Der europäische Faschismus brachte die Erkenntnis mit sich, dass das bürgerliche Individuum auf dem Entwicklungsstand der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - um es mit einem abgewandelten Wort von Sigmund Freud zu sagen - nicht Herr im eigenen politischen Haus, nicht imstande zur Garantie stabiler demokratischer Verhältnisse war. Politik wird also nicht nur, so lautet die Einsicht aus anderer Perspektive, durch Recht und Gesetz, durch Ideen, Institutionen und Verfahren bestimmt, sondern sie bedarf ganz entscheidend der Stütze durch die individuelle Motivation der Bürgerinnen und Bürger, durch ein ausgeprägtes demokratisches Bewusstsein. Dieses Bewusstsein stellt sich nicht einfach ein, wenn nur gewisse demokratische Rahmenbedingungen (wie etwa freie Wahlen, Parteien, Parlamente) gegeben sind. Es sind darüber hinaus innere Voraussetzungen erforderlich, die zu bestimmen Sache der Psychologie ist.
Als solche Psychologie bot sich der Kritischen Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule, die diese Fragen umtrieb, die Psychoanalyse an. Die Frankfurter Schule war es ja, die Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre ganz entschieden auf eine Untersuchung des faschistischen Bewusstseins und des Verfalls demokratischer Einstellungen drang und die Mittel der Gesellschaftstheorie dafür als nicht mehr ausreichend empfand. Von der Psychoanalyse versprach sie sich genauere Hinweise darauf, wie der Bildungsprozess des Subjekts, der Aufbau seiner inneren Struktur, verläuft, wie er gelingen und wie er misslingen kann. 1 Den Vertretern der Frankfurter Schule war es, so kann man mit Fug und Recht sagen, um ein Konzept demokratischer politischer Bildung zu tun.
Bildung ist im Rahmen der Psychoanalyse als Bildung der Persönlichkeit zu verstehen. Dieses psychoanalytische Bildungskonzept ist sehr umfassend gemeint und bezieht sich auf die psychischen Grundqualifikationen zur Teilnahme an der menschlichen Kultur. Nicht der Bildungsbürger - salopp formuliert - ist ihr Ziel, sondern der Kulturbürger, oder, wie es Freud anspruchsvoller und mit Weitblick bereits 1915 formulierte, der "Kulturweltbürger". 2 Diesen stellt Freud als ein aufgeschlossenes, tolerantes Individuum vor, dem die ganze Welt und der in der ganzen Welt Zuhause ist.
Wenn ich nun vom "Subjekt" statt vom "Kulturweltbürger" spreche, mache ich eine über Freud hinausgehende Annahme. Ich bringe das psychologische Individuum der Moderne in eine Beziehung zu den historischen Prozessen der Gesellschaft, zu ihren Macht- und Herrschaftsformen, Ungerechtigkeiten, wie das die Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule unter Rückgriff auf die Psychoanalyse getan hat. Das Leiden unter ihren gesellschaftlichen Bedingungen, aber auch die Befriedigungs-, die Einfluss- und die Gestaltungsmöglichkeiten von Individuen im Hinblick auf ihre Gesellschaften sollen es rechtfertigen, von Subjekten zu sprechen. Subjekte stehen in einer angespannten, konfliktvollen Beziehung zu ihren Gesellschaften und stellen sich ihr. Ihr Entwurf ist am Ideal des mündigen Bürgers, der demokratischen Persönlichkeit orientiert. Um ihm nahe zu kommen, müssen sie natürlich einiges, besser, möglichst viel wissen. Aber nur kognitives Wissen in sich aufzunehmen, anzusammeln und zu speichern und dann gegebenenfalls abrufen zu können, reicht dazu nicht aus. Es muss ein Funke, ein Impuls, ein unabhängiges Lerninteresse vorhanden sein, ein durchgängiges, stabiles Lernmotiv. Aber auch das könnte sich darin erschöpfen, sich immer wieder in neue Stoffelernend ("büffelnd") zu "vergraben" und darin völlig aufzugehen. Dann hätten wir doch eher einen "Bildungsbürger", aber keine "gebildete Persönlichkeit", schon gar keine demokratische Persönlichkeit und kein"gebildetes Subjekt". Ohne ausreichende "Affektbildung", das wusste schon Alexander Mitscherlich, fehlt der "Sozialbildung" und der "Sachbildung" die Grundlage. 3 Der individuelle Umgang mit den Mitmenschen wurzelt ebenso wie die Beschäftigung mit Sachen und die Bewältigung von Aufgaben in einer gut entwickelten Gefühlsstruktur. Ihrer bedarf es, um als Subjekt angemessen, souverän und kreativ mit den Themen, Aufgaben und Problemen der sozialen und dinglichen Welt umzugehen und für sie Lösungen zu finden.
