Enttäuschungen
Einst gehörte er zu den Führungskadern des Sozialismus - doch seine Ideale konnte er in der stalinistischen DDR nicht verwirklichen
Herr Leonhard, Ihr Klassiker von 1955 "Die Revolution entläßt ihre Kinder" war ein weltweiter Erfolg, im Ostblock aber verboten. Inwiefern war Ihnen vor dem Mauerfall bewusst, wie wichtig dieses Buch für kritische Köpfe im Osten war?
Bis zur Errichtung der Berliner Mauer im August 1961 hatte ich bereits etwa 3.000 Briefe von DDR-Bürgern erhalten. Die Leser fuhren nach Westberlin - was bis 1961 zwar nicht immer leicht, aber doch noch möglich war - und warfen ihren Brief dort in einen Briefkasten, so kam die Post bei mir an.
Ich wusste also ziemlich genau über die Wirkung dieses Buches in der DDR Bescheid und habe auch die Ausgaben unterstützt, die auf illegale Weise in den Osten kamen. Manche Autoren zögerten damals, aber ich habe dem Verlag Kiepenheuer & Witsch sofort zugesagt: Je mehr illegale Ausgaben ihr macht und hinüberschmuggelt, um so besser. Gegenüber einem Regime, dessen Bürger nicht die Bücher lesen konnten, die sie wollten, hatte man nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, alle von der Führung verbotenen Bücher reinzuschmuggeln. Von meinem Buch gab es zehn unterschiedliche Ausgaben, die mit in der DDR üblichen Umschlägen getarnt waren - darunter übrigens eine als Stalin-Biografie!
Nach dem Mauerfall sind Sie dann in ihrem gleichnamigen Buch auf "Spurensuche" (1992) gegangen. Sie haben frühere Mitschüler und persönliche Bekannte aus Moskauer und Ostberliner Tagen besucht, auch Politbüromitglieder. Ist ihr neues Buch "Meine Geschichte der DDR" auch entstanden, um mit dem Abstand von 15 Jahren diese Begegnungen zu bewerten?
Ja, es liegt mir sehr daran, sie zu bewerten. Ich habe die Begegnungen ernst genommen. Einer, der übrigens damals von dieser Idee besonders angetan war, dass ich mit den höchsten Würdenträgern spreche und das festhalte, war Willy Brandt. Er fragte häufig danach, wie meine Gespräche liefen.
Im Großen und Ganzen waren die Funktionäre damals noch sehr aufgeschlossen; unter anderem auch deshalb, weil ich ihnen vollkommen anders begegnete als viele der westlichen Journalisten. Manche von ihnen glaubten nämlich, wenn sie sagen: "Es dauert nur zehn Minuten!", wären hohe SED-Funktionäre leichter zu einem Gespräch bereit. Dabei war "nur zehn Minuten" die schlimmste Beleidigung für ehemalige Funktionäre. Ich habe als Interviewdauer immer zweieinhalb Stunden veranschlagt. Auch war es wichtig, sich niemals in Westberlin zu treffen. Ich habe immer das frühere Kulturhaus des Zentralkomitees in Ostberlin gewählt. Das kannten alle. Ich habe auch nicht gefragt: "Was halten Sie vom Kommunismus?" Oder ähnliches allgemeines Zeug. In Ostberlin, in einem früheren Parteigebäude, konkrete, detaillierte Fragen zu stellen - das war mein Gesprächsstil.
Die Gespräche waren in den ersten Wochen der Wende relativ freimütig und ergiebig, mit jedem Monat aber wurde das schwieriger, bis sie nach der Vereinigung 1990 völlig einschliefen oder nicht mehr in der anfänglichen Art möglich waren.
In ihrer "Geschichte der DDR" schreiben Sie von Ihren Sympathien für die Bürgerbewegung des Herbstes 1989, von Ihrer Hoffnung auf eine Reformierung der DDR. Mit Blick auf die sowjetische Situation sind Sie etwas nüchterner und schreiben, dass dort 1985 bei der Ernennung Gorbatschows die Reformchancen schwierig waren. Sprach mit Blick auf die DDR eher das Herz als der Verstand?
