Die offizielle Kulturpolitik der DDR hatte es nicht leicht mit der Gruppe 47. Es lag am ideologischen Misstrauen der Kommunisten, dass sie Mühe hatten, sich einen Reim auf die merkwürdigen Umtriebe der Literaten zu machen. Die trafen sich zweimal, kurz hintereinander, im September und im November 1947 in Privathäusern im Allgäu oder um Ulm herum, besprachen publizistische Pläne und lasen einander Texte vor. Im nächsten Jahr und im Jahr darauf kamen sie wieder zusammen, und als es längst zwei deutsche Staaten gab, bestand die Institution, die keine sein wollte, immer noch. Die Freunde fanden sich schließlich auch auf Burgen und Schlössern oder gelegentlich im Ausland wieder, in Schweden oder in Princeton, USA, dann schon unter gesteigerter öffentlicher Aufmerksamkeit. Über die Jahre veränderte sich die Zusammensetzung des ungewöhnlichen Kreises, dessen Dynamik mit Fluktuation zu tun hatte; ohne Einladung kein Zutritt. Manche wollten nicht wiederkommen, andere waren unerwünscht. Schnell war aufgezählt, was die Gruppe nicht war: Verband, Verein, Gesellschaft, Club, Versammlung von Lobbyisten, Zirkel Gleichgesinnter. Daraus folgte, dass es keine Mitgliedschaften gab, also auch keine Mitgliederlisten.
Dass sich eine intellektuelle Gruppierung bildete, die ohne ein ästhetisches oder politisches Manifest auskam, war literarhistorisch ein Unikat und musste die SED irritieren, eine "Partei neuen Typs", für die innere Disziplin, ein politbürokratischer Apparat und straffe Organisation selbstverständlich waren. Um die volle Mitgliedschaft im Schriftstellerverband zu erreichen, mussten die Anwärter eine Kandidatenzeit durchlaufen und zwei Bürgen beibringen. Trotz aller Erfahrungen mit dem anarchistischen Künstlervölkchen und den diversen sezessionistischen Richtungen in der Weimarer Republik hielten die SED-Ideologen die Gruppe 47 für dubios und partiell auch für gefährlich. Der Wachsamkeitsmythos nährte stets Verschwörungstheorien. So wurden auch bei der Gruppe 47 nicht nur die Hintergründe, sondern auch Hintermänner gesucht.
Nicht einmal der am Anfang stehende Konflikt mit den Amerikanern konnte propagandistisch genutzt werden. Die Militärregierung hatte die Zeitschrift "Der Ruf" verboten und ließ in Aussicht genommene Nachfolgeprojekte nicht zu. Der harte Kern der nachmaligen Gruppe 47 bestand aus den frustrierten Gründern jener Zeitschrift der "jungen Generation", deren erste Erfahrung nach der NS-Diktatur auf Einschränkung der wiedergewonnenen Freiheit hinauslief. Da die vier Besatzungsmächte gemeinsam jede Kritik an ihrer Politik in Nachkriegsdeutschland untersagt hatten, konnte "der Osten" nicht höhnisch auf die amerikanische Repression reagieren. Zudem hegten die Leute vom "Ruf" weder rational noch gefühlsmäßig irgendwelche Sympathien für die kommunistische Alternative. So entstand die Konzeption eines "dritten Weges". In einer ersten Rückschau schrieb Hans Werner Richter über sich und seine Gefährten: "Ihre Kritik an der Kollektivschuldthese, der Umerziehungs- und Entnazifizierungspolitik der amerikanischen Militärregierung einerseits und den sozialistischen Praktiken des dogmatischen Marxismus der russischen Militärregierung andererseits setzte sie zwischen alle Stühle." 1
