Männliche Jugendliche
Zwischen Rollenbild und Realität
Dritte Stunde an einer weiterführenden Schule: Die Kinder haben gerade die "große Pause" hinter sich. Dennoch herrscht große Unruhe, zu der vor allem die Jungen beitragen. Es hält sie nicht auf ihren Stühlen, sie toben durch den Klassenraum, raufen und schreien. Still wird es erst, als die Lehrerin die Rückgabe der Deutscharbeit ankündigt. Diese sei schlecht ausgefallen, sagt sie. Die männlichen Störer, die sie eben noch ermahnt hat, teilen sich die Fünfen und Sechsen.
Eine typische Geschichte, glaubt Frank Beuster, Lehrer an einer Hamburger Gesamtschule. Der Autor des Buches "Die Jungen-Katastrophe" beobachtet eine große Ratlosigkeit gerade unter Kolleginnen: "Frauen wissen oft nicht, wie die Jungs ticken." Wenn Schüler sehr lebhaft sind und im Unterricht kaum zur Ruhe kommen, stecke oft Bewegungslust dahinter.
Die aber sei im Schulalltag weitgehend unerwünscht, für Prügeleien und Lärm gebe es "null Toleranz". Das "pflegeleichte Mädchen" sei zum Maßstab geworden, so Beus-ters kritisches Fazit. Er verlangt eine "geschlechtsbezogene Pädagogik", die den wachsenden Rollenkonflikten männlicher Jugendlicher gerecht wird.
Schulprobleme sind heute mehr denn je Probleme von Jungen: Sie zeigen schlechtere Leistungen und werden häufiger gewalttätig. Bei vielen Lehrern gelten männliche Schüler als renitent und und wenig anpassungsbereit. Sie überwiegen unter den Verweigerern und Sitzenbleibern. Zwei Drittel der Schulabbrecher und drei Viertel der Sonderschüler sind männlich, stellte 2006 der erste Nationale Bildungsbericht fest.
In den Hauptschulen stellen Jungen die Mehrheit, in den Gymnasien sind sie dagegen zur Minderheit geworden. Der letzten Shell-Jugendstudie zufolge will mehr als die Hälfte der jungen Frauen (55 Prozent) Abi-tur machen, bei den gleichaltrigen Männern sind es nur 47 Prozent. "Neben den leis-tungsstarken Mädchen, die Beruf und Familie vereinbaren möchten und diesen Wunsch selbstbewusst vertreten, fallen viele Jungen auf, die noch unsicher dabei sind, ihre Rolle in der Gesellschaft zu suchen und sich neu zu definieren", formulieren die Verfasser. Erst an den Universitäten - besonders drastisch bei Promotionen und Professuren - kehrt sich der weibliche Bildungsvorsprung zugunsten der Männer um.
Zum Selbstverständnis männlicher Jugendlicher gehört es, "cool, witzig und faul zu sein, weshalb sie häufig dem widerständigen und sozial auffallenden Schülertypus entsprechen", analysiert der Berliner Geschlechterforscher Michael Cremers in einer aktuellen Expertise für das Bundesfamilienministerium. "Kein Streber sein", so erläutert der Wissenschaftler, verständen Jungen als einen Teil von Männlichkeit, mit dem sie sich abgrenzen und von Frauen unterscheiden können. In einer anderen Studie des Ministeriums heißt es: "Während das Bildungsniveau von Männern stagniert, steigt es bei Frauen weiter."
Mädchen sind die "modernen Kinder", "auf der Überholspur" oder sogar die "neue Bildungselite": Solche zugespitzten Thesen haben die breite Öffentlichkeit erreicht. Die Medien berichten immer wieder über "schwierige Jungs", Politiker stellen parlamentarische Anfragen, die Industrie verweist auf die Bildungsdefizite männlicher Schüler. Aufgeschreckt durch die Ergebnisse des Pisa-Ländervergleichs, der vor allem dem Nachwuchs aus Zuwandererfamilien gravierende Leseschwächen attestiert, kommt das Thema auf Fachkonferenzen von Kultusministerien und Bildungsexperten zur Sprache. Die jüngste Shell-Studie warnt gar reißerisch vor einem "Krieg der Geschlechter".
Das Szenario enthält sozialen Zündstoff und auch politische Brisanz. "Männlich, jung, Hauptschule" heißt regelmäßig die Kurzanalyse der Wahlforscher, wenn rechtsradikale Parteien wie zuletzt in Mecklenburg-Vorpommern spektakuläre Stimmengewinne erzielen.
Die jungen Kerle, denen vor allem in den strukturschwachen Regionen des deutschen Ostens keine attraktive Männerrolle mehr erreichbar scheint, gelten als besonders anfällig für Aggressivät und Extremismus. Nicht erst die spektakulären Amokläufe von Erfurt und Emsdetten belegen beklemmend deutlich, dass Gewalt an Schulen vorrangig ein Jungenproblem ist.
