Soziale Situation
Vielen Rentnern geht es heute gut. Aber die Gefahr der Altersarmut wächst.
Davon hatte Margarete T. schon lange geträumt: Eine Reise durch China. Jetzt erst, zu ihrem 65. Geburtstag, hat sich die unternehmungslustige Rentnerin den Traum erfüllt. Zusammen mit Freunden wird sie das Reich der aufgehenden Sonne demnächst als Pauschaltouristin drei Wochen lang bereisen. So wie Margarete T. entwickeln viele Junggebliebene neuen Tatendrang: Sie haben Zeit für die schönen Dinge des Lebens.
Der Ruhestand hat längst seine ursprüngliche Bedeutung verloren. Heutige Rentner leben nicht nur deutlich länger, sie sind auch aktiver. Und sie können sich das - die große Mehrheit jedenfalls - finanziell leisten: Neben ihrer Rente haben sie - wie Margarete T. - zusätzliche Einkünfte, zum Beispiel aus Betriebsrenten, Lebensversicherungen, Kapitalanlagen oder Immobilien. Das ist die schöne Seite der Geschichte vom Älterwerden. Die andere Seite ist, dass all dies für eine wachsende Zahl von Rentnern auf ewig ein Traum bleiben dürfte. Sie werden sich eine Chinareise, eine Kreuzfahrt oder den neuen Flachbildfernseher nicht leisten können. Und es häufen sich Schlagzeilen, die vor zunehmender Altersarmut, gar von einer "tickenden Zeitbombe" warnen. So schlug erst kürzlich die OECD mit dem Hinweis Alarm, dass Altersarmut für Geringverdiener "zur Gefahr" werden könnte.
Das Rentensystem ist durch immer neue Reformen, durch Nullrunden, die Rente mit 67 und die Absenkung des Rentenniveaus bei vielen Bürgern ins Gerede gekommen. Nach einer Allensbach-Umfrage hat fast jeder Dritte kein Vertrauen mehr ins System. Jeder Sechste rechnet damit, im Alter zu verarmen. Und von den Jüngeren denkt gar inzwischen jeder Fünfte (22 Prozent) darüber nach, im Rentenalter auszuwandern, sollte das Geld nicht reichen. Die Frage stellt sich, wie berechtigt solche Befürchtungen sind.
Tatsache ist: Den heutigen Rentnern geht es besser als jeder anderen Rentnergeneration zuvor. Im 2. Armuts- und Reichtumsbericht aus dem Jahr 2005 stellt die Bundesregierung fest, "dass gerade unter den älteren Menschen das Armutsrisiko und damit auch die Sozialhilfeabhängigkeit besonders niedrig ist. Ihre Soziahilfequote lag 2002 bei 1,3 Prozent." Ende 2003 haben nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes 1,8 Prozent neben ihrer Rente noch Leistungen der Grundsicherung bezogen. In der Gesamtbevölkerung ist der Anteil ungefähr doppelt so hoch.
Eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung kommt zu dem Ergebnis, dass die "verdeckte" Armut aufgrund der Hartz-Reformen und der "Grundsicherung im Alter" rückläufig ist: Von 2,8 Millionen im Jahr 2003 auf jüngst noch 1,8 Millionen Bundesbürger. Für Herbert Rische, Präsident der Deutschen Rentenversicherung Bund, steht fest: "Altersarmut war in den letzten 20, 30 Jahren kein Thema in Deutschland. Die gesetzliche Rentenversicherung ist in dieser Hinsicht ein Erfolgsmodell." So sei aktuell Armut bei älteren Menschen deutlich seltener als zum Beispiel bei Familien oder Arbeitslosen. "So beziehen aktuell nur etwa zwei Prozent aller über 65-Jährigen zusätzlich zu ihrer Rente Leistungen der Grundsicherung", so Rische.
