Dass sie so gut gesichert ist, hat nichts mit der weltpolitischen Brisanz der Zeitungssatire in jüngerer Vergangenheit zu tun, sondern mit dem Eigentümer des Karikaturenarchivs. Das ist der Deutsche Bundestag, zu dessen Pressedokumentation sie gehört. Die befindet sich im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus direkt neben dem Reichstag und wird wegen der 23 Millionen archivierten Zeitungsausschnitte auch als Gedächtnis des Bundestages bezeichnet.
Das Karikaturarchiv belegt nur eine relativ kleine Teilstrecke der 5.000 Regalmeter mit den Ordnern voller Presseausschnitte, enthält aber immerhin Pointenstoff aus 50 Jahren. In den zehn Aktenregalen mit dem Stichwortkürzel "Karik" lagern Karikaturen, die von 1949 bis 1999 vor allem in deutschen Zeitungen erschienen. Seit sieben Jahren werden die aktuellen politischen Satiredrucke ausschließlich elektronisch als PDF-Datei gespeichert.
Täglich kommen etwa zwanzig neue Satirezeichnungen hinzu, die die 30 Mitarbeiter der Pressedokumentation aus rund 60 Tageszeitungen der Republik - vom "Bayernkurier" bis zum "Neuen Deutschland" - auswerten. Auch Wochenzeitungen und Magazine werden ausgeschlachtet, allerdings keine Satirefachorgane wie "Titanic". An einem Regal steht "Nachlass Wernicke", ein Hinweis auf den (inzwischen verstorbenen) Kurt Georg Wernicke, der 1953 Direktor der Bundestagsbibliothek wurde. "Er ist der eigentliche Begründer der Karikaturensammlung", sagt Gerhard Deter, dem als Leiter der Pressedokumentation auch das Karikaturenarchiv untersteht. Der Westfale, ein studierter Historiker, sieht die Zerrbilder zwar nicht als den wichtigsten Teil des Pressearchivs an, ist aber trotzdem stolz auf die außergewöhnliche Sammlung. "Es handelt sich um einen über fünf Jahrzehnte gewachsenen Schatz, den es so wohl nirgendwo gibt." Immerhin gehören zu ihm auch Karikaturen aus längst eingestellten Blättern wie dem "Hamburger Echo" und aus DDR-Zeitungen, die bis 1989 ebenfalls zur Auswertung kamen. Via Nachdruck im Deutschen Pressedienst sind selbst Werke aus dem sowjetischen Satiremagazin "Krokodil" präsent.
Wurde anfangs schlicht chronologisch gesammelt, brachte Professor Walther Keim als Leiter der Pressedokumentation ab 1974 Ordnung ins System. Seither wurde die satirische Tagesware aus damals noch 150 Zeitungen "nach Sachthemen und Personen verschlagwortet", wie es im Archivardeutsch heißt. Die Stichwortliste reicht von Arbeitslosigkeit bis UNO und USA. Selbst die DDR existiert munter fort im Karikaturenregister, ebenso wie längst verstorbene oder aus dem Amt geschiedene Politiker. Allein unter dem Schlagwort "Kohl, Helmut" findet man 49 Ordner mit je rund 500 Blättern: macht zusammen rund 25.000 Kohl-Köpfe in Birnenform, die die Zeichner so liebten. In Hochzeiten brachte es der Ex-Kanzler auf 2.000 Abdrucke im Jahr, womit er regelmäßig die Rangliste der meistkarikierten Politiker anführte, die Professor Keim jährlich in Bonn erstellt hatte.
Als überaus humorigem Beamten lag ihm die Karikatur im Einzelnen und die Sammlung im Ganzen sehr am Herzen. Gern pries er sein Karikaturarchiv als die "letzte Humorecke im Bundestag", die er ebenso gern ins Licht der Öffentlichkeit rückte. Die Steuerzahler, die die einzigartige Sammlung letztlich finanzieren, sollten dafür auch was zu lachen haben. Entsprechende Wünsche gab es genug. Sie reichten vom Krankenhauschef, der um Karikaturen für eine Ausstellung bat, bis zu Reitveranstaltern, die Pferdezeichnungen suchten. Und selbst die Wissenschaft zeigte Interesse. Amerikaner erforschten die Darstellung des Rechtsradikalismus in der Karikatur, und deutsche Studenten nutzten es für Arbeiten über die karikaturistische Spiegelung des Golfkrieges oder "Die bipolaren Eigenschaftsdimensionen bei Helmut Kohl und Helmut Schmidt als Bundeskanzler in der Karikatur".
