afghanistan
Die Bevölkerung ist zunehmend enttäuscht von der neuen Ordnung
In den vergangenen Monaten haben Nato-Truppen und afghanische Einheiten die Taliban im Süden Afghanistans stark unter Druck setzen können. Es vergeht kaum ein Tag ohne Meldungen über zahlreiche Verluste der Aufständischen. Am Tag vor dem Bombenattentat auf die Bundeswehrsoldaten in Kundus waren 70 Taliban bei Kämpfen in der Provinz Paktia ums Leben gekommen. Durch amerikanische Luftangriffe wurden weiter mehrere Dutzend Aufständische in Kapisa getötet. In derselben Provinz, so meldet der dortige Provinzgouverneur, starben nach einem Angriff auf einen Konvoi weitere 20 Kämpfer.
Der Krieg wird blutiger. Dank besserer Koordination, besserer Ausrüstung und besserer Aufklärung gelingt es den Nato-Einheiten, den Rebellen immer größere Verluste zuzufügen. Die Aufständischen passen indes ihre Strategie der Situation an. In der offenen Konfrontation mit den ausländischen Truppen sind ihre Verluste zu hoch. Sie versuchen nun, den Konflikt über den Süden des Landes hinaus auszuweiten und mit Terroranschlägen in Guerilla-Manier die Nato-Truppen empfindlich zu treffen. Der Aufwand dafür ist nicht hoch. Man benötigt nicht viel mehr als einen Freiwilligen, der bereit ist, so wie in Kundus den "richtigen" Zeitpunkt abzuwarten, um sich in der Nähe von Bundeswehrsoldaten in die Luft zu sprengen. Alles spricht dafür, dass in der Zukunft mit mehr Anschlägen dieser Art zu rechnen ist. Bislang gilt zwar immer noch, der Norden sei sicherer als der Süden, aber die Differenz ist relativ. Der Unterschied ist zum einen der Geographie geschuldet. Die religiös orientierten Gruppen unter den Aufständischen haben ihre Basis in Pakistan und beziehen von dort Unterstützung und Nachschub. Zum zweiten rekrutieren sich einige dieser Gruppen aus Paschtunen, die im Süden leben. Das bedeutet aber nicht, dass die Aufständischen auf den Süden beschränkt bleiben müssen. Die Bezeichnung "Taliban" ist irreführend, weil sie suggeriert, es handele sich allein um religiöse Eiferer. In Wirklichkeit bilden die Aufständischen ein Gemisch aus Taliban der alten Schule, die von Mullah Omar geführt werden, aus Anhängern von Kriegsherrn wie Gulbuddin Hekmatyar, Stämmen, die aus den unterschiedlichsten Gründen zur Zentralregierung in Opposition stehen, und kriminellen Banden und Drogenhändlern. Ihre Fußsoldaten sind meist bitterarme, enttäuschte Männer, die sich als Kämpfer anheuern lassen, da sich die mit dem Sturz der Taliban erhofften Verbesserungen nicht einstellen. Die Zeit ist verstrichen, ohne dass der Aufbau energisch genug vorangetrieben worden wäre.
Zu dem Anschlag auf die Bundeswehrsoldaten in Kundus haben sich die religiös motivierten Taliban bekannt, aber es müssen nicht immer die Gefolgsleute von Mullah Omar sein, die morden. Im März wurde ein Mitarbeiter der Welthungerhilfe in dem bis dahin als sicher geltenden Ort Saripul im Norden getötet. Vieles deutet darauf hin, dass lokale Banden verantwortlich waren. Ähnliche Täter werden auch hinter der Ermordung eines einheimischen Mitarbeiters der deutschen Hilfsorganisation sowie bei der Erschießung von zwei Mitarbeitern der Deutschen Welle im Oktober vergangenen Jahres vermutet. Viele lokale Auseinandersetzungen und Übergriffe auf Zivilisten werden in den Medien erst gar nicht gemeldet.