Die SED-Propaganda unterstellte in den 1950er Jahren gern, dieser besonders raffinierte Antikommunismus werde aus undurchsichtigen Quellen gespeist. Wer in den so genannten Kämpfen der Zeit allerorten Verschwörungen vermutet und in der eigenen Partei nach vom Klassenfeind gekauften Kreaturen fahndet, mag es normal finden, die Gruppe 47 für eine Agentur des amerikanischen Imperialismus zu halten. Richter geriet unter Generalverdacht. So war über ihn im Februar 1954 in der Zeitschrift des Schriftstellerverbands zu lesen: "Er kam in amerikanische Gefangenschaft und wurde 1946 aus den USA nach Deutschland entlassen (als das Gros der in USA-Gefangenschaft geratenen Soldaten an Frankreich, Belgien, Holland und England meistbietend verkauft wurde). Hans Werner Richter jedenfalls war 1946 schon wieder in Deutschland, gründete hier 1947 die Gruppe 47' und gab mit Alfred Andersch die Zeitschrift Der Ruf' heraus, die auch im Inhalt merkwürdige Ähnlichkeit mit der gleichnamigen Zeitschrift Der Ruf' hatte, mit der die deutschen Kriegsgefangenen in den USA für die westliche Demokratie begeistert werden sollten." 2
Das hieß im Klartext: Die Amerikaner haben Richter "gekauft" und vorzeitig entlassen, damit er in ihrer Zone in ihrem Sinne tätig wird. Der Jargon der Verdächtigung impliziert, dass der Konflikt mit den Militärbehörden, über den hier freilich kein Wort fällt, ein abgekartetes Spiel gewesen sein muss, um Richters Glaubwürdigkeit bei den suchenden jungen Intellektuellen zu erhöhen. Hier wurde offensichtlich in Analogie zu den Umerziehungslagern in der Sowjetunion gedacht, in denen die Grundlagen für Heimkehrerkarrieren in der SBZ gelegt wurden. Zu der Legende vom Agenten Richter passt, was Fritz J. Raddatz in seinen Erinnerungen notiert. Als neugieriger Lektor im Ost-Berliner Verlag "Volk und Welt" war er 1955 - ohne Einladung - einfach hingegangen, als die Gruppe in West-Berlin am Wannsee tagte: "Meine Stasi-Akte vermerkt mit äußerstem Misstrauen, Raddatz habe Kontakt zu der von Hans Werner Richter und dem amerikanischen Geheimdienst gesteuerten Gruppe 47." 3
Richter war für die DDR eine lästige Reizfigur, einflussreich, anerkannt, beliebt - und ein entschiedener Antikommunist. Die für ihn selbstverständliche Überzeugung musste nicht militant aktionistisch vorgezeigt werden. Er war kein Mann des Kalten Krieges und konnte dennoch nicht von der kommunistischen Seite als Sympathisant im großen Friedensbündnis vereinnahmt werden. Die Opposition gegen die restaurativen Tendenzen im "Adenauer-Staat" wurden als folgenloses Räsonnement betrachtet, weil die Verbindung mit den wahrhaft revolutionären Kräften fehlte. So konnte die DDR nicht einmal eine andere absurde Verschwörungstheorie optimal nutzen, die von rechts in die Welt gesetzt wurde: die Behauptung eines westdeutschen Provinzpolitikers nämlich, die Gruppe 47 sei eine "geheime Reichsschrifttumskammer".
Der SED-Apparat hielt sich an die Kaderakte. Als junger Mann war Richter der KPD beigetreten, wurde jedoch im November 1932, kurz vor dem Untergang der Weimarer Republik, wegen angeblicher trotzkistischer Verfehlungen ausgeschlossen. Geboren wurde er in Bansin auf Usedom, als Sohn eines Fischers und Gelegenheitsarbeiters, also im nachmaligen Ostseebezirk der DDR. Weder die proletarische Herkunft noch die Heimatverbundenheit konnten den nüchternen Mann zu Zugeständnissen veranlassen. Nachdem ihn frühe Erfahrungen immunisiert hatten, blieb er der Einzelgänger mit Gruppe im Hintergrund, zumal ihn seine Verwandten in Bansin über die reale DDR auf dem Laufenden hielten. Da Richters Autorität innerhalb der Gruppe unumstritten blieb, bestimmte er auch, wie mit der DDR und ihren Autoren umzugehen sei. Richter war Gastgeber und Einlader. Viele haben beschrieben, wie er agierte: lässig und streng, sanft und entschieden, autoritär und familiär, stets geschickt, also zurückhaltend und nur dann energisch, wenn es darauf ankam. Sogar Hans Mayer, der neben sich wenige als gleichrangig duldete, nannte ihn "unseren Chef".
