Prävention
In mehreren Ländern sollen Vorsorgeuntersuchungen verpflichtend werden. In einigen Fällen drohen auch Sanktionen für nachlässige Eltern.
Sieben Jahre nach Verabschiedung des Gesetzes zur gewaltfreien Erziehung zeigen Schicksale wie das von Kevin, Jessica oder Kristina, dass Appelle, Leitbilder und Orientierungshilfen allein nicht ausreichen, um Kinder vor Gewalt zu schützen. Um Risikofamilien rechtzeitig zu finden und aufzufangen, setzen Deutschlands Politiker nicht nur auf soziale Netzwerke, sondern zunehmend auch auf eine lückenlose Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen.
Kinder, die im Stall mit Ziegen und Kühen aufwachsen, die verhungern oder zu Tode gefoltert werden: Jede Woche, so besagt eine weltweite UN-Studie zu Gewalt an Kindern von November 2006, sterben in Deutschland zwei Kinder an Vernachlässigung und Misshandlungen. Nach Angaben des Bundesfamilienministeriums haben sich die Anzeigen wegen Vernachlässigung und Misshandlung seit 1990 verdreifacht. Eltern von rund 2.200 Kindern, die jünger sind als drei, werde pro Jahr das Sorgerecht entzogen. Doch offizielle Zahlen zeigen nur die Spitze des Eisbergs. "Die meiste Gewalt findet im Verborgenen statt", so die Kinderschutzorganisation UNICEF.
Nach Überzeugung des saarländischen Gesundheitsministers Josef Hecken (CDU) reichen soziale Frühwarnsysteme und Vernetzungen zwischen Kinderärzten, Hebammen, Geburtsstationen und Jugendämtern nicht aus, um das Problem in den Griff zu bekommen. Zu viele Kinder verschwänden zwischen Geburt und Einschulung "im Dunkel, in dem niemand regelmäßig schaut, was mit ihnen geschieht". 95 Prozent aller Kinder kommen zwar nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums im ersten Lebensjahr zur Vorsorge. Ab der U 5, bei der das Kind ein halbes Jahr alt ist, allerdings nimmt die Teilnahmequote nach Heckens Worten "drastisch ab". Weniger als 70 Prozent der Kinder würden den Kinderärzten noch vorgestellt, wenn sie älter als ein Jahr sind.
Um die Vorsorgelücken zu schließen, hat Hecken gemeinsam mit seiner hessischen Kollegin Silke Lautenschläger (CDU) bereits im November 2006 eine Bundesratsinitiative auf den Weg gebracht, die auf eine bundesweite Regelung zur verpflichtenden Teilnahme an Früherkennungsuntersuchungen abzielte und im vergangenen Dezember den Bundesrat passierte. Die Bundesregierung, so der Auftrag der Länderkammer, solle ein Gesetz schaffen, das die Vorsorgeuntersuchungen für alle Kinder von sechs Monaten bis fünfeinhalb Jahren unabhängig von ihrem Versicherungsstatus "zur Rechtspflicht" macht, und ein länderübergreifendes Meldewesen einführen.
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) jedoch lehnt die geforderten Gesetzesänderungen aus rechtlichen Gründen ab. Die Datenübermittlungen zwischen Krankenkassen, Ärzten und den zuständigen Länderstellen verstoßen nach ihrer Auffassung gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Zwar müsse die Teilnahme an den Untersuchungen gesteigert werden. Sie seien jedoch nur ein Baustein, um Kinder vor Gewalt zu schützen, so Schmidt.
So lösen die Länder die Frage der kindlichen Vorsorge nun in Eigenregie. Flankiert von anderen Frühwarnmaßnahmen verfügt das Saarland seit April als erstes Bundesland über eine zentrale Screeningstelle, die an der Universitätsklinik des Landes angesiedelt ist. Sie erfasst einerseits die Daten der 52 Einwohnermeldeämter über Kinder, die zwischen der U 1 und U 9 liegen, und andererseits die Meldungen der Ärzte über diejenigen Kinder, die an der Untersuchung teilgenommen haben. Wird die "U" versäumt und trotz mehrmaliger Einladung nicht nachgeholt, wird das Gesundheitsamt informiert. Es sucht die Familie auf und bietet an, die Untersuchung durchzuführen. Erst im letzten Schritt wird das Jugendamt eingeschaltet. Das Verfahren solle nach einem halben Jahr ausgewertet werden, erklärt Heckens Büroleiter Stephan Kolling. Eines stehe aber schon jetzt fest: Die Ärzte stünden zu 100 Prozent hinter dem System.
"Die Interventionsstrategie ist genau die richtige", findet auch die rheinland-pfälzische Sozialministerin Malu Dreyer. Die SPD-Politikerin hat Anfang Juli ein Kinderschutzgesetz auf den Weg gebracht, das neben dem Aufbau lokaler Netzwerke ein verbindliches Einladungswesen für Vorsorgeuntersuchungen vorsieht. "Eine Verpflichtung zur Teilnahme mit entsprechenden Sanktionsmaßnahmen wird es nicht geben", betont Dreyer zwar. Dennoch sollen wie im Saarland die Daten der Meldebehörden an einer zentralen Stelle im Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung gesammelt und die Ärzte verpflichtet werden, zu melden, ob jemand nicht zur Vorsorge erschienen ist. Übermittelt werden keine Untersuchungsinhalte, sondern personenbezogenen Daten, die gesondert geschützt und nach drei Jahren gelöscht werden müssen. Am Ende sollen nach dem rheinland-pfälzischen Gesetz, das im Januar 2008 in Kraft treten soll, bei Hinweisen auf Vernachlässigung die Jugendämter prüfen, ob eine Intervention in der Familie nötig ist.
Wer nicht zu den Vorsorgeuntersuchungen erscheint, muss auch in Hessen künftig mit einem Besuch des Jugendamtes rechnen. Wie Dreyer setzt Sozialministerin Lautenschläger in ihrem Gesetzentwurf auf ein lückenloses Erinnerungssystem und nicht auf Sanktionen.
Einen weitergehenden Ansatz verfolgt derzeit Bayern. "Wenn einzelne Eltern ihre Kinder im Stich lassen", erklärt Ministerpräsident Edmund Stoiber, "darf der Staat die Hände nicht in den Schoß legen." Die bayerische Regelung, die kürzlich im Kabinett verabschiedet wurde, sieht drei Interventionsstufen vor. So sollen künftig nur diejenigen Eltern, die die Vorsorgen nachweisen, Landeserziehungsgeld erhalten. Ein zweites Mal müssen die Nachweise bei der Anmeldung in der Kindertagesstätte und ein drittes Mal vor der Einschulung vorgelegt werden. "Wir müssen alle positiven Zugangsmöglichkeiten zu den Eltern nutzen", betont die Sprecherin des bayerischen Sozialministeriums, Dagmar Bader. Auf diesem Wege sollen Erzieherinnen und Lehrer sensibilisiert werden, genau hinzuschauen und Verdachtsmomente ans Jugendamt weiter zu geben.
"Wenn der Bund nicht handelt, handeln wir selbst", erklärt Stoiber. Der CSU-Chef sieht dennoch die Bundesregierung weiter in der Pflicht. Auch Lautenschläger hält nach wie vor eine einheitliche Regelung für sinnvoller als 16 unterschiedliche, ein Ziel, das Malu Dreyer jedoch für unrealistisch hält. Die Chancen, dass die Vorsorgeuntersuchungen bundesweit einheitlich eingefordert werden können, liegen nach ihrer Einschätzung "gleich Null".