Heute ist die Karikatursammlung vorwiegend den Parlamentariern vorbehalten, was weniger daran liegt, dass Keims Nachfolgern die große Leidenschaft für das Genre fehlt, als vielmehr an restriktiveren Regelungen. Seit der Umstellung auf die elektronische Archivierung darf das Material nur noch innerhalb des Hauses verwendet werden. "Das Urheberrecht erlaubt es uns nicht, die Sammlung nach außen stärker zu popularisieren, zum Beispiel durch Ausstelllungen", sagt Gerhard Deter. "Das ist gerade unter wissenschaftlichem Aspekt schade, weil der Steuerzahler ja viel Geld für uns ausgibt." Da man beim Ankauf der Rechte finanziell längst an die Grenze des Möglichen stoße, sei die Auswertung ausländischer Zeitungen bereits komplett eingestellt worden. Noch bis 2005 bereicherten auch fünf englische und französische Zeitungen - unter anderem "Times", "Economist" und "Le Monde" - den Karikaturenbestand. Die umstrittenen Mohammed-Karikaturen aus der dänischen "Jyllands-Posten" sind über den Umweg des Nachdrucks zum Beispiel in "Die Welt" natürlich trotzdem im elektronischen Teil der Berliner Sammlung enthalten.
Inhalte und Botschaften der von ihm verwalteten Karikaturen sind für Gerhard Deter in seiner Funktion als Archivleiter nebensächlich. Darüber hinaus schätzt er an der Karikatur, dass sie "manchmal ein Problem schön auf den Punkt bringt". Als Historiker findet er sie "eine wichtige Quelle, wenn man zum Beispiel etwas über die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts politisch erfahren möchte. "Nehmen Sie die berühmte englische Karikatur über Bismarcks Entlassung als Kanzler 1890: ,Der Lotse verlässt das Schiff'. Die wurde damals von den Zeitgenossen gar nicht so wahrgenommen. Heute steht sie in jedem Schulbuch, weil sie das Zeitkolorit wiedergibt."
Ein jüngeres Beispiel für pointierten Zeitgeist, das sich auch als Ausschnitt im Archiv findet, ist die Zeichnung des DDR-Karikaturisten Roland Beier, der das Ende einer Epoche 1990 geradezu genial versinnbildlichte: Beier lässt einen arglos herumstehenden Karl Marx beiläufig sagen: "Tut mir leid Jungs, war halt nur so 'ne Idee von mir."
Marx ist zwar immer mal wieder ein beliebtes Subjekt für die Zeichnerzunft, doch bevorzugt diese eindeutig die Strichelei gegen die heute Wichtigen und Mächtigen. "Die Favoriten der Karikaturisten werden immer noch durch das Amt bestimmt", weiß Gerhard Deter. Nach Kanzler Kohl war eben Schröder der meistkarikierte Politiker, heute ist es Angela Merkel.
Obwohl es Politiker selten zugeben: Sie fühlen sich natürlich geschmeichelt, wenn sie den Sprung aus den Meldungsspalten in den Karikaturkasten eines Blattes geschafft haben. Selbst wenn man da nicht unbedingt gut wegkommt. Wobei Politikerinnen die Überzeichnung ihres Äußeren meist unangenehmer empfinden als die männlichen Kollegen, die sich viel eher an der bildlich ausgewiesenen Bedeutsamkeit ihrer Person ergötzen. Etliche Volksvertreter kauften sogar die Originale ihrer karikierten Konterfeis auf - zur geschäftlichen Freude der Künstler, die ansonst gern über den immer profilloseren Politikernachwuchs klagen.
Ein anderes Problem beschäftigt dagegen die Archivare. Der Karikaturenschatz ist auf lange Sicht von Zerfall bedroht, da das Zeitungspapier bis in die 70er-Jahre hinein stark säurehaltig war. "Um diese einzigartige Sammlung zu erhalten, ist langfristig eine komplette Mikroverfilmung und Digitalisierung geplant. Wir haben ja bereits 35.000 Filme mit deutschen und internationalen Zeitungen als Ganzausgaben archiviert, darauf sind auch viele Karikaturen aus Vorkriegszeitungen." Außerdem müsste der Bestand aus den Jahren 1949 bis 1974 gleichfalls verschlagwortet werden, um die Systematik des Archivs zu gewährleisten. "Dafür bräuchten wir eigentlich Historiker", sagt Gerhard Deter, "schließlich muss man frühere Politiker, die nicht im Text einer Karikatur verewigt sind, erst mal erkennen."