Dass nie gegen ihn geputscht wurde, lag wohl auch daran, dass ihn keiner als literarisch bedeutsame Konkurrenz empfand. Richter im Rückblick: "Der Ursprung der Gruppe 47 ist politisch-publizistischer Natur. Nicht Literaten schufen sie, sondern politisch engagierte Publizisten mit literarischen Ambitionen. Ihre Absicht ist nur aus dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und aus der Atmosphäre der ersten Nachkriegsjahre zu erklären." 4 Abgedrängt in die Belletristik, schrieb auch er Romane. "Sie fielen aus Gottes Hand" wurde in der DDR-Zeitschrift "Neue deutsche Literatur" als kosmopolitisches Machwerk, als literarischer "Rechtfertigungsversuch des Imperialismus" attackiert. Der Antifaschismus sei nur oberflächlich aufgetragen, das Ziel Richters sei Antisowjethetze: "Es ist widerlich, zu sehen, wie Richter im Hinblick auf die Sowjetunion die sonst mühsam gewahrte Maske des Biedermanns, der sich um Objektivität' bemüht, fallen lässt, um die Sowjetunion und ihren heldenhaften und siegreichen Kampf gegen den Faschismus in den Dreck zu zerren." 5
Trotz der ideologischen Distanzierung von der Gruppe und ihrem führenden Mann interessierte sich die DDR-Kulturpolitik für die Autoren. Die SED hielt bis zum Mauerbau im August 1961 am Ziel der deutschen Einheit fest. Die Losung "Deutsche an einen Tisch" schloss auch die Schriftsteller ein. Die in Westdeutschland erscheinende Belletristik wurde in den Kulturzeitschriften rezensiert. Dafür gibt das Februar-Heft 1954 der "Neuen deutschen Literatur", aus dem die scharfe Kritik an Richter stammt, ein gutes Beispiel ab. Trotz der Festlegung der eigenen Autoren auf den "sozialistischen Realismus" sollte von einer Spaltung der Literatur nicht die Rede sein. Das Heft enthielt Texte von Hans Henny Jahnn, Hans Erich Nossack und eine längere Passage aus Wolfgang Koeppens Roman "Das Treibhaus". Die Einleitung geht völlig konform mit der gegen die Gruppe 47 vorgebrachten Kritik: "Das Buch ist voller Widersprüche und Inkonsequenzen. Scharfsinnige Beobachtung mancher Details mischt sich mit völliger Blindheit gegenüber größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen." 6 Zugleich wird in dem Heft die Aufsatzreihe "Was liest Westdeutschland?" mit dem Grundsatzartikel "Das Menschliche eint uns" abgeschlossen. Das "Nur-Moralische", das sich auf die private Sphäre beschränke und im Gesellschaftlichen abdanke, "läuft Gefahr, ins Philisterium umzuschlagen oder sich schließlich bewusst als Deckmantel für die unmoralischste aller Haltungen, die der Kriegstreiber, benutzen zu lassen". 7
Die offizielle DDR konnte nicht hoffen, die Gruppe für eigene Zwecke ausnutzen zu können. Richter wiederum hatte keine Lust, eine Tribüne für lästige Konfrontationen aufzubauen, denn dann musste die Literatur, wie er sie verstand, auf der Strecke bleiben. Er sympathisierte nicht mit den Gleichaltrigen, die in der Ostzone unter sowjetischem, marxistisch-leninistischem Einfluss den falschen Glauben durch den richtigen ersetzten. Sie nannten ihn "wissenschaftliche Weltanschauung" und wollten durch Identifizierung mit der "Wahrheit" einer vermeintlich guten Diktatur, die eigentlich erst echte Demokratie, nämlich Volksherrschaft sei, die auf nationalsozialistischer Verführung beruhende moralische Schuld selbstkritisch auslöschen. Der mühsame Weg der allmählichen Desillusionierung, den sie sich damit auferlegten, wurde häufig dokumentiert, auch von den Betroffenen, etwa von Christa Wolf, Franz Fühmann oder Günter de Bruyn. Richter beschrieb die Befindlichkeit der Erfahrungsgemeinschaft, der er und seine Freunde angehörten, völlig anders: "Die Abneigung dieser Generation gegen jeden Zwang, gegen jede Organisation, gegen Parteien, Vereine und gegen dogmatische Weltanschauungen, ja, gegen jede Form des normativen Kollektivs mit Generallinie, Fahne und Programm war unter dem Druck des Dritten Reiches und auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges zu einer unüberwindlichen Angst geworden. Sie, die Angehörigen dieser Generation, wollten ihre individuelle Freiheit nicht noch einmal verlieren." 8
Die Individualisten, deren Uhr scheinbar auf eine "Stunde Null" justiert war, mussten eine weite Wegstrecke zurücklegen, um die Furcht vorm Mitmachen zu verlieren und sich politisch zu engagieren, was für Einzelne in Unterstützung für Willy Brandt mündete. Das fruchtlose Politisieren zumal zwischen Ost und West hätte jedoch zerstört, was den Mythos der losen Vereinigung ausmachte. Deswegen gewährte Richter den in der DDR wohnhaften Autoren keine Sonderrechte. Auch sie lud er zum Vorlesen nur "privat" ein, nach eigenem Gusto, ohne Absprache mit offiziellen Instanzen.