Pauschale Zuschreibungen sind wegen der vielfältigen Lebenslagen fragwürdig. So erbringen Schüler aus bürgerlichen Familien oft überdurschnittliche Leistungen. Nicht jeder junge Mann droht gleich zum Langzeitarbeitslosen ohne Perspektive zu werden. Nach der Berufsausbildung bekommen männliche Absolventen häufiger ein Übernahmeangebot. In vielen Branchen profitieren sie von einem nach wie vor auf Männer ausgerichteten Arbeitsmarkt.
In der Vergangenheit hatten Jungen trotz schlechterer Schulabschlüsse bessere Chancen auf eine Lehrstelle als Mädchen. Inzwischen aber müssen immer mehr junge Männer zunächst an berufsvorbereitenden Maßnahmen teilnehmen, damit sie überhaupt den Qualitätsanforderungen des Ausbildungsmarktes genügen.
Bei den gering Qualifizierten findet eine Angleichung der Geschlechter nach unten statt. Männliche Jugendliche können nicht mehr auf das einst gängige Prinzip "Vollzeit ohne Unterbrechung bis zur Rente" setzen. Sie sind mit unsicheren Erwerbsverläufen konfrontiert, die für Frauen schon immer als "normal" angesehen wurden. Einem Teil der Jungen droht damit eine Zukunft, die durch unsichere Arbeitsformen der Selbstständigkeit und Geringfügigkeit, durch Niedriglöhne, Minijobs oder befristete Beschäftigung charakterisiert ist.
Der Abstand wächst zwischen Anspruch und Wirklichkeit: zwischen der Erwartung, die traditionelle Ernährerrolle ausfüllen zu können, und den tatsächlichen beruflichen Möglichkeiten. Schulabgänger spüren diesen Widerspruch schon bei der Suche nach einer Lehrstelle. Nach hundert abgelehnten Bewerbungen macht sich aus verständlichen Gründen Frust breit. Jungen haben sich im Unterricht meist wenig mit ihren beruflichen Perspektiven beschäftigt. Gesellschaftliche Normen weisen ihnen die Funktion des Versorgers zu, vielen aber dürfte es schwer fallen, dieser Aufgabe in einer umstrukturierten Arbeitswelt gerecht zu werden.
Die Erfolge im deutschen Schulsystem hängen vorrangig von der sozialen Schicht der Eltern und von der ethnischen Zugehörigkeit ab. Erst als drittes Kriterium folgt das Geschlecht. "Das katholische Arbeitermädchen vom Land, das in den 1970er-Jahren noch als Prototyp der schulischen Bildungsverliererin galt, ist mittlerweile vom Migrantensohn aus einer bildungsschwachen Familie abgelöst worden", fasst Forscher Cremers prägnant zusammen.
Männer bis 24 Jahre sind stärker von Jugendarbeitslosigkeit betroffen als Frauen gleichen Alters - und mit dauernden Erlebnisse des Scheiterns konfrontiert. Als Ausweg klammern sich manche an ein konservatives Männerbild. Vaterschaft setzen sie damit gleich, "gutes Geld" zu verdienen und damit eine Familie unterhalten zu können - auch wenn dieses Ziel von der Realität weit entfernt ist.
In den Pflegeberufen, im Callcenter, bei der Polizei, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder auch beim Service für technische Geräte erwarten Arbeitgeber heute Kommunikationstalent, Einfühlungsvermögen und Kundenorientierung - Eigenschaften, die sie eher Frauen zutrauen. Wenn männliche Schulabgänger nicht abgehängt werden wollen, müssen sie sich auf diese veränderten Anforderungen einstellen. Jungen brauchen pädagogische Impulse, um sich anders zu orientieren.
Die Schule kann nicht mehr einseitig auf den Beruf, sondern sollte auf die Wechselfälle des Lebens vorbereiten. Sie müsste die Blockaden in den Köpfen beseitigen und Vorurteile abbauen: Soziale Tätigkeiten wie Erzieher oder Alterpfleger sind eben keine von vorne herein indiskutablen "schwulen Berufe" - wie sie im Schimpfwortkanon von Jungencliquen bisweilen abschätzig heißen. Wenn junge Männer zum Beispiel kranke Menschen versorgen, kann das eine durchaus sinnvolle Berufswahl sein - und ist auf jeden Fall besser als Arbeitslosigkeit.
Das Familienministerium fördert deshalb seit fast zwei Jahren das Projekt "Neue Wege für Jungs": Mit Initiativen wie einem Boys' Day und der Posterkampagne "Coole Jungs" soll die bislang eingeschränkte Berufswahl von Jugendlichen thematisiert werden. Das T-Shirt zur Kampagne mit dem Spruch "Finger weg von meiner Alten!" ist dafür ein Beispiel: Das ist nicht für Machos gedacht - sondern für Jungs, die sich vorstellen können, als Altenpfleger zu arbeiten. Und vielleicht kommt der Perspektivenwechsel dann auch in bei den Politikern selbst an - und das viel geschmähte "Wickelvolontariat für Väter" verschwindet endlich aus dem Vokabular.