Birthler-behörde
Ein Gutachten über Stasi-Mitarbeiter sollte Klarheit schaffen - doch es bleiben offene Fragen
Diese Mitarbeiter sind eine Hypothek." Mit diesen Worten brachte es Marianne Birthler, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), am 20. Juli vor dem Kulturausschuss des Bundestages auf den Punkt. Seit Monaten und Wochen steht nun bereits die Frage im Raum, wieviele Mitarbeiter des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) und dessen Informelle Mitarbeiter (IM) bei der BStU in Lohn und Brot stehen und ob sie die Arbeit der Behörde negativ beeinträchtigt haben.
Zumindest die Frage nach der Anzahl ehemaliger Stasi-Mitarbeiter ist inzwischen geklärt: Laut eines Gutachtens, das Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) Anfang des Jahres in Auftrag gegeben hatte, arbeiteten Ende 2006 noch 56, aktuell sind es 54, frühere Stasi-Mitarbeiter bei der BStU. Unter ihnen befinden sich auch zwei ehemalige IM. Klar ist auch, dass die Behörde bei der Einstellung der Mitarbeiter über deren Stasi-Vergangeheit unterrichtet war.
Völlig unterschiedlich bewertet wird aber die Frage, ob und wie diese Mitarbeiter ihre Stellung bei der BStU missbrauchten, ob sie Akten eventuell manipulierten, entwendeten oder gar unter der Hand verkauften. Laut Gutachten, das der ehemalige Verfassungsrichter Hans K. Klein und Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat, vorlegten, lässt sich ein Missbrauch nur in Einzelfällen nachweisen. Klein und Schroeder weisen jedoch darauf hin, dass es in der Aufbauphase der Behörde, Anfang bis Mitte der 90er-Jahre, durchaus die Möglichkeit für einen solchen Missbrauch gegeben habe. Unverständnis zeigen die beiden Gutachter auch darüber, dass bei den Einstellungen auf eine tiefergehende Einzelfallprüfung verzichtet worden sei.
Viel schwerer wiegt jedoch der Vorwurf, die BStU habe über Jahre das tatsächliche Ausmaß ehemaliger Stasi-Mitarbeiter bewusst verschwiegen.
Marianne Birthler sieht die Beschäftigung ehemaliger MfS-Mitarbeiter in ihrem Haus ebenfalls sehr kritisch. Sie habe sich immer - auch schon lange Zeit bevor sie das Amt der Bundesbeauftragten übernahm - dagegen ausgesprochen. Vor dem Ausschuss verwies sie darauf, dass die Behörde das Personal aus dem Bundesinnenministerium übernommen habe, in das die ehemaligen MfS-Mitarbeiter nach der Wiedervereinigung 1990 überführt worden seien.
Zugleich stellte sich Birthler aber auch demonstrativ vor die Belegschaft ihrer Behörde und wies die im Gutachten geäußerten "pauschalen Verdächtigungen" zurück. Die Mitarbeiter hätten in der Vergangenheit gut und loyal gearbeitet - auch jene, die ehemals für das MfS tätig gewesen seien.
Unbehagen bereitet Birthler zudem die Feststellung des Gutachtens, in der Stasi-Unterlagenbehörde arbeiteten derzeit noch rund 400 so genannte "Systemnahe". Dieser Begriff stamme zwar aus ihrem eigenen Haus, bezeichne aber eben nur solche Personen, die in der ehemaligen DDR im Staatsdienst beschäftigt gewesen seien. Zu dieser Gruppe gehörten auch ehemalige Volkspolizisten oder NVA-Soldaten. Der Begriff lasse keine Rückschlüsse zu, wie diese Menschen zum ehemaligen SED-System gestanden hätten.
Wie schwer die Hypothek der ehemaligen MfS-Mitarbeiter wiegt, zeigt auch der Umstand, dass sich die Diskussion vom ursprünglichen Thema immer weiter entfernt.
So gerieten etwa die Verfasser des Gutachtens nach Fertigstellung schnell in die Kritik. Wolfgang Thierse (SPD) bemängelt, Klein und Schroder hätten "ungefragt" die rechtliche Konstruktion und die Verfassungsmäßigkeit der BStU in Frage gestellt. Das Gutachten ignoriere die Entstehungsgeschichte "dieser wichtigen Aufarbeitungsbehörde" und blende aus, dass die rechtliche Grundstruktur der vom Bundestag gewählten Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen dem Bundesdatenschutzbeauftragten gleiche. Diese Struktur gewährleiste die nötige Unabhängigkeit.
Diese Einschätzung wird allerdings nicht von allen Mitgliedern des Kulturausschusses geteilt. Wenn man ein solches Gutachten in Auftrag gebe, dann müsse man auch Antworten in Kauf nehmen, "die einem nicht so gut gefallen", meinte Lukrezia Jochimsen (Linksfraktion.) Und für Maria Michalk (CDU/CSU) gehören die rechtlichen Bedenken zum Gesamtbild, das das Gutachten von der Behörde zeichnet.