Der Erste, der kam, war Peter Huchel. Sein Auftritt bei der Oktobertagung 1954 auf Burg Rothenfels stand unter keinem guten Stern. Der Lyriker geriet in die westöstliche Kampfzone, weil er sich für das öffentliche Wirken in der DDR entschieden hatte und als Chefredakteur der Zeitschrift "Sinn und Form" - trotz aller Differenzen mit der SED - einen Gegenpol zur "freischwebenden", eher spielerischen Mentalität in der Gruppe 47 bildete. Huchel geriet nachts, außerhalb des offiziellen Programms, ausgerechnet mit seinem alten Freund Günter Eich in einen heftigen politischen Streit, den die verstörten oder belustigten Zeugen unterschiedlich, aber in der Hauptsache glaubhaft beschreiben. Huchel wurde von Heinz Friedrich das Verharren in "starrer östlicher Meinungskonformität" vorgehalten. Nach Auskunft von Toni Richter, der Frau des Organisators, die die Tagungen fotografisch dokumentierte, soll Horst Mönnich als Augenzeuge des Krawalls in der holzgetäfelten Burgstube die gespenstische Szene entgeistert kommentiert haben: "Der sonst unpolitisch scheinende Eich ging vor dem Tisch erregt auf und ab und redete fast hysterisch auf Huchel ein, von Freiheit, Demokratie und Menschenwürde, und jener verteidigte den real existierenden Sozialismus, der ihm die Lösung aller Probleme dieser Welt zu verkörpern schien, dabei streckte er am Tisch sitzend seinen Arm in leninscher Manier aus." 9Die Streithähne seien betrunken gewesen, heißt es.
Tief enttäuscht kehrte Huchel nach Potsdam-Wilhelmshorst zurück und nahm zunächst keine weitere Einladung an. 10 Er äußerte sich gegenüber dem sowjetischen Kritiker Ilja Fradkin sehr reserviert: "Eine Erscheinung wie Hans Werner Richter wird von manchen Schriftstellern der DDR, in politischer Hinsicht, als recht zwiespältig empfunden." 11 Nachdem Huchel 1962 bei der SED-Führung endgültig in Ungnade gefallen war, wäre er gern wieder zur Gruppe gestoßen. Richter lud ihn zur Wannsee-Tagung (25. bis 28. Oktober 1962) erst am 19. Oktober ein. Für die Usancen der DDR-Bürokratie war das zu spät. Am 8. Februar 1963 schrieb Huchel an Walter Jens: "Schliesslich gehörte ich nicht zu denen, die für würdig befunden wurden, auf der Gruppe 47 zu erscheinen." 12 Das richtete sich gegen die DDR-Behörden, aber Huchel ärgerte sich auch darüber, dass Richter nicht energischer vorging. Nachdem Huchel isoliert war und nicht mehr reisen durfte, erhielt er stets Einladungen der Gruppe 47, auch 1964 nach Schweden. Am 3. September 1964 schrieb er an den alten Freund Eich, mit dem er sich versöhnt hatte: "Es wird wohl für immer bei nicht geführten Gesprächen' bleiben. Denn in Stockholm, worauf ich so sehr hoffte, werden wir uns nicht sehen. Seit drei Jahren Reiseverbot und anderes mehr; es ist absurd, brutal und skandalös, doch für diese Eisenkette am Fuss gibt es keinen Schlüssel und keine Feile." 13
Dem zweiten Gast aus der DDR erging es sehr viel besser. Auf der Tagung im Aschaffenburger Rathaus las er 1960 erfolgreich Gedichte, woraufhin er im Oktober 1962 zur Versammlung im "Alten Casino" am Wannsee erneut geladen wurde. Da gab es schon die Berliner Mauer, und es war nicht einfacher geworden, Westkontakte zu pflegen. Aber Johannes Bobrowski, ein fröhliches Naturell ohne Berührungsängste, erhielt nun sogar den Preis der Gruppe 47. Er blieb der einzige DDR-Bürger, dem diese Ehre zuteil wurde. Bei der Verkündung der Wahl - Peter Weiss hatte knapp verloren - war Bobrowski nicht mehr da, weil er nur ein Tagesvisum hatte, das um Mitternacht ablief. Klaus Wagenbach, der Verleger und Kritiker, fuhr ihm mit ein paar Freunden hinterher, um die gute Nachricht zu überbringen, denn außer der Ehre gab es auch - von Verlegern gespendete - 7 000 Westmark. Bobrowski gehörte der Ost-CDU an und bekleidete in der einflusslosen Blockpartei unbedeutende Funktionen, er war zudem Lektor des parteieigenen belletristischen Verlages. Der Preis stärkte seine Reputation. Zur nächsten Tagung ließ man den Außenseiter dennoch nicht fahren. Sein früher Tod am 2. September 1965 lässt alle Spekulationen über seinen späteren Lebensweg hinfällig werden.