Diese Persönlichkeitsstruktur erwächst aus dem Erleben in der frühen Kindheit. Dort, im Umgang mit den ersten Bezugspersonen, werden die Grundlagen gelegt und die Muster gebildet, die für das Handeln und Empfinden der Menschen im weiteren Verlauf ihrer Biographie einflussreich bleiben. Es geht um emotionales Lernen als Bedingung kognitiven Lernens. Im Mittelpunkt steht dabei der Umgang mit Triebwünschen, deren Artikulation und Zügelung. Es kommt darauf an, Affekte mit Wahrnehmungen, Definitionen von Situationen und dem Handeln in Einklang zu bringen. Um den Einzelnen in den Stand zu versetzen, angemessen zu urteilen und zu handeln, müssen seine Emotionen den Anforderungen der entsprechenden Situation adäquat sein.
Die Bedeutung dieser Aufgabe für die Kulturfähigkeit des Menschen wird häufig übersehen und unterschätzt. Bei allem Fortschritt und aller Zivilisiertheit steckt doch in uns immer auch ein Stück Natur. Das hat sehr viel mit unserer Leiblichkeit zu tun, damit, dass wir "Menschen aus Fleisch und Blut" sind. Dieser sinnlich-körperliche Anteil unseres Wesens, zu dem ganz erheblich auch die sexuellen und aggressiven Strebungen beitragen und aus dem sich unser Gefühlsleben speist, wird in der Sozialisation mit den gesellschaftlichen Anforderungen in Einklang gebracht; er lässt sich jedoch nicht restlos auflösen in das, was die Gesellschaft verlangt, erwartet oder an Sanktionen verhängt. Und er sorgt mit dafür, dass wir uns als Individuen nicht vollständig an unser Gemeinwesen anpassen, sondern uns Unabhängigkeit bewahren. Wir können Bedürfnisse artikulieren, Erwartungen aussprechen, Forderungen stellen, die immer auch etwas von uns (und dieser Differenz) enthalten und nicht bloß sozial vorgegeben sind. Wir können somit als Subjekte auftreten und in die Geschehnisse eingreifen. Sie sind wichtige Bestandteile des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens; ihre Handlungsweise ist schwer vorherzusehen. Das macht noch einmal deutlich, wie sehr es darauf ankommt, die Erkenntnis gesellschaftlicher Verhältnisse zu vertiefen, indem Einsicht in die Motive der Einzelnen dafür, sich von politischen Bewegungen ab- oder ihnen zuzuwenden, zu gewinnen versucht wird.
