Kaum ein Holocaust-Experte bewältigt diese komplexe Aufgabe so einfühlsam, eindrucksvoll und exemplarisch wie Saul Friedländer, der nach den "Jahren der Verfolgung" nun die "Jahre der Vernichtung" in ihrer ganzen thematischen Breite und humanen Tiefe protokolliert hat.
Bereits für die Periode zwischen Hitlers Machtübernahme und dem Kriegsbeginn hat der in Tel Aviv und Los Angeles lehrende Professor die Täter, Opfer und Zuschauer neben- und nacheinander zu Wort kommen lassen. Friedländer arrangierte die unterschiedlichsten Quellen zu einem vielstimmigen Chor, der alle Tonlagen umfasste. Die demütigenden Hetzparolen der Nazis ebenso wie das furchtsame Flüstern der entrechteten Juden. Diesem Darstellungsprinzip ist er im zweiten abschließenden Band treu geblieben, um neben objektiven Fakten auch subjektive Zeitzeugen sprechen zu lassen. Was er mit seiner vielschichtigen Analyse am allerwenigsten beabsichtigt, ist eine "domestizierte Erinnerung" an die Shoah. Dem Diktum einer ausschließlich täterkonzentrierten Deutung, wie sie der mittlerweile verstorbene Zeithistoriker Martin Broszat vertrat, stellt er seine "integrative und integrierte Geschichte" entgegen, die die Rolle und das Leiden der Opfer mit einbezieht.
Gleichwohl gerät die dramaturgisch versierte wie faktisch fundierte Chronik nie in den Verdacht einer moralischen Anklage oder eines effektheischenden Gruselkabinetts. Ganz im Gegenteil. Die von ihm klug ausgewählten Tagebuchnotizen, Chroniken, Erinnerungen, Briefe, Reden, Gespräche, Protokolle von Nazis und Juden sind so reibungslos mit den abgesicherten Forschungsergebnissen verzahnt, dass sich objektive Tatsachen und die Erzählung individueller Einzelschicksale erkenntnisfördernd ergänzen. Friedländers erhellende Zusammenschau kehrt damit nicht nur das Ausmaß und den Schrecken, sondern auch den einmaligen Charakter dieses Völkermords hervor.
Das über 800-seitige Handbuch setzt sich nicht nur mit der Komposition und Kommentierung des Stoffs von den ähnlich verdienstvollen Arbeiten eines Raul Hilberg oder Peter Longerich ab. Es ragt durch die Vielfalt der Aspekte, die trennscharfe Analyse und das abgewogene, bisweilen auch ironisch gefällte Urteil über die bisherigen Werke hinaus. Dabei dient ihm die chronologische Dreiteilung in die Zeit des "Terrors" (Herbst 1939 bis Sommer 1941), des "Massenmords" (Sommer 1941 bis Sommer 1942) und der "Shoah" (Sommer 1942 bis Frühjahr 1945) als lose Klammer für die Strukturierung der Ereignisse und Erlebnisse, die er im Reich, den besetzten und befreundeten Staaten akribisch rekonstruiert. Vor dem Hintergrund des sich verschärfenden Vernichtungsfeldzuges lotet er die vorhandenen und vermeintlichen Handlungsspielräume von Tätern wie Opfern gleichermaßen aus.
Ob im besetzen Frankreich, Holland, Belgien, Polen oder in der Sowjetunion. In allen Bevölkerungsschichten und Institutionen deckt er einen latenten, aus den hartnäckigsten Vorurteilen und primitivsten Traditionen gespeisten Antisemitismus auf, der von verbalen Anfeindungen bis zur physischen Auslöschung reichte. Für Friedländer wiegt indes die unterlassene Hilfe-leistung der mächtigsten verbliebenen moralischen Bastionen am schwersten. Die katholische Kirche, verkörpert durch Papst Pius XII, begnügte sich meist mit humanitären Allerweltsformeln und sah dem tödlichen Treiben der Nazis in Osteuropa ebenso sprachlos zu wie die Alliierten, die aus Angst vor Spionage und Soziallasten vielen flüchtenden Juden die Einreise verweigerten. Auch die mangelnde Solidarität und aufkeimende Rivalität zwischen den Juden unterschiedlicher politischer oder nationaler Provenienz rücken in sein weites Blickfeld. Und doch diagnostiziert Friedländer nicht nur Feindschaft, sondern ebenfalls die Empathie unter den Zivilisten, Klerikern, Politiker und Soldaten, die ihre Zivilcourage nicht selten mit ihrem Leben oder ihrer Freiheit bezahlen mussten.
So entfaltet sich ein äußerst differenziertes, mitunter widersprüchliches Bild von den Aktionen und Absichten der Judenfeinde und -freunde. Konstant waren nach Friedländer nur die anfängliche Unberechenbarkeit und die spätere Kompromisslosigkeit der Nazi-Führung, die aus politischen und logistischen Gründen lange Zeit zwischen der Abschiebung nach Madagaskar oder Sibirien und der totalen Ausrottung schwankte. Das ist eine plausible Erklärung für die von ihm aus vielen jüdischen Tagebüchern zitierte Hoffen und Bangen, dass die Opfer mindestens ebenso marterte wie die Gewissheit, spätestens Ende 1942 in den sicheren Tod deportiert zu werden.
Was die in Viehwaggons gepferchten Juden in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern erwartete und wie die Tötungsmaschinerie genau funktionierte, erzählt Friedländer in einer Mischung aus kritischer Sachlichkeit und unkommentierten Opferberichten. In diesen Passagen zeigt sein Konzept von der "integrativen und integrierten Geschichte" die größte Wirkung. Da weder Bitterkeit, Zynismus noch Neutralität die Darstellung beherrschen, wird das Unbeschreibliche emotional und rational fassbar. Nur was "normale" Deutschen zu Massenmördern werden ließ, erklärt Friedländer eingleisig als Folge eines fanatischen und tiefverwurzelten Antisemitismus. Ein Griff zu Harald Welzers sozialpsychologischer "Täter"-Analyse von 2005 hätte genügt, und die tiefschürfende Studie wäre um eine zentrale Deutung reicher gewesen. Doch das schmälert die Gesamtleistung kaum.
Wie kein Historiker zuvor hat er den Prozess der Judenvernichtung auf allen sozialen Ebenen und in alle territorialen Winkel hinein ausgeleuchtet und anhand exemplarischer Schicksale die Vielschichtigkeit des Holocaust deutlich gemacht. Bei diesem enzyklopädischen Vorhaben wird er die Worte eines damaligen Zeitzeugen im Ohr gehabt haben: "Ich platze vor Fak-ten, aber ich kann sie nicht in einem Artikel von einigen Tausend Wörtern erzählen. Ich müßte Jahre über Jahre daran schreiben. Das bedeutet, ich kann (...) in Wirklichkeit nicht sagen, was fünf Millionen verfolgten Jude in Hitlers Europa geschehen ist (...) Niemand wird je diese Geschichte erzählen - eine Geschichte aus fünf Millionen Tragödien, von denen jede einzelne einen ganzen Band füllen würde." Nun liegt sie komprimiert in zwei Bänden vor.
Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden. Zweiter Band: 1939 - 1945. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. Verlag C.H. Beck, München 2006; 869 S., 34,90 Euro.