Der prominenteste und wirkungsstärkste Gast aus der DDR, der neben Joachim Kaiser, Walter Jens und später auch Reich-Ranicki die kritische Zunft vertrat, war der Leipziger Germanist Hans Mayer. Von 1958 an nahm er regelmäßig teil, und seine druckreif vorgetragenen Interventionen gehörten zu den Glanzpunkten. Niemand stellte die Frage, wo dieser Mayer eigentlich amtierte, in Ost oder West. Nach dem Mauerbau stieß auch der vielbewunderte "Hans Dampf in allen Gassen" auf schwer überwindbare Hindernisse. Am 24. Oktober 1961 dankte er Richter für die übliche Einladung: "Leider werde ich nicht kommen können. Es wäre schon mehr als fraglich, ob ich von hier aus die Reisegenehmigung erhalten würde, aber ich habe gar nicht die Absicht, sie zu beantragen. Die Gruppe 47 in Ehren: aber wenn sehr dringende Familienangelegenheiten auch nicht zu Reisebewilligungen führen, möchte ich für mich keine Ausnahmeregelung beanspruchen." 14
1963 siedelte er in die Bundesrepublik über. Als im Jahr zuvor sein Beitrag "In Raum und Zeit" erschien, lehrte er noch im Leipziger "Hörsaal 40". Nach einigen literarhistorischen Exkursen betont er, wie sehr sich die Gruppe von der geistigen Konstellation der Gründungsära gelöst habe. Das Programm der ideologischen Askese sei selber - so die dialektische These - ein ideologisches Programm gewesen. Die geschichtliche Evolution sei darüber hinweggegangen. "Dies ist längst nicht mehr eine Gemeinsamkeit von Kriegsteilnehmern mit Neigung zur ideologischen Askese und einem Bekenntnis zum ästhetischen Pluralismus." 15 In der Absicht, "zu Hause" gute Stimmung für die beargwöhnten westdeutschen Literaten zu machen, betont er die Aufmerksamkeit, die die Gruppe in Osteuropa, vor allem in Polen und Ungarn, aber auch in der Sowjetunion finde. Später billigte er Richters abwehrende Haltung gegenüber offiziellen Avancen aus der DDR. Der "Chef" hatte keine Illusionen über die Chancen deutsch-deutscher Diskussionen im Rahmen der Gruppentagungen. Das zeigten schon manche Begleitumstände während der West-Berliner Treffen. So gab es im Mai 1955 in einem Weinlokal "nebenbei" unter dem Motto "Deutsche an einem Tisch" die erwartbare Streiterei, über die Toni Richter anekdotisch berichtete: "Stephan Hermlin und Bodo Uhse einerseits und einige 47er andererseits. Das Gespräch scheiterte, und als Ilse Aichinger versehentlich Hermlin unter dem Tisch anstiess, meinte er spontan: Deutsche unter einem Tisch', sonst blieb es bei Schlagworten." 16
In den 1960er Jahren verstärkten die DDR-Behörden ihre Versuche, auf die Einladungspraxis Einfluss zu nehmen. Einladungen zur Tagung in Saulgau Ende Oktober 1963 an Bobrowski, Manfred Bieler, Christa Reinig und andere hatten die Empfänger nicht erreicht und waren wohl abgefangen worden. Stattdessen erhielt Richter mit dem Absendedatum 8. Oktober 1963 ein offizielles Schreiben des 1. Sekretärs des Schriftstellerverbands Hans Koch mit dem Vorschlag, dass der Verband zu der Tagung "eine Delegation seiner Mitglieder unter Leitung von Johannes Bobrowski" sende. Richter reagierte sogleich mit unverklausulierter Ablehnung: "Es gehört zu den Prinzipien der Gruppe, dass keine Delegationen geladen werden (...), da ich Weiterungen befürchten muss, die den privaten Charakter der Gruppe zerstören könnten." 17
Im Vorfeld der im schwedischen Sigtuna ein Jahr später stattfindenden Tagung wiederholten sich diese Schwierigkeiten. Im März 1964 trafen sich Autoren beider Seiten in West-Berlin zu einem Vorgespräch, dessen öffentlicher Teil schließlich wie abgesprochen in dem gemeinsam vom Sender Freies Berlin und vom Norddeutschen Rundfunk gestalteten Radiokulturprogramm gesendet wurde. 18 Es blieb dabei: Schriftsteller, die zugleich einflussreiche Kulturfunktionäre waren, drängten darauf, die begehrte Einladung zu bekommen. Richter verharrte unbeirrt auf seiner Position und schrieb am 12. Juni 1964 an Enzensberger: "Das Kreuz ist die DDR. Ich kann einfach nicht Hinz und Kunz von dort einladen, ich meine Wiens und Kant und Konsorten." 19
Im Zeichen des Prager Frühlings kam 1968 der Plan ins realistische Kalkül, einer schon Jahre zuvor von dem Germanisten Eduard Goldstücker erwogenen Idee zu folgen: Auf Schloss Dobris bei Prag sollte es ein gemeinsames Treffen geben. Der als Vermittler in Aussicht genommene Hermlin zeigte sich skeptisch. Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968 ließ die für den Oktober in Aussicht genommene Tagung platzen. (Unter völlig veränderten Bedingungen wurde sie im Mai 1990 nachgeholt, als definitiv letztes Treffen.)