Seit zwei Jahren findet in Afghanistan eine Erosion der Sicherheitssituation statt, von der nur wenige Regionen ausgenommen sind. Das alte Dilemma besteht weiterhin. Nur eine Verbesserung der Lebensbedingungen kann den Trend stoppen. Die Lebensbedingungen können aber nur verbessert werden, wenn dafür die entsprechende Sicherheit existiert.
Ein Abzug der deutschen Soldaten würde dieses Dilemma nicht lösen, sondern die Lage nur noch dramatisch verschlechtern. Eine solche Entscheidung hätte zudem über Afghanistan hinaus weitreichende Konsequenzen. Afghanistan würde in den Bürgerkrieg zurückfallen, terroristische Organisationen hätten die Operationsbasis zurückgewonnen, die ihnen mit der US-Intervention nach den Anschlägen vom 11. September genommen werden sollte. Die psychologische Bedeutung wäre für Gruppen wie Al-Quaida immens. Man hätte die verhassten "Besatzer" besiegt und demonstriert, dass man einen asymmetrischen Krieg für sich entscheiden kann. Dies würde ihren Gesinnungsgenossen im Irak und anderswo einen gehörigen Aufschwung verleihen. Akut gefährdet wäre das nuklear bewaffnete Pakistan, wo Islamisten aufgrund der Schwäche der Musharaf-Regierung an Einfluss gewinnen.
Mit Durchhaltewillen allein wird man den Sieg der Dschihadisten allerdings nicht abwenden können. Bislang hat die Nato die Stellung halten können, aber die Zeit läuft gegen sie. Die Aufständischen sind auf einen jahrelangen Krieg eingestellt und setzten darauf, die ausländischen Truppen zu zermürben. Militärisch sind die Taliban kaum zu besiegen. Sie können allenfalls eingedämmt und ihnen langfristig die Unterstützung entzogen werden. Operative Fehler führen aber dazu, dass die Nato-Truppen zwar eine wachsende Zahl von Kämpfern töten, gleichzeitig aber immer mehr Sympathien in der Bevölkerung verlieren.
Die USA halten zudem daran fest, mit der Zerstörung der Opiumfelder den Drogenanbau unterbinden zu wollen, ohne den Bauern eine Alternative anbieten zu können, wie sie anderweitig ihren Lebensunterhalt verdienen sollen. Es wird geschätzt, dass etwa drei Millionen Afghanen auf den Mohnfeldern arbeiten.
Ein Umdenken ist notwendig. Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung hat bereits seine Bedenken gegen die amerikanische Taktik der Luftangriffe und die damit verbundene hohe Zahl ziviler Toter angemeldet. In Washington ist er damit bisher nicht auf offene Ohren gestoßen. US-Präsident George W. Bush hält daran fest, dass die Taliban aggressiv bekämpft werden müssen. Erneut forderte er bei einem Treffen mit Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer in der vergangenen Woche ein stärkeres Engagement der europäischen Truppen im "Krieg gegen den Terror".
Wenig war nach dem Treffen über neue Ideen zu der zivilen Komponente des Nato-Einsatzes zu erfahren. Die notwendige Debatte über Strategien beim Aufbau Afghanistans wird immer wieder von Kontroversen um die militärischen Aspekte überdeckt.
Im Februar dieses Jahres veröffentlichte das Center for Strategic and International Studies in Washington eine der gründlichsten Studien, in der Bilanz gezogen wird, was beim Wiederaufbau in Afghanistan bislang erreicht wurde. Das Ergebnis ist nicht sehr ermutigend. Danach verlieren immer mehr Afghanen wegen der zunehmenden Gewalt das Vertrauen in ihre Regierung. Die Erwartungen der Bevölkerung werden nicht erfüllt und bis auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Situation der Frauen hat sich die Lage in allen Bereichen verschlechtert. Damit verliert auch die Politik der ausländischen Helfer beim Wiederaufbau immer mehr an Unterstützung.