USA
Vom Golf spielenden Freizeit-Rentner zum rastlosen Alters-Arbeiter? Wie sich die »goldenen Jahre« verändert haben.
Tom Kuchenberg ist Mitte 60. Er arbeitet als unabhängiger Berater für eine Behörde in Washington, D.C. Zusammen mit seiner Frau Geri Rosen lebt er in einem kleinen Haus in einer hübschen Gegend unweit vom Zentrum der US-Hauptstadt. Das Haus ist abbezahlt. Geris Kinder aus erster Ehe stehen finanziell seit Jahren auf eigenen Füßen. Das Paar ist nicht verschuldet, fährt nur ein Auto, und bis auf gelegentliche Fernreisen gehen die beiden keinem teuren Hobby nach. Trotzdem antwortet Kuchenberg auf die Frage, wie lange er denn noch arbeiten wolle, mit einem überzeugten: "Solange es mir Spaß macht - mindestens aber noch vier Jahre, wenn nichts Unvorhersehbares passiert."
Auch Geri Rosen, die ein paar Jahre älter ist als ihr Mann, verbringt die Tage nicht nur mit Einkaufen, Kochen und den regelmäßigen Treffen mit ihren Buchclub-Freundinnen. Mehrmals in der Woche verlässt sie das Haus frühmorgens und macht sich auf den Weg zur Library of Congress, wo sie im Archiv aushilft. Geri Rosen ist ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Nationalbibliothek und erhält für ihr Engagement keine Aufwandsentschädigung. Aber auch sie hofft, noch möglichst lange in der körperlichen und geistigen Verfassung zu sein, um mitarbeiten zu können: "So komme ich aus dem Haus und unter Menschen - ich würde mich sonst langweilen." Freiwillig im Job bleiben, bis 68, 69, 70, vielleicht auch länger? Auf den "wohlverdienten Ruhestand" verzichten, obwohl keine finanzielle Notwendigkeit besteht?
Marc Freedman, Wirtschaftswissenschaftler und Gründer der unabhängigen Organisation "Civic Ventures" ("Bürgerprojekte"), sieht die Entwicklung eines neuen Trends. Laut Freedman ist die Generation der Baby Boomer - der geburtenstarken Jahrgänge ab 1946 - gerade im Begriff, den Ruhestand umzudefinieren, und zwar in einen produktiven Unruhestand. "Diese Generation scheint den alten Traum, von Arbeit befreit zu sein, einzutauschen gegen einen neuen Traum. Der neue Traum handelt von der Freiheit, sich die Arbeit selbst aussuchen zu können", schrieb Freedman in der "Washington Post".
Verschiedene Studien untermauern Freedmans These. Eine Erhebung des renommierten PEW Research Center ergab im vergangenen Jahr, dass mehr als 75 Prozent der momentan berufstätigen Bevölkerung vorhaben, auch im siebten Lebensjahrzent zu arbeiten. Wiederum drei Viertel dieser Gruppe erklären, die Berufstätigkeit nicht aus finanziellen Gründen ausdehnen zu wollen, sondern aus Freude am Job. Zu ähnlichen Ergebnissen kam die größte Lobby-Vereinigung für Ruheständler in den USA, die American Association of Retired Persons (AARP). Einer Umfrage dieser Organisation zufolge planen sogar 80 Prozent der Baby Boomer im Alter weiterzuarbeiten. Allerdings ist auch der Anteil derjenigen, die angeben, aus finanziellen Gründen werktätig zu bleiben, in der AARP-Studie höher. Nur ein Drittel der "Arbeitswilligen" erklärt, sie gingen von einer gesicherten Existenz als Rentenempfänger aus.
Das amerikanische Rentensystem weist zwei grundlegende Unterschiede zu den meisten europäischen Systemen auf. Zum einen ist der staatliche Anteil an der Rente, Social Security genannt, wesentlich kleiner. Er beträgt etwa 40 Prozent des Durchschnittslohns. In fast allen Ländern der EU - mit Ausnahme Großbritanniens, das mit 35 Prozent noch hinter den USA rangiert - liegt diese Rate noch deutlich darüber. Zum anderen gibt es in den USA kein gesetzlich vorgeschriebenes Rentenalter. Schon 1967 befanden die Gesetzgeber, dies sei "Altersdiskriminierung" und schafften es ab. Dennoch lohnt es sich auch in den USA oft nicht, über das Einsetzen der staatlichen Zahlungen und das Ausschüttungsdatum zusätzlicher Sparpläne hinaus zu arbeiten, da jedes Gehalt zumindest in Teilen gegen die Rente verrechnet wird. Deshalb verabschiedeten sich Beschäftigte in den USA zwischen 1995 und 2000 mit durchschnittlich 62 Jahren in den Ruhestand.