Tagungen im westlichen Ausland waren für die DDR wohl auch deshalb heikel, weil dort gesamtdeutsche Illusionen genährt worden wären. Dass man sich bei der West-Berliner Tagung im Spätherbst 1965 großzügiger zeigte als sonst, hatte auch kulturpolitische Gründe. Wie üblich wurde jedoch auch diesmal das Prinzip des "teile und herrsche" angewandt. Richter hatte eine größere Zahl von DDR-Autoren ins Literarische Colloquium an den Wannsee eingeladen. Manfred Bieler, Peter Huchel und Wolf Biermann wurde die kurze Reise verwehrt. Kommen durften Karl Mickel, Rolf Schneider, Bernd Jentzsch, Friedemann Berger und Günter Kunert, der Jahrzehnte später von seinen damaligen Eindrücken berichtet hat. 20
Wenige Wochen später hätten die DDR-Behörden diese West-Auftritte schon nicht mehr zugestanden, da das berüchtigte 11. Plenum des SED-Zentralkomitees im Dezember 1965 ideologische Aufweichungstendenzen in Literaten- und Künstlerkreisen scharf anprangerte. Bereits 1963 hatte das "Neue Deutschland" eine Rede veröffentlicht, die Kurt Hager auf einer "Beratung" des Politbüros mit Kulturschaffenden gehalten hatte. Darin kritisierte er ein Treffen ost- und westdeutscher Autoren, das, von Richter initiiert, in der Evangelischen Akademie in Ost-Berlin veranstaltet worden war. Dort "fand sozusagen ein trautes tete à tete' der bürgerlichen und sozialistischen Ideologie statt (...): Die Schriftsteller der DDR befleißigten sich, beide Ideologien, konkret etwa Brecht und Dürrenmatt, gleichberechtigt nebeneinander bestehen zu lassen". Westdeutschen Kreisen sei Gelegenheit gegeben worden, "auf diese Weise bei uns Einfluss zu erlangen". 21 Hagers Polemik galt Mayer, der den Vortrag über Brecht und Dürrenmatt gehalten hatte. In Leipzig wurde daraufhin der Kampf gegen Mayer verschärft. 22
In der Folgezeit wurden die alten Festlegungen gegen die Illusionen eines "dritten Weges" aggressiv wiederholt. Unter Bezugnahme auf die Gruppe 47 betonte der Kulturpolitiker Alexander Abusch im März 1966, wie gefährlich und unzumutbar die aus dem Westen kommenden Einladungen von angeblich unabhängiger Seite seien: "Einzelne Vertreter der Literatur unserer Republik, bei Diffamierung und Boykott vieler ihrer sozialistisch-realistischen Repräsentanten, sollen in ein Anhängsel westdeutscher Gruppen verwandelt werden." 23 Die zurückgesetzten Parteidichter, die nicht auf internationale Anerkennung und damit auch nicht auf Westgeld hoffen konnten, durften ihren Ärger in plumper Direktheit formulieren. Für Dieter Noll galt der nun im Westen lebende Hans Mayer als gefährlicher Strippenzieher zwischen Ost und West: "Machen wir uns nichts vor. Wir waren im Begriff, uns ganz schön unterwandern zu lassen. (...) Der Theoretiker und Playboy der Gruppe 47, Hans Mayer, ehe er dem Lockruf des Lastenausgleichs folgte, hat lange Zeit in unseren Reihen Qualitätsbegriffe verbreitet, die er auch nicht einen Deut zu ändern brauchte, nachdem er sich jenem von der Ford-Foundation finanzierten Literatenklub zur Verfügung gestellt hatte." 24
