Bevor Arnold Vaatz mit sicheren Schritten zum Rednerpult schreitet, sortiert er noch mal kurz die Papiere, unterstreicht eine Stelle, legt für einen Moment den Kopf zwischen die Hände. Es ist nicht irgendeine Rede, die er im Plenum des Deutschen Bundestages halten will. Es geht um das SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, und es ist in 17 Jahren nach der Wiedervereinigung der dritte Anlauf, den der Bundestag dazu unternimmt. Das Kernstück: Wirtschaftlich bedürftige Opfer des SED-Regimes sollen monatlich 250 Euro erhalten. Es geht um das Schicksal von rund 16.000 Menschen.
Arnold Vaatz weiß, wovon er spricht. Als junger Mann, seine Frau war gerade mit dem zweiten Kind schwanger, wurde er im thüringischen Unterwellenborn für sechs Monate wegen Reservedienstverweigerung inhaftiert. Im Stahlwerk musste er Zwangsarbeit leisten. Politische Häftlinge saßen zusammen mit Kriminellen ein. "Es gab dort viel Gewalt. Schwächere Häftlinge wurden oft von anderen zusammengeschlagen", erzählt der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU später in seinem Abgeordnetenbüro. Noch gefährlicher aber war die Arbeit im Stahlwerk selbst. Mindestens einmal im Monat gab es einen schweren Unfall. Die älteste Maschine war von 1919. Fast alle Sicherheitssperren waren kaputt.
Obwohl Vaatz von dieser Zeit berichtet, als sei sie erst gestern zu Ende gegangen, vermeidet er den Eindruck, daraus politisches Kapital schlagen zu wollen. "Es gab viel schlimmere Fälle als mich", sagt er lakonisch. Dennoch sind diese und andere Erlebnisse für ihn Antrieb, beharrlich für das 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz zu kämpfen. Nach seinem Selbstverständnis hat er 1989 bei seinen Reden als Mitglied der "Gruppe der 20" bei den öffentlichen Versammlungen in Dresden sich selbst und anderen ein Versprechen gegeben. Er schaut vom Boden auf. Ein intensiver Blick. An erster Stelle ist es das Eintreten für Demokratie. Die Menschen sollten und sollen Hoffnung schöpfen, Kraft finden, etwas Neues zu beginnen. Anders als manch anderer machte sich Vaatz zudem keine Illusionen über die desolate ökonomische Situation in der DDR. Vor der Wende arbeitete der Theologe und Diplom-Mathematiker beim Volkseigenen Betrieb (VEB) Komplette Chemieanlagen Dresden.
Doch geht es dem 51-Jährigen, der seinen Wahlkreis Dresden II bislang stets direkt gewonnen hat, nicht nur um die neuen Bundesländer. Das Thema Menschenrechte ist für ihn global. Wie soll Deutschland mit dem Spannungsfeld umgehen, wirtschaftlich und geopolitisch als Industrienation mit Ländern gute Beziehungen zu pflegen, die Menschenrechte verletzen? "Eine Antwort auf diese Frage habe ich nicht. Aber wir dürfen ihr nicht länger ausweichen", sagt er und nennt als Beispiel China; ein "Global player" ohne demokratische Strukturen. Um die älteste bestehende Kultur der Welt besser zu verstehen, lernte er während seiner Amtszeit als sächsischer Raumordnungsminister (1992-1989) während langatmiger Sitzungen im Landtag nebenbei die chinesischen Schriftzeichen.
Doch hat Vaatz als Raumordnungsminister noch etwas anderes gelernt. "Kaum jemand denkt heute in historischen Dimensionen. Dabei ist dies der Schlüssel für unsere Zukunft", sagt er und erklärt das mittelalterliche Straßennetz in Sachsen mit seinen Knotenpunkten, den Nikolaikirchen. Jetzt schreibt er eine "Geschichte Mitteldeutschlands". Oft sitzt er dann schon früh um sechs Uhr zu Hause an seinem Computer. Den ersten Band hat er bereits fertig gestellt und zieht ihn aus dem Schrank hinter seinem Schreibtisch. "In meiner theologischen Ausbildung habe ich keine Frömmigkeit, sondern Dogmen gelernt. Sie erzählen uns etwas über unsere Traditionen, unser Leben und unsere Geistesgeschichte", erklärt er. Sein Quellenstudium habe ihn kürzlich in den Naumburger Dom geführt. Seitdem versucht er, mehr über das Leben der Stifter des Weltkulturerbes heraus zu bekommen. Er lacht: "Da braucht man schon kriminalistische Fähigkeiten, um Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden." Acht Bände soll das Werk schließlich haben - und man ahnt es: Er wird dieses Ziel beharrlich verfolgen.