In der Untersuchung dieser Zusammenhänge liegt der Sinn einer politischen Psychologie. Bereits Freud nahm in vielen seiner Schriften direkt Stellung zu kulturellen und politischen Themen. Jenseits seiner psychoanalytischen Praxis entfaltete er seine Ansichten zum Verhältnis des Individuums zu seiner Kultur, zur Psychologie des Krieges, der Masse und der Religion. Freud sah hier besonders die Schwierigkeit, die Kulturfähigkeit des Menschen überhaupt zu entwickeln und zu sichern. Gegen die Unbequemlichkeiten, Zumutungen und Triebverzichtsforderungen, die im Laufe der Zivilisation zunehmen, lehnt sich im Individuum immer etwas auf. Zwar werden die Vorzüge des Fortschritts durchaus empfunden, und niemand wollte sie missen, doch wirklich zufriedener, gar glücklicher stimmen sie uns nicht. Das tiefe "Unbehagen in der Kultur", 4 das uns plagt, wird davon nicht geschlichtet. Es besteht in dem Gefühl der Schuld, das die vielen kulturfeindlichen Regungen unseres Inneren uns bereiten. Wir spüren dunkel, aber doch unabweisbar, dass unsere Eignung zu Kulturwesen seelisch auf tönernen Füßen steht.
Dieses Unbehagen wird, wie Freud erkennen musste, genährt durch eine Gefahr, die vorher nicht vorhanden und daher auch kaum ins menschliche Bewusstsein gedrungen war. Es ist der hohe Grad an Destruktivität, an von Menschen hervorgebrachter massenhafter Vernichtungskraft, wie er sich erstmals in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, aber auch in den nicht nur umweltschädigenden, sondern lebensbedrohlichen Folgen unserer für friedlich gehaltenen Technologie offenbart hat. Für Freud standen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch ausschließlich die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs im Vordergrund, auf die er in seinen Schriften reagierte. Seine Frage war, ob und wie die Menschen es schaffen, sich mit ihren aggressiven Energien auseinander zu setzen, sodass diese nicht in Gefahr geraten, zu entgleisen und Tod und Vernichtung über die Menschheit zu bringen. Die Frage war damit auch, ob es ihnen gelänge, Strebungen der Bindung, der Zuwendung, Pflege, der Einfühlung, des Verstehens, kurz, des friedlichen und befriedigenden Aufbaus sozialer Beziehungen und menschlicher Kultur auszubilden, die dauerhaften und sicheren Schutz vor dem unkontrollierten massenhaften Ausbruch von Destruktivität böten.
Freud hat ferner die Entwicklung von Massenbewegungen untersucht und dabei wichtige Erkenntnisse darüber gewonnen, wie sich Menschen willig einem Führer oder einer Weltanschauung unterordnen und ihr Gewissen dabei "an der Garderobe abgeben". Einmal in eine solche verschworene Gemeinschaft verstrickt, entwickelt sich im individuellen Bewusstsein sehr schnell ein typischer Vorurteilsmechanismus, der nach dem simplen Muster: "Wir sind die Guten, die es richtig machen und über die geeigneten Fähigkeiten und die nötige Kultur verfügen; die anderen, Fremden, die von außen kommen, nicht dazugehören (dürfen), sind die Bösen, sind Feinde, vor denen es auf der Hutzu sein und die es zu bekämpfen gilt" funktioniert. Diese Massenpsychologie, von Freud 1921 noch an den Institutionen Kirche und Heer exemplifiziert, 5 war es, die von den Autoren der Frankfurter Schule und auch von Wilhelm Reich und Ernst Simmel für die Analyse von Faschismus und Antisemitismus aufgegriffen und weitergeführt wurde. 6
Die hieraus stammenden Einsichten haben bis heute nichts an Aktualität eingebüßt, führt man sich den sozialen Konfliktstoff vor Augen, den das Verhältnis der angestammten Einwohner der modernen westlichen Gesellschaften zu Zuwanderern, Asylbewerbern, Menschen anderer Hautfarbe, Religion, sexueller Orientierungen u. v. m. hervorbringt. Das Wesen der psychoanalytischen Einsicht ist dabei dies: Es sind affektive Bindungen, die sich zwischen den Einzelnen und dem Führer, einer Ideologie herstellen und die Mitglieder solcher Massen untereinander vereinen. Der Führer nimmt ihnen wie eine Elternfigur das Denken und moralische Urteil ab; ihm wird blind vertraut. Dass man sich mit den vielen in dieser Gemeinsamkeit einig weiß, verschafft zusätzliche Sicherheit. Zudem treten in der Verehrung der gemeinsamen Führerperson oder in der Hingabe an eine gemeinsame Religion oder Ideologie die Unterschiede der Anhänger, ihre persönlichen Merkmale und Besonderheiten in den Hintergrund. Die übrigen Mitglieder werden nicht nur allen anderen außerhalb dieser Gruppierung vorgezogen, sie werden, auf eine milde Form, geliebt. Man denke an freudetrunken sich umarmende Fußballfans, Parteianhänger, eine verschworene religiöse Gemeinschaft oder das enthusiasmierte Publikum eines Rockkonzertes.