Mayer rechtfertigte Richters Distanz zur DDR auch politisch. Bei einem Vortrag in der Deutschen Staatsoper Berlin meinte er am 11. November 1990: "Eine Einladung etwa Bechers zu einer Tagung der Gruppe hätte mit Notwendigkeit das produziert, was Richter bei seinen Zusammenkünften am meisten verhindern wollte: ideologisches Gerede anstelle sachlicher, auf Einzelheiten des Textes eingehender Erörterung einer literarischen Schöpfung." 25 Diese Argumentation lässt sich lesen als vorweggenommene Zurückweisung eines politischen Vorwurfs, den Fritz J. Raddatz nach Mayers Tod so formulierte: "Wenn es ein nahezu historisches Versagen der Gruppe 47 gab, dann war es - einhergehend mit fast vollständigem Theoriedefizit - das Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen der anderen Hälfte Deutschlands. (...) Konsequenterweise wurde so gut wie nie ein DDR-Autor eingeladen. (...) Der Gestus der Gruppe 47 war nonkonformistisch wie die von ihren Autoren produzierte Literatur. Ihr (Nicht-)Verhalten gegenüber den Kollegen im anderen Deutschland war konformistisch." 26 Die Attacke garnierte Raddatz mit der rhetorischen Frage: "Wenn anfangs Celan - warum dann nicht Peter Huchel?" Dabei gehört Huchels Auftritt 1954 zu den Fakten, die in jeder Darstellung der Gruppe referiert und kommentiert werden. Aber auch die Grundthese vom historischen Versagen gegenüber den Ost-Kollegen hat wenig Überzeugungskraft.
Es ist müßig, den Nuancierungen in DDR-Publikationen nachzuspüren. 27 Auch als sich die SED nicht mehr in der direkten Auseinandersetzung mit einer real existierenden Gruppe befand, gab es keine Korrektur an der prinzipiell negativen gesellschaftlichen Bewertung. Doch kam es zu mancher Versachlichung, etwa in der 1983 unter Federführung des Rostocker Germanisten Hans Joachim Bernhard erschienenen Darstellung der "BRD-Literatur". Dieser Band schloss die groß angelegte "Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart" ab. In den 1960er Jahren hatte derselbe Verlag, der dieses Großvorhaben realisierte, "Volk und Wissen", versucht, die Rezeption der im Fokus der Gruppe 47 entstandenen Literatur zu entkrampfen, in einer Zeit, als das noch riskant war. Leider fiel die Fertigstellung des innerhalb der Reihe "Schriftsteller der Gegenwart" konzipierten und für den Schulgebrauch bestimmten Bandes in die Krisenzeit des 11. Plenums.
Auf 250 Seiten hatte Gerhard Dahne einen Überblick über "Westdeutsche Prosa 1945 - 1965" geboten, welcher durch einen 100-seitigen Beitrag Karl Heinz Bergers über Heinrich Böll ergänzt wurde. Das Bemühen, den Band 1967 noch an die Leser zu bringen, scheiterte; die Auslieferung wurde gestoppt. Ausführliche Kapitel mit damals gewagten Überschriften galten Günter Grass ("Blechtrommler aus Danzig") und Uwe Johnson ("Mutmaßungen über Deutschland"). Dahne gab auch die Inhalte der in der DDR spielenden Romane Johnsons, "Mutmaßungen über Jakob" und "Das dritte Buch über Achim" ausführlich wieder. Er beschränkte sich auf die knappe Wiedergabe der unumgänglichen offiziellen Sprachregelungen wie "objektiv antikommunistisch". Auch die Kritik an der Gruppe 47 reduzierte er auf den ideologisch unverzichtbaren Vorwurf, dass der westdeutsche Imperialismus ohne revolutionäre Partei und Weltanschauung nicht unter Kontrolle zu bringen sei.
