen. Nach Angaben der irischen Zentralbank nahm die Erwerbsbevölkerung im vergangenen Jahr um 4,8 Prozent zu. In gleicher Weise stieg die Beschäftigtenzahl. Das bedeutet, dass nahezu jeder Neuankömmling einen Job fand. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Auch Anzeichen für Lohndumping fehlen. Die Löhne in Branchen wie dem Bausektor, in dem viele Einwanderer arbeiten, steigen. Ebenso hat sich die Warnung vor einem Sozialleistungstourismus als unbegründet erwiesen. Staatliche Unterstützung bewilligt die irische Regierung erst nach zwei Jahren. Die meisten Einwanderer, typischerweise Männer im Alter zwischen 18 und 34 Jahren, wollen aber ohnehin nur ein oder zwei Jahre bleiben. Viele Iren dürften sich außerdem noch gut an die eigene Vergangenheit erinnern. Der 34 Jahre alte Ukrainer Tomasz Wybranowski, der in diesem Jahr nach Dublin kam, erzählt von einer Unterhaltung mit einem irischen Kollegen. "Weißt Du Tom, ich mag Dich, weil ich Dich verstehe, sagte der Kollege. Vor 25 oder 30 Jahren gingen die Iren nach Kanada und England, um Jobs zu finden. Jetzt seid Ihr es. Ich sehe mich vor 25 Jahren in Dir."
Dennoch gibt es kritische Stimmen. Organisationen wie das Immigrant Council of Ireland, eine unabhängige Lobbygruppe, werfen der Regierung vor, zu wenig zu unternehmen, um die Einwanderer in die Gesellschaft zu integrieren. "Wenn das Wirtschaftswachstum nachlässt, wird sich das bitter bemerkbar machen", sagt die Sprecherin des Council, Aoife Collins. In einer Umfrage der "Irish Times" sagten knapp 70 Prozent der Befragten, dass genug oder zu viele Einwanderer aus Osteuropa auf der Insel leben. Die Regierung hat auf die Bedenken reagiert. Für Rumänen und Bulgaren werden die Grenzen nach dem Beitritt der Länder nicht mehr sofort so weit geöffnet wie für die ersten osteuropäischen EU-Staaten.
Doch auch wenn der Zustrom in den nächsten Jahren abflauen und die Iren ihre liberale Einwanderungspolitik ändern sollten, werden die Einwanderer ihre Spuren hinterlassen. In Butte stehen heute noch fast 100 Familien mit dem irischen Namen Sullivan im Telefonbuch. Die Minen sind zwar stillgelegt, und die längste Bar der Welt ist verschwunden. In den Pubs wird aber immer noch reichlich irisches Bier ausgeschenkt.
Claudia Bröll ist Korrespondentin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in London.