Gewiss, ohne Affekte geht es nicht, aber das Ausufern von Affekten führt zum Verlust des Maßes in den sozialen Beziehungen; sie kann die Ausgrenzung der Andersdenkenden, der Fremden zur Folge haben und zu einem irrationalen, wirklichkeitsfernen Feindbild führen. Die Gefahr, die darin liegt, kann uns heute aufgrund einer Fülle von geschichtlichen Erfahrungen (gerade in Deutschland), nicht mehr unbekannt sein und muss uns beschäftigen. Sie ist deshalb so groß, weil sie sich, wie wir wissen, in einzelne (von Amokläufern und Selbstmordattentätern) und massenhafte Destruktivität umzusetzen pflegt. Aber auch schon in ihren subtilen, nur verbalen und gestischen Ausdrucksformen erzeugt sie ein unfriedliches soziales Klima.
Es ist für den Einzelnen heutzutage also nicht leicht, zu einer demokratischen Persönlichkeit zu werden. Auch in der spätmodernen Gesellschaft wirken viele Kräfte in die gegenteilige Richtung. Der Bildung autonomer Subjekte steht nach wie vor vieles im Wege. Neuere politikwissenschaftliche Ansätze sehen bereits ein postdemokratisches Zeitalter heraufziehen, in dem medienmächtige Führer im Stile eines Silvio Berlusconi die Bürger einlullen und entmündigen und ihnen ihr autoritäres Regime aufzwingen. Umso mehr bedarf es gerade heute einer Kritischen Politischen Psychologie, 7 die - in der dargelegten Tradition der Frankfurter Schule - nach den Möglichkeiten einer gelungenen politischen Sozialisation fragt. Das Subjekt, das ihr vorschwebt, lernt nicht nur, sich anzupassen, sondern seine Bedürfnisse und Interessen ins Spiel zu bringen. Es kann insbesondere auch als Subjekt in Betracht gezogen werden, das unter den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen in seinen Artikulationsmöglichkeiten beeinträchtigt und in Mitleidenschaft gezogen wird.
Die hier vertretene Politische Psychologie wählt nicht die Perspektive der Regierenden, die wissenschaftliche Erkenntnisse benutzen, um die Regierbarkeit des Wahlvolks zu erhöhen. Ihr Weg führt "von unten", von den Regierten, zu den politischen Institutionen und Machtträgern. Wie finden sich die Bedürfnisse und Interessen der Menschen in der Politik wieder, wie lässt sich ihr Einfluss mehren und die politische Veränderung der Gesellschaft so bewerkstelligen, dass deren größtmögliche Verwirklichung als Subjekte erreicht wird? In dieser Suche nach den Bedingungen und Möglichkeiten demokratischer Persönlichkeit steht sie in enger Verbindung mit dem Konzept der "Lebenspolitik" von Anthony Giddens und dem Begriff des "Verfassungspatriotismus" von Jürgen Habermas. 8
Lebenspolitik hat als Träger ein Subjekt, das sich selbstreflexiv mit seiner Körperlichkeit, den Beziehungen zum anderen Geschlecht und seinen Bedürfnissen auseinander zu setzen und darüber stimmig zu kommunizieren vermag. Zugleich kann ein solches Subjekt seine Lebenspraxis im Zusammenhang sehen mit den großen gesellschaftlichen Erfordernissen in Zeiten der Globalisierung von Wirtschaft und Politik: Sicherung und Ausbau demokratischer Strukturen, Entmilitarisierung und Schaffung dauerhaften Friedens, Humanisierung und ökologisch verträgliche Gestaltung von Wirtschaft und Technik, Entwicklung von Alternativen zum System ungebremsten kapitalistischen Wachstums. Im Rahmen dieser Konzeption können seitens einer psychoanalytischen Politischen Psychologie die erforderlichen persönlichkeitsstrukturellen Voraussetzungen formuliert werden: a) konstitutionelle Intoleranz gegenüber dem Krieg und der Schädigung der Umwelt; b) Angsttoleranz/Weltangst; c) Resistenzfähigkeit gegenüber Massenregressionen und Aufrechterhaltung von Kritikfähigkeit sowie Vorurteilseinsicht. Ich will im Folgenden kurz erläutern, was damit gemeint ist.