Als Beispiel der parteioffiziellen Kritik - noch in der historisierenden Rückschau - sei Ursula Reinhold zitiert, eine in der vom ZK der SED angeleiteten Akademie für Gesellschaftswissenschaften wirkende Spezialistin für "BRD-Literatur". Noch 1976, fast ein Jahrzehnt nach der letzten "echten" Arbeitstagung der Gruppe 47, schrieb sie: "Überblickt man die öffentliche Kritik und Resonanz, die die Gruppentagungen über zwanzig Jahre fanden, so lässt sich kaum eine literarische Mode benennen, der nicht der eine oder andere Text entsprach: surrealistisch, symbolistisch, impressionistisch usw. Selten nur war die weltanschaulich-ästhetische Auseinandersetzung mit den wirklichen gesellschaftlichen Problemen Maßstab für die literarische Kritik. (...) Die relative Stabilität der wirtschaftlichen Entwicklung bis in die sechziger Jahre hinein, die zeitweilige Schwäche der Arbeiterbewegung und die mangelnde Kampfkraft der Arbeiterklasse machten es den Ideologen der herrschenden Klasse möglich, Fiktionen von der klassenfreien Wohlstandsgesellschaft tief im öffentlichen Bewußtsein zu verankern und verführte viele Schriftsteller zu einer snobistischen Haltung gegenüber der Arbeiterklasse und zu Mißtrauen in deren umgestaltende Kraft." 28
1 Hans Werner
Richter, Fünfzehn Jahre, in: Almanach der Gruppe 47, Reinbek
1962, S. 13.
2 Alfred Antkowiak, Apologie der EVG,
in: Neue deutsche Literatur (NDL), 2 (1954) 2, S. 150.
3 Fritz J. Raddatz, Unruhestifter.
Erinnerungen, Berlin 2005, S. 364.
4 H. W. Richter (Anm. 1), S. 8.
5 A. Antkowiak (Anm. 2), S. 152.
6 Anonym, in: NDL (Anm. 2), S. 76.
7 Werner Ilberg, Das Menschliche eint
uns, in NDL (Anm. 2), S. 115.
8 H. W. Richter (Anm. 1), S. 10.
9 Toni Richter, Die Gruppe 47 in Bildern
und Texten, Köln 1997, S. 64.
10 Als Hans Mayer ihm 1958 von Richters
Einladung erzählte, reagierte Huchel verärgert mit dem
vergeblichen Wunsch: "Da wirst du doch hoffentlich nicht hingehen."
Zit. in: Hans Mayer, Wendezeiten, Frankfurt/M. 1993, S. 373.
11 Peter Huchel, Wie soll man da
Gedichte schreiben. Briefe, hrsg. von Hub Nijssen, Frankfurt/M.
2000.
12 Ebd., S. 388.
13 Ebd., S. 407.
14 Hans Mayer, Briefe 1948 - 1963,
hrsg. u. kommentiert von Mark Lehmstedt, Leipzig 2006, S.
505f.
15 Hans Mayer, In Raum und Zeit, in:
Almanach (Anm. 1), S. 31.
16 T. Richter (Anm. 9), S. 66.
17 Hans Werner Richter, Briefe, hrsg.
von Sabine Cofalla, München-Wien 1997, S. 481.
18 Vgl. Karl Corino (Hrsg.), Die Akte
Kant. IM "Martin", die Stasi und die Literatur in Ost und West,
Reinbek 1995, S. 192ff.
19 H. W. Richter (Anm. 17), S.
500.
20 Vgl. Günter Kunert,
Deutsch-deutsche Begegnung, in: T. Richter (Anm. 9), S. 122.
21 ND vom 30.3. 1963, zit. in: Elimar
Schubbe (Hrsg.), Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik
der SED, Stuttgart 1972, S. 875.
22 Vgl. dazu: Mark Lehmstedt (Hrsg.),
Der Fall Hans Mayer. Dokumente 1956 - 1965, Leipzig 2007, S. 433
und 437 - 445.
23 Alexander Abusch, Der Sinn unserer
Diskussion über Fragen der Kunst und Literatur, in: ND vom
24.3. 1966, zit. in: E. Schubbe (Anm. 22), S. 1189.
24 Sonntag Nr. 46 vom 13.11. 1966,
Sonderbeilage zur Jahreskonferenz des Schriftstellerverbands, S.
25.
25 H. Mayer (Anm. 10), S. 59f. Zu
Richter vgl. ders., Zeitgenossen, Frankfurt/M. 1998, S. 344 -
357.
26 F. J. Raddatz (Anm. 3), S.
368f.
27 Erwähnt seien kritische Essays
in Buchform: Günter Cwojdrak, Eine Prise Polemik, Halle 1968,
bes.S. 63 - 77; Heinz Plavius, Zwischen Protest und Anpassung,
Halle 1970; Kurt Batt, Revolte intern, Leipzig 1974.
28 Ursula Reinhold, Literatur und
Klassenkampf, Berlin 1976, S. 14ff.