Der demografische Wandel vollzieht sich in den USA genauso rasant wie bei uns. In den nächsten zwei Jahrzehnten werden rund 75 Millionen Baby Boomer ihren 60. Geburtstag feiern. Das amerikanische Bundesamt für Statistik sagt voraus, dass im Jahr 2050 ein Drittel der Bevölkerung älter als 65 sein wird. Keine Gesellschaft kann es sich auf Dauer leisten, einen derart hohen Anteil der Bürger auf das sprichwörtliche Altenteil zu schicken. Lässt sich also die "produktive Unruhe" der alternden Baby Boomer zum Wohl der ganzen Gesellschaft nutzen? Oder wird der erhöhte wirtschaftliche Druck, den Rentner unweigerlich spüren werden, die beschworene "Freiheit, sich die Arbeit auszusuchen", schnell wieder einschränken? Senioren, die im Supermarkt den Kunden die Einkaufstüten packen oder mit 70 noch einen Job als Fensterputzer annehmen, sind schon heute die hässliche Kehrseite einer Gesellschaft, die überwiegend auf individuelle Vorsorge setzt.
Visionäre wie Freedman oder die Soziologin Phyllis Moen, die sich in zahlreichen Publikationen mit der amerikanischen Arbeitswelt auseinandergesetzt hat, lassen die Unkenrufe nicht gelten. Sie sind überzeugt, dass die Einbindung älterer Menschen in den Jobmarkt für alle positive Effekte haben wird. Die Senioren wären zufriedener. Und ernste Versorgungsengpässe, wie sie schon bald im Bildungsbereich und beim Krankenhauspersonal entstehen werden, könnten überbrückt werden. "Und das sind bessere Jobs als in den Supermärkten", erklärt Freedman. Er weiß, dass viele Menschen sich in erster Linie nach einer sinnvollen Tätigkeit sehnen. Er weiß aber auch, dass es immer noch viele Hürden gibt auf dem Weg zur "Altersberufstätigkeit".
Seine Organisation "Civic Ventures" arbeitet gegen die bestehenden Hindernisse an. Zum einen fungiert sie als Vermittlungsagentur für arbeitssuchende Senioren. Zum anderen betreibt sie intensive Öffentlichkeitsarbeit, um ein Umdenken insbesondere bei potenziellen Arbeitgebern älterer Menschen zu bewirken. Peter Cappelli, Leiter des Center for Human Resources an der Wharton School of Business in Philadelphia, hofft dass sich die Bemühungen auszahlen: "Die meisten Vorurteile der Arbeitgeber lösen sich in Luft auf, wenn sie sich erst einmal auf das gezielte Einstellen von Senioren eingelassen haben", schreibt Cappelli. "Aber ich befürchte, dass wir lange Phasen mit extremem Arbeitskräftemangel durchlaufen müssen, bevor mehr Unternehmen Älteren eine Chance geben." Die größte Schwierigkeit ist laut Cappelli der - seiner Meinung nach berechtigte - Wunsch vieler potenzieller Arbeitnehmer über 60, ihre Wochenstundenzahl zu reduzieren. Einige Unternehmen reagieren jedoch bereits. Die Baumarkt-Kette Home Depot etwa stellt seit 2004 jedes Jahr mehrere tausend Arbeitsplätze speziell für Senioren zur Verfügung. Die AARP ist Partner des Projekts. Im Angebot sind sowohl Voll- als auch Teilzeitjobs, und die Stellen sind in verschiedenen Bereichen angesiedelt, vom Kundenservice bis hin zur Innenausstattung.
Ob aus finanzieller Notwendigkeit oder weil sich Lebensdauer und -einstellung verändert haben - in den USA wird momentan deutlich, dass die Idee vom entspannten Rentnerdasein als Dauer-Freizeitler immer weniger trägt. Die "goldenen Jahre" des Ruhestands sind nicht mehr zeitgemäß. "Nun gilt es, neue Rollen für eine ganze Generation älterer Menschen zu finden. Und warum auch nicht, wenn Senioren den Wunsch verspüren, länger aktiv zu bleiben?" meint die Soziologin Moen. Diese Motivation dürfe jedoch von der Politik nicht als Feigenblatt missbraucht werden, um gleichzeitig die Rentenvorsorge auszuhöhlen.
Tom Kuchenberg jedenfalls will sich nicht vorschreiben lassen, wann er seinen Schreibtisch räumt. Und das rät er auch seinen Altersgenossen.
Die Autorin ist freie Journalistin in Washington und Köln.