Klein und Schroeder sehen in den rechtlichen Einlassungen jedoch keinen Widerspruch zu ihrem Auftrag - im Gegenteil: Die "Irrungen und Wirrungen", die von Anfang an in der Behörde bestanden hätten, so argumentierte Klein, seien zum Teil auf das "außerordentliche Maß an Unabhängigkeit" zurückzuführen, wie man es ansonsten nur aus dem Bereich der Justiz kenne. In ihrem Gutachten hatten Klein und Schroeder geschrieben, die Selbstständigkeit des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen gehe über die des Bundesdatenschutzbeauftragten und die des Wehrbeauftragten hinaus, die BStU sei in einem "weitgehend ministerial- und parlamentsfreien Raum angesiedelt".
Die beiden Gutachter nutzen in der Ausschusssitzung dann auch die Gelegenheit, um ihrem Ärger Luft zu verschaffen. In ihrem Arbeitsvertrag, so Klaus Schroeder, seien sie zum Stillschweigen über die Ergebnisse des Gutachtens verpflichtet worden. Daran habe man sich auch gehalten. Um so misslicher sei es, wenn man in aller Öffentlichkeit kritisiert werde ohne sich verteidigen zu können.
Marianne Birthler und der Direktor bei der Bundesbeauftragten, Hans Altendorf, zeigten auf Nachfrage von Grietje Bettin (Bündnis 90/Die Grünen) überhaupt kein Verständnis für die geäußerten Zweifel an den rechtlichen Grundlagen ihres Hauses. Altendorf verwies auf die datenschutzrechtlichen Auflagen von Seiten der Europäischen Union, die es zu beachten gelte - schon deshalb könne man nicht ministeriell weisungsgebunden sein. Und Birthler fügte hinzu, dass die rechtliche Stellung ihrer Behörde zuletzt durch das Urteil im Streit um die Herausgabe der Stasi-Akten über Altbundeskanzler Helmut Kohl bestätigt worden sei.
Nach knapp eineinhalb Stunden waren im Kulturausschuss offensichtlich noch lange nicht alle Fragen geklärt, die den Parlamentariern auf den auf den Nägeln brennen. Diese Fragen, so teilte der Ausschussvorsitzende Hans-Joachim Otto (FDP) mit, sollen nun schriftlich Kulturstaatsminister Neumann zugleitet werden, um dann in einer Sondersitzung noch vor oder während der parlamentarischen Sommerpause behandelt zu werden. Ein Verfahren, dem Neumann nur widerwillig zustimmte. Schließlich könne er Fragen, die die BStU oder das Gutachten betreffen, schlecht beantworten. Er behalte sich deshalb vor, die Fragen an Birthler, Klein und Schroeder weiterzuleiten.
Wie groß offensichtlich der Klärungsbedarf ist, zeigte schließlich die Ankündigung der Unionsabgeordneten Wolfgang Börnsen und Maria Michalk einen Tag nach der Ausschusssitzung. Die beiden Berichterstatter der Unionsfraktion kündigten an, mit über 60 Fragen "den Vorwürfen über die Arbeitsweise der BStU auf den Grund gehen" zu wollen. Es gehe dabei jedoch nicht um die Zuweisung von Verantwortlichkeiten in der Vergangenheit und der Gegenwart, sondern um "die Reputation einer Behörde, die eine zentrale Schlüsselstellung in der Aufarbeitung der SED-Diktatur einnimmt". Dies sei man den Opfern des Unrechtregimes der DDR schuldig.
Konkret will die Union wissen, warum der Bundestag in den 90er-Jahren über die wahren Zahlen ehemaliger Stasi-Mitarbeiter nicht informiert worden sei. Dies betreffe vor allem die ehemaligen Personenschützer des MfS, die größte Gruppe unter den ehemaligen Stasi-Mitarbeiter. Die "offensichtliche Verharmlosungsstrategie" müsse ein Ende haben.
Aus der Linkksfraktion waren noch schärfere Töne zu vernehmen. Die Bundesregierung habe den Bundestag 1996 "wissentlich belogen", als sie die Zahl der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter mit 15 beziffert habe. Lukrezia Jochimsen sprach von einem "Skandal, der jetzt dringend vom Parlament aufgearbeitet werden muss".
Trotz der vielen offenen Fragen wurde eines im Verlauf der Ausschusssitzung deutlich: Marianne Birthler ist offensichtlich nur bedingt die richtige Ansprechpartnerin, um Sachverhalte zu klären, die vor allem den Zeitraum vor ihrer Ernennung zur Bundesbeauftragten im Frühjahr 2000 betreffen. Und so wurde aus Reihen der Union auch schnell der Ruf laut, ihren Vorgänger auf dem Posten des Bundesbeauftragten Joachim Gauck zu befragen - eventuell auch den 1990 zuständigen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Doch dies stieß bei der Mehrheit der Ausschussmitglieder auf wenig Gegenliebe. Man sei "Gott sei Dank schließlich kein Untersuchungsausschuss".