Die Wissenschaft bestätigt das: Für Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hat sich die Einkommenssituation von älteren Menschen seit Mitte der 80er-Jahre "nachhaltig" verbessert, ist die Altersarmut parallel dazu "merklich zurückgegangen". Die Jüngeren dagegen hätten "eine Stagnation oder sogar eine Verschlechterung hinnehmen" müssen. Nach Grabkas Erkenntnissen sind mehr als zwei Drittel der Senioren so gut gestellt, dass sie Geld zurücklegen und/oder Kinder und Enkel finanziell unterstützen können. Diese "Transferleistung" beziffert Grabka auf durchschnittlich 350 Euro im Monat. Oma und Opa spielen auch in anderer Hinsicht eine wichtige Rolle: als Konsumenten. Und nach allen Prognosen wird ihre Bedeutung für die Konsumnachfrage auch langfristig weiter wachsen.
Im Durchschnitt liegt die Rente eines west-deutschen Ruheständlers bei 976 Euro, bei Frauen bei 465 Euro. Die ostdeutschen Ver-gleichswerte lauten 1.056 und 663 Euro. Die höheren Beträge im Osten ergeben sich aus den im Ost-West-Vergleich längeren Beschäftigungszeiten in der DDR. Ein Zwei-Personen-Rentnerhaushalt - der vorwiegende Haushaltstyp in dieser Altersgruppe - hat laut DIW mit rund 20.200 Euro im Jahr "ein über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung liegendes Einkommen".
Geht man von einer Armutsgrenze von 650 Euro monatlich aus, dann zeigt ein Blick in die Statistik: Knapp 70 Prozent der westdeutschen männlichen Ruheständler erhalten eine Altersrente, die - mit 750 Euro bis mehr als 1.500 Euro - deutlich darüber liegt. Im Osten sind es sogar gut 83 Prozent. Mehr als 1.050 Euro monatlich erhalten im Westen immerhin 47 Prozent der männlichen Rentner, im Osten gut 40 Prozent. Bei den West-Frauen erhalten 19 Prozent eine Altersrente von mehr als 750 Euro, im Osten sind es 28 Prozent.
Der Blick auf die Rente allein spiegelt die finanzielle Situation der rund 20 Millionen Rentner aber nur unzureichend: Denn fast vier Millionen von ihnen - meist Witwen - beziehen mindestens zwei Renten. Das ist immerhin ein Fünftel. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass in Westdeutschland die gesetzliche Rente bei Ehepaaren und alleinstehenden Männern nach Erkenntnissen der Bundesregierung nur 57 beziehungsweise 60 Prozent des Bruttoeinkommens ausmacht. Den nicht unbedeutenden Rest steuern Betriebsrenten, eigene Erwerbstätigkeit und Zins- oder Mieteinkünfte bei. Für Rentner in den neuen Bundesländern spielen diese Zusatzeinkünfte dagegen eine eher untergeordnete Rolle. Das räumt der gesetzlichen Rente automatisch einen höheren Stellenwert ein.
Nach einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung wollen heutige Arbeitnehmer nicht schon vorzeitig "zum alten Eisen" gehören: Sie hoffen auf eine flexible Gestaltung des Renteneintrittalters, um den späteren Ausstieg aus dem Erwerbsleben in der Spanne zwischen 60 und 67 Jahren selbst festlegen zu können. Bei vorzeitigem Ruhestand wären sie nach eigenen Angaben auch bereit, Rentenabschläge in Kauf zu nehmen. Im Jahr 2005 ging lediglich ein Drittel der Männer mit 65 in Rente, der Rest früher. Im Durchschnitt gehen die Beschäftigten heute mit etwas mehr als 63 Jahren in Rente. Noch 1996 war es ein gutes Jahr früher.
Der Präsident des Sozialverbands Deutsch-land, Adolf Bauer, ist überzeugt, dass sich die Armut im Alter vervielfachen wird. "Geringverdiener werden im Jahr 2030 keine armutsvermeidende Rente erzielen, auch wenn sie 45 Jahre in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt haben." Dies wird nach seiner Einschätzung auf rund 35 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten zutreffen - also mehr als ein Drittel. Auch Rentenversicherungs-Chef Rische räumt ein: "Eine Lebensstandardsicherung allein durch die gesetzliche Rentenversicherung wird es nicht mehr geben." Das heißt: Ohne zusätzliche Privatvorsorge wird die Rentenlücke im Alter nicht zu schließen sein.
Der Autor ist Korrespondent der Nachrichtenagentur dpa in Berlin.