Nein, diese Idee von Herz und Verstand ist wohl etwas westlich-gefühlsmäßig. Nein, es handelte sich darum, dass ich die Schwierigkeiten und Gegenkräfte in der Sowjetunion sehr deutlich erkannte. Bei der DDR dagegen hatte ich relativ lange die Hoffnung auf die Wiederholung eines Prager Frühlings - für mich eines der wichtigsten und positivsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Das, so hoffte ich, könnte auch in der DDR wahr werden. Am Anfang schien es ja so, dass die bis dahin nur wenig bekannten Bürgerrechtler im Herbst 1989 plötzlich zu einer Massenbewegung wurden - und das war für mich das Schönste. Ich wollte eine Demokratisierung, Liberalisierung und Humanisierung des DDR-Systems. Als schrittweise nachher die Vereinigung Deutschlands im Mittelpunkt stand, war das für mich eine Enttäuschung.
Sie sind als "erster Dissident der DDR" bezeichnet worden. Was hat den Unterschied gemacht zwischen Ihnen und anderen, gleichaltrigen SED-Kadern? Was hat Sie kritischer denken lassen?
Zunächst gab es meine Erfahrung in der Kindheit, das war zunächst das Ausschlaggebende. Ich habe in Herrlingen bei Ulm alternative Erziehungsformen kennengelernt. Von allen jungen Deutschen, die ich in der Sowjetunion kannte - Jan Vogeler, Mischa Wolf, Peter Florin, Werner Eberlein - hat das niemand erlebt. Das Landschulheim Herrlingen war neben der Odenwaldschule damals eine der freiesten deutschen Bildungsstätten. Ich war nur neun Monate dort, von Herbst 1932 bis Sommer 1933, aber diese Erfahrungen haben mich geprägt. Es waren Sozialisten, Sozialdemokraten und linksliberale Intellektuelle, die ihre Kinder in das Landschulheim Herrlingen schickten, und das zu erleben, machte - so glaube ich - einen Unterschied aus.
Später kam hinzu, dass ich zunehmend ideologisch interessiert war. Zu einer Zeit, in der Mischa Wolf, wie er selbst schrieb, Karl May las, habe ich bereits Artikel von und über Marx gelesen und danach zunehmend die Unterschiede und Widersprüche zwischen dem ursprünglichen Marxismus und dem späteren Marxismus-Leninismus Stalins erkannt. Und das hat meine Kritik verstärkt. Die meisten meinen "verbohrt", wenn sie "ideologisch" sagen. Nein, manche ideologisch Interessierten wurden gerade durch ihr Interesse kritischer - übrigens auch mein Freund, der DDR-Forscher Hermann Weber.
Wussten Sie 1990, als Sie mit Markus Wolf, dem ehemaligen HVA-Chef gesprochen haben, von den Plänen des MfS, Sie 1953 aus dem Westen zu entführen? Im fraglichen Zeitraum war Markus Wolf ja schon in verantwortlicher Position im DDR-Nachrichtendienst. Hätten Sie mit ihm darüber sprechen wollen?
Ich glaube nicht. Für mich stand und steht das System im Vordergrund, während das, was der eine oder andere Funktionär gemacht hat, mir ziemlich gleichgültig blieb. Leider gibt es gegenwärtig einen Personenfanatismus! Aber, ernsthaft zu glauben, dass man ins Gefängnis kommen konnte, weil irgendein Böser einen IM-Bericht geschrieben hat, halte ich für abwegig. Kritische Menschen kamen ins Gefängnis, weil das System auf Unterdrückung aufgebaut war. Eine Personifizierung, vor allem eine übertriebene, ist mir vollkommen fremd. Ich habe nie diese Ereignisse persönlich genommen, habe mit der Unterdrückung des Systems gerechnet.
Mit Blick auf die DDR-Geschichte fordern Sie, mehr vom positiven Widerstehen gegenüber Diktaturen zu reden. Sie schreiben, man solle die Aufmerksamkeit auf die Strukturen lenken ...
Die totale Konzentrierung auf die Informellen Mitarbeiter (IM) - ziemlich widerwärtige Typen zum Teil - ist einseitig und lenkt ab von den Verantwortlichen des Systems. Ein IM wurde eingesetzt; die entscheidende Figur ist dabei nicht der IM gewesen, sondern der verantwortliche Führungsoffizier. Der bestimmte, wo und wann wieviele IM einzusetzen waren und was sie zu tun hatten. Die Führungsoffiziere kommen in der gesamten Diskussion der letzten beiden Jahrzehnte kaum vor. Innerhalb dieser hauptamtlichen Stasi-Funktionäre sind es vor allem diejenigen vom Major aufwärts, auf die ich gerne die deutsche Öffentlichkeit konzentrieren möchte. Ich kann mir gut vorstellen, wie sich die höheren Stasi-Funktionäre gefreut haben, etwa nach dem Motto: "Die dummen Wessis, auf die IM zielen sie ab, aber uns lassen sie in Frieden!"