a) Freud hat bei allem ihm eigenen Pessimismus doch seine Hoffnung in den zu seiner Zeit schon aufkeimenden Pazifismus gesetzt. Ihm zufolge sind die Erstarkung der Vernunft und die Verinnerlichung der Aggressionsneigung die wirksamsten Mittel des Kulturmenschen, sich gegen kriegerische Motive zu immunisieren. Vernunft und Beherrschung der Aggression führen gewissermaßen zu einem "Verlernen" kriegerischer Handlungsmuster. Es ist, wie Freud 1933 schreibt, 9 ein geradezu körperlicher Ekel, eine konstitutionelle Intoleranz gegen den Krieg, die den Menschen von den destruktiven, vernichtenden Lösungsformen seiner sozialen Konflikte Abstand nehmen und pazifistisch werden lassen. 10 Dementsprechend muss politische Bildung solche Kräfte fördern und stärken, die vernünftige, kommunikative Formen des Umgangs mit Konflikten hervorbringen und zur Rücksicht gegenüber unseren natürlichen Lebensgrundlagen motivieren. Es geht von der frühkindlichen Sozialisation in der Familie an darum, dass Konflikte ausgetragen und durchsichtig gemacht werden, und zwar in einer Haltung der gegenseitigen Anteilnahme, Einfühlung, Achtung und Fairness. Zunächst ist es also Aufgabe der Eltern, mittels eines solchen Erziehungsstils für die Grundlage einer konfliktstarken Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder zu sorgen. Für die anderen Sozialisationsinstitutionen gilt dies entsprechend. Sie sollen an die in der Familie eingeübten Muster anknüpfen und sie weiterentwickeln bzw. dort nicht eingetretene Bildungsprozesse nachholen oder doch wenigstens deren Fehlen kompensieren. Solche Sozialisationsverhältnisse bieten die besten Aussichten, dass Individuen mit Selbstvertrauen heranwachsen, die es gewohnt sind, ihre Bedürfnisse und Interessen auszusprechen und die anderer anzuerkennen und bezüglich der bestehenden Differenzen einen Konsens auszuhandeln.