Ihnen wird eine gewisse Versöhnungsfähigkeit nachgesagt...
Für mich sind neben meinem zehnjährigen Leben in der Sowjetunion Stalins vor allem meine späteren Jahre an den Universitäten Oxford und Yale entscheidend gewesen. An diesen Elite-Universitäten ist man viel toleranter als im deutschen öffentlichen Leben und diese Toleranz ist Teil meiner selbst geworden. Schon seit Oxford 1956 benutze ich die Begriffe "richtig" und "falsch" nicht mehr, die leider Lieblingsbegriffe im deutschen öffentlichen Leben sind. Während meiner Ausbildung in Oxford wurde stattdessen meist von "degrees of probability" gesprochen, also unterschiedlichen Stufen der Wahrscheinlichkeit. Daraus resultiert, dass man Auffassungen anderer Personen gegenüber toleranter und großzügiger ist.
Ich frage direkter: Hatten Sie jemals den Wunsch, sich mit einem der hohen SED-Funktionäre wieder zu versöhnen?
Sie bringen das sofort auf das Persönliche. Nein, diese Idee hatte ich nie. Die hohen SED-Funktionäre waren eindeutig Repräsentanten eines diktatorischen Systems. Eine Normalisierung, vielleicht eine schrittweise Festigung der Beziehungen, hätte ich angestrebt, sobald sie ihre Fehler eingestanden hätten. Für mich ist das sehr entscheidend. Im 20. Jahrhundert haben alle oder fast alle Menschen Fehler gemacht. Es gibt kaum jemanden, der von sich behaupten kann, sich immer richtig verhalten zu haben. Entscheidend für mich ist aber, dass man seine Fehler offen eingestehen sollte. Manches wäre heute einfacher, wenn das geschehen wäre.
Sehen Sie die Chance dazu vertan?
Ja, ich fürchte sehr, dass die glänzende Gelegenheit vom Herbst 1989 wieder vorbei ist. Diese Zeit war für mich außerordentlich bedeutungsvoll und chancenreich, danach sackte schrittweise alles ab und die Entwicklung mündete in die Vereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990. Dennoch habe ich Hoffnung. Innerhalb der deutschen Bevölkerung beobachte ich interessante, tiefgreifende Veränderungen, die mich langfristig gesehen wieder hoffnungsvoll stimmen.
Können Sie diese Beobachtungen beschreiben?
Harte Leute, überhebliche Besserwisser in der Politik kommen bei der Bevölkerung nicht mehr an. Umgekehrt werden vorsichtigere Politiker, die Menschen in ihre Betrachtungen miteinbeziehen, selbst unsicher sind oder so tun, als ob sie auch suchen, von den Menschen heute vertrauensvoller betrachtet. Der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff scheint mir dafür ein Beispiel zu sein. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Deutschen heute nachdenkliche, konsultative Politiker bevorzugen.
Gleichzeitig erscheinen mir die Deutschen zunehmend kritisch, vor allem gegenüber der wachsenden sozialen Schere, den Betrügereien, dem sinkenden Verantwortungsgefühl bei höheren Managern und deren Riesengehältern. Das wird nicht nur mit Kritik, sondern zunehmend mit Entsetzen zur Kenntnis genommen - auch und gerade von Leuten, die sich nicht zu den Linken zählen. Das sind für mich hochinteressante Erscheinungen, denn der darin enthaltene Antikapitalismus ist unverkennbar. Gewiss geht es nicht um den Sozialismus - dieser Begriff ist für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung diskreditiert - wohl aber um soziale Gerechtigkeit. Das ist keineswegs wie früher nur eine linke Losung. Nein, das wollen heute die meisten Menschen in Deutschland - und das schafft Hoffnung.
Das Interview führte Christiane Baumann
Meine Geschichte der DDR.
Rowohlt, Berlin 2007; 272 S., 19,90 ¤