b) Eine solche politische Sozialisation würde auch zu einem anderen Umgang mit Angst führen. Angst ist ein elementares Gefühl, das sich nicht aus der menschlichen Seele verbannen lässt. Mit ihm ist folglich auch in politischen Zusammenhängen zu rechnen. Natürlich ist es richtig, was das Sprichwort sagt: Angst ist kein guter Ratgeber. Es ist aber genauso falsch, Angst zu ignorieren. Die hier gemeinte Angst ist nicht Feigheit. (Wir kennen sie z.B. als Angst der Eltern um ihre Kinder.) Vielmehr handelt es sich um ernsthafte Sorge (vor Krieg, Zerstörung, Verstetigung von Konflikten). Kinder müssen von früh an erleben können, wie sich Erwachsene ernsthaft Sorgen machen und deshalb etwas verhindern, einer Gefahr begegnen wollen. Das verschafft ihnen Selbstvertrauen in den eigenen Mut, sich um politische und gesellschaftliche Probleme zu kümmern und für sie Lösungen zu suchen, indem sie die diesbezüglichen Ängste ernstgenommen haben. In diesem Sinne spricht Klaus Horn von "Angsttoleranz", 11 die zu schulen sei. Und die Sozialpsychologen Robert J. Lifton und Horst-Eberhard Richter plädieren für ein "Weltgewissen", das Wahrnehmen und Ausbilden einer "Weltangst" als Grundlage für die Einsicht in die dringenden Fragen der Gegenwart und Zukunft einer immer mehr die Existenzbedingungen auf ihrem Planeten beeinflussenden globalisierten Gesellschaft. 12
c) Ein solches Bewusstsein hat es nicht einfach. Will es kritikfähig bleiben, muss es von früh an zu Unabhängigkeit und Eigenständigkeit angehalten und ermuntert werden. Das ist im Zeitalter der Massengesellschaft immens wichtig. Nicht nur, dass politische und wirtschaftliche Organisationen aus unterschiedlichen Interessen heraus Einfluss auszuüben versuchen; in vielen Situationen seines Alltags erfährt sich doch der Einzelne - und das ist die andere Seite der "Individualisierung" - als Teil einer anonymen Masse (als Beschäftigter in einem Großbetrieb, Kunde in einem Warenhaus, stimmberechtigtes Mitglied einer Wählerschaft, als Medienrezipient, im modernen Massenverkehr oder Massentourismus). Das kann leicht zu einer Entmutigung des Selbstgefühls und der Autonomie führen oder ihr zumindest Vorschub leisten. Es sich nicht einfach zu machen wie alle anderen, nicht den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, sich nicht den politischen, sozialen und ökonomischen Parolen, Slogans und Botschaften kritiklos unterzuordnen, sondern eine eigene Meinung zu bilden, ist nur einem durch gelungene Sozialisation gestärkten Ich möglich. Dieses verfügt über die Fähigkeit, sich von öffentlich kursierenden Formeln nicht einnehmen zu lassen, und über einen frühzeitig geübten Blick für die eigene Vorurteilsanfälligkeit. Auch ist es in der Lage, die Vielfalt seiner inneren Wünsche stimmig auszudrücken; klischeehafte Verkürzungen und emotionsarme Sprache sind in seinem Kommunikationsstil eher die Ausnahme.
Prägen sich diese Eigenschaften aus, so kommt damit auch ein solidarisches, verfassungspatriotisches, weltbürgerliches Bewusstsein in Reichweite, das den gegenwärtigen, mit der Globalisierung und den damit geschaffenen postnationalen Bedingungen verbundenen Erfordernissen gewachsen ist. Auf die Notwendigkeit eines solchen Bewusstseins, das sich politisch nicht mehr an überkommenen nationalstaatlichen Gebilden orientiert, sondern eine demokratisch verfasste übernationale Ordnung wie etwa die EU oder die UN im Auge hat, hat der Sozialphilosoph Jürgen Habermas Ende des vergangenen Jahrhunderts aufmerksam gemacht. 13 An der Politischen Psychologie ist es, zu klären, wie das einzelne Bewusstsein zur gehobenen Haltung des Verfassungspatriotismus, gar zur erhabenen Größe eines moralisch geläuterten Selbstverständnisses kosmopolitischer Solidarität gelangt und wie es die Enttäuschungen übersteht, die der Globalisierungsprozess mit sich bringt, ohne in Neo-Nationalismus und Apathie abzugleiten. Dieser Aufgabe sieht sich eine demokratische Persönlichkeit heute in besonderem Maße gegenüber.
Auch hier muss betont werden, dass es sich dabei nicht um eine Frage bloßen Lernens, einer optimalen Anpassung handelt. Um die psychischen Voraussetzungen eines demokratischen Bewusstseins zu erwerben, bedarf es eines bestimmten Sozialisationsklimas. Schon der Begriff gibt darauf einen Hinweis; denn eine gewisse Emotion, etwas Feierliches, schwingt immer mit, ist von Patriotismus die Rede. Zwar kann vom damit ursprünglich implizierten Gefühl, sich dem eigenen Staat bzw. der Nation freudig in der Schlacht zu opfern, heutzutage nicht mehr die Rede sein; doch auch Verfassungspatriotismus kann, jenseits rein rationaler Begründungen, auf Begeisterung für die Sache nicht verzichten. 14Ohne Schwung, ohne etwas Mitreißendes kommt er nicht aus.
Verfassungspatriotismus ist eine hochmoralische innere Einstellung, die nicht leicht zu erringen ist. Sie basiert auf der moralischen Fähigkeit, allgemeine Werte höher zu schätzen als die bestimmter Interessengruppen, etwa Nationen oder Unternehmen. Sie setzt voraus, sich von konventionellen Moralvorstellungen freimachen zu können, Neues, andere Perspektiven, vorurteilslos in Betracht ziehen zu können und sich für deren Geltung einzusetzen. Es ist ganz offensichtlich, dass es nur einer dementsprechend sozialisierten, geläuterten Persönlichkeit möglich ist, die hierfür notwendigen Eigenschaften wie Besonnenheit, Gleichmut, Unbeirrbarkeit und Weitblick aufzubringen, ohne sich von Partikularinteressen und kurzsichtigem, emotionsgeladenem Denken bestimmen zu lassen. Das kann sie nur, wenn die genannten psychodynamischen Bedingungen erfüllt sind.
Gerade die Frage des Patriotismus berührt aufs Engste unsere Identität. Menschliche Individuen schließen sich sozialen Gruppen- oder Groß-Identitäten (Kirchen, Nationen) an und fügen sich in sie ein. Sie beziehen von dort einen Gutteil ihrer Identität, etwa als Bewohner einer bestimmten Stadt, als Deutscher, Europäer oder als Christ. Mit der Einstellung des Verfassungspatriotismus werden diese herkömmlichen Identitäten aber gerade zugunsten einer weltweiten (universalistischen) Gattungsidentität überwunden. Das ist ein unter dem heute so gängigen Schlagwort der Globalisierung allzu häufig unberücksichtigt bleibender Aspekt. Schon Freud hatte ja, wie wir gesehen haben, einen solchen "Kulturweltbürger" im Blick. Mit einer derartigen universalistischen Identität ist eines gerade nicht gemeint: Dass der Einzelne in den Groß-Identitäten aufgeht. Im Gegenteil: Die Identität einer demokratischen Persönlichkeit bewegt sich in einer ausgewogenen Balance zwischen dem Verfolgen einer individuellen Biographie und den Belangen des Großen und Ganzen. Sie hat stets zwei Seiten, zwischen denen sie ihren Kurs suchen muss - personale und soziale Identität.
Bei aller Flexibilität und Kompetenz, derer es hierfür bedarf, muss aber klar sein, dass Identität gleichzeitig nicht ohne eine tief greifende Bindungserfahrung auskommen kann. Urvertrauen ist, wie der Psychoanalytiker Erik H. Erikson betont hat, 15 die Substanz, ohne die sich Identität nicht ausprägen würde. Sie wird, gleichsam als biographische Wegzehrung, in den frühesten Eltern-Kind-Beziehungen durch das Erleben warmer, hingebungsvoller Zuwendung erworben. Und sie sorgt, wie Alexander Mitscherlich hervorhob, 16 für die nötige Beheimatung in der Welt, eine Beheimatung, die uns überhaupt erst gestattet, Liebe zu den Menschen und Dingen aufzubringen. Jede demokratische Beteiligung hat hier ihre Wurzel.
1 Vgl. Max
Horkheimer (1932), Geschichte und Psychologie, in: Helmut Dahmer
(Hrsg.), Analytische Sozialpsychologie, Bd. 1, Frankfurt/M. 1980;
Erich Fromm (1936), Studien über Autorität und Familie.
Sozialpsychologischer Teil, in: Erich Fromm, Gesamtausgabe, Bd. I:
Analytische Sozialpsychologie, Stuttgart 1980.
2 Sigmund Freud (1915),
Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: ders.,
Studienausgabe, Bd. IX: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der
Religion, Frankfurt/M. 1974.
3 Vgl. Alexander Mitscherlich (1963),
Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, in: ders., Gesammelte
Schriften, Bd. III: Sozialpsychologie 1, Frankfurt/M. 1983.
4 Sigmund Freud (1930), Das Unbehagen in
der Kultur, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX (Anm. 2).
5 Vgl. Sigmund Freud (1921),
Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: ebd.
6 Vgl. Theodor W. Adorno (1950), Der
autoritäre Charakter, Frankfurt/M. 1973; ders. (1951), Die
Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda,
in: H. Dahmer (Anm. 1); Wilhelm Reich (1933), Massenpsychologie des
Faschismus, Erw. Neuauflage, Köln 1970; Ernst Simmel (1946),
Antisemitismus und Massen-Psychopathologie, in: Psyche, 32 (1978) 5
- 6.
7 Vgl. Klaus Horn, Politische
Psychologie. Schriften zur kritischen Theorie des Subjekts. Bd. I,
hrsg. von Hans-Joachim Busch, Gießen 1998; Hans-Joachim
Busch, Klaus Horns Konzept einer "Kritischen politischen
Psychologie", in: Psychosozial, 22 (1999), S. 25 - 39.
8 Vgl. Anthony Giddens (1990),
Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/M. 1995; Jürgen Habermas,
Die postnationale Konstellation, Frankfurt/M. 1998.
9 Vgl. Sigmund Freud (1933), Warum
Krieg?, in: ders., Studienausgabe, Bd. IX (Anm. 2).
10 Man kann sagen, die "Menschennatur"
wird kulturell weiter veredelt, im Sinne eines psycho-somatischen
Fortschritts. Sie erwirbt eine körperliche Abneigung gegen
Gewalt, die gewissermaßen "in Fleisch und Blut"
übergeht. Vgl. dazu ausführlicher Hans-Joachim Busch,
Subjektivität in der spätmodernen Gesellschaft.
Konzeptuelle Schwierigkeiten und Möglichkeiten
psychoanalytisch-sozialpsychologischer Zeitdiagnose, Weilerswist
2001, S. 278ff.
11 Klaus Horn (1981), Gewalt in der
Gesellschaft. Wie wir organisiert miteinander umgehen und wie wir
Veränderungen in Gang setzen können, in: ders.,
Sozialisation und strukturelle Gewalt. Schriften zur Kritischen
Theorie des Subjekts, Bd. III, hrsg. von Hans-Joachim Busch,
Gießen 1996.
12 Vgl. Robert J. Lifton (1987), Das
Ende der Welt, Stuttgart 1994; Horst-Eberhard Richter, Umgang mit
Angst, Hamburg 1992.
13 Vgl. J. Habermas (Anm. 8).
14 Vgl. Dolf Sternberger,
Verfassungspatriotismus, in: ders., Schriften. Bd. X, Frankfurt/M.
1982; Thomas Schmid, Ein Vaterland der Bürger, in: Die Zeit
vom 5.3. 1993. Zur auch bei Mitscherlich betonten
sozialisatorischen Bedeutung von Beheimatung vgl. Hans-Joachim
Busch, Heimat als ein Resultat von Sozialisation - Versuch einer
nicht-ideologischen Bestimmung, in: Wilfried Belschner u.a.
(Hrsg.), Wem gehört die Heimat? Beiträge der politischen
Psychologie zu einem umstrittenen Phänomen, Opladen
1995.
15 Vgl. Erik H. Erikson, Kindheit und
Gesellschaft, Stuttgart 1971(4).
16 Vgl. A. Mitscherlich (Anm.
3).