Im Folgenden mache ich möglichst konkrete Vorschläge, wie man sich in der Kinder- und Jugendarbeit mit "politikfernen" Jugendlichen politischem Handeln annähern kann. Die Kategorie der Bildungs- bzw. "Politikfernen" scheint mir als defizitorientierte Grobklassifizierung von sehr differenzierten Jugendszenen pädagogisch riskant. Ich benutze sie daher nur unter Vorbehalt.
Kinder- und Jugendarbeit hat die Aufgabe politischer Bildung. Das Sozialgesetzbuch (SGB) VIII sieht in Paragraph 11 die Entwicklung von "Selbstbestimmung" und "gesellschaftlicher Mitverantwortung" als Ziel von Jugendarbeit vor. Kinder und Jugendliche sollen sich als Subjekte (Selbstbestimmung) politischen Handelns (gesellschaftliche Mitverantwortung) erfahren, ihre (politischen) Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten erweitern und sich Kompetenzen politisch-demokratischen Handelns und Mitentscheidens aneignen. Kinder- und Jugendarbeit kennt kein Curriculum, keine Teilnahmepflicht, keinen Methodenkanon. So kann sie sich auf die Bildungsbewegungen der Subjekte einlassen und diese fördern. Sie ist Bildung "in Freiheit zur Freiheit". 1
Politische Bildung verstehe ich als politisches Handeln. Damit geht es zunächst nicht um politische Aufklärung oder Wissensvermittlung; diese Handlungsweisen sollten den Inhalten und Prozessen des jeweiligen exemplarischen politischen Handelns folgen und nicht theoretisch von solchen abgekoppelt geschehen. Politisches Handeln verstehe ich als Handeln, in dem Akteure ihre Interessen in einem Gemeinwesen (in einer pädagogischen Einrichtung, einem Stadtteil, einer Kommune, einer Gesellschaft) öffentlich einbringen, einfordern, diskutieren und in einem demokratischen Entscheidungsprozess bearbeiten. Diese Prozesse (politics) müssen die formalen Verfahren und Institutionen von Demokratie und Politik einbeziehen (polity) und geschehen auf Themenfeldern mit spezifischen Strategien (policy).
Die Subjektwerdung (Selbstbestimmung) ist von der Entwicklung gesellschaftlicher Mitverantwortung, also von politischem Handeln, nicht zu trennen. Prozesse und Bedingungen von Subjektwerdung (einschließlich ihrer Behinderungen/Begrenzungen) geschehen nicht isoliert von sozialen Lebensbedingungen und Einflüssen, sondern immer schon in einem (umkämpften, sich wandelnden) politischen Raum (z.B. Folgen der Hartz-IV-Gesetzgebung für die Verarmung von Kindern; institutionelle Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund in der Schule).
Die Aneignung eines Subjektstatus in pädagogischen, jugendarbeiterischen Settings ist auch politisch zu nennen, weil sie in einer öffentlichen Polis eines pädagogischen Ortes stattfindet. In diesem Sinne ist Pädagogisches nicht "privat", sondern immer (einrichtungs-) öffentlich, interessen- und machtbezogen und somit politisch. Also lässt sich die Assistenz bei der (Subjekt-)Bildung als Eröffnung eines politisches Settings, als Schaffung von Rahmenbedingungen politischen Handelns in einer pädagogischen Einrichtung verstehen. Auf die Subjektentwicklung bezogenes sozialpädagogisches Handeln und die auf Aneignung politischer Kompetenzen bezogene politische Bildung gehen Hand in Hand. Versteht man politische Bildung als Demokratiebildung und Partizipation als Praxis ihrer Aneignung, wird man Demokratie als gemeinsame Entscheidung aller relevanten Fragen in einer (Jugendarbeits-)Einrichtung zu ermöglichen versuchen. Dabei müssen Übergänge ermöglicht werden zwischen politischem Handeln in der "Innen-Polis" einer pädagogischen Einrichtung und der "Außen-Polis" von Stadtteil, Kommune und Gesellschaft. Jugendarbeit kann dabei Anregungen von verwandten demokratiepädagogischen Ansätzen der Schulpädagogik erhalten, z.B. durch die "Gemeindedetektive" 2oder das "Projekt aktive Bürger". 3
In der Offenen Kinder- und Jugendarbeit finden sich vielfach die hier in Rede stehenden "politikfernen" Kinder und Jugendlichen. Ihre Erfahrungen des und Haltungen zum Politischen sollen hier kurz geschildert werden, obwohl jede solcher vergröbernden Beschreibungen angesichts der Differenziertheit von "Jugenden" auch falsch ist.
Viele der Nutzerinnen und Nutzer Offener Kinder- und Jugendarbeit gehören nicht nur zur Gruppe der "Politikfernen", sondern auch zu ökonomisch und sozial Benachteiligten und haben häufiger ein Bildungsrisiko. Wer unter solchen Bedingungen lebt, hat oft Distanz zur Politik, zum "offiziellen" politischen Handeln. Die Persönlichkeit solcher Mädchen und Jungen ist oft instabil. Von Eltern, Lehrenden und anderen Erwachsenen erfahren sie häufig Unfähigkeitsunterstellungen, Leistungskritik, Abwertung und Misstrauen, nur selten Selbstwirksamkeit und erst recht nicht öffentlich-politische Wirksamkeit. "Politikferne" Kinder und Jugendliche fühlen sich als Objekte institutioneller und gesellschaftlich-politischer Prozesse und Entscheidungen; sie zeigen Distanz zum offiziell-politischen Stil und zum politischen System. Es fällt ihnen schwer, eigene Interessen zu spüren, zu versprachlichen, sie als legitim anzusehen, öffentlich einzubringen und - gar gegen Widerstände - zu vertreten. Sie haben kaum Erfahrung/Kompetenz in kooperativer Aushandlung von Interessenkonflikten. Sie erfahren Defizitunterstellungen, Respektlosigkeit, Ignoranz und vielfache pädagogische Versuche, sie zu erziehen, zu domestizieren, zu verregeln oder zu kontrollieren.
Ihre Stärken liegen in ihrer körperlichen Präsenz und häufig expressivem Selbstausdruck; in Kompetenzen kreativer hybrider Spracherfindungen; in Sensibilität für Missachtung und Ungerechtigkeit; in Spontaneität und schnellen Reaktionen; in Risikobereitschaft; in sich und den Gegenüber herausfordernden Interaktionen; in vorsichtiger, scharfer Beobachtung der Umwelt; in Selbsttarnung und taktischem Rückzug; in Lebensbewältigungsmanagement; im Überlegen; in der Kenntnis von Jugendkulturen; in optimiertem Umgang mit knappen Ressourcen; in Konfliktbereitschaft; im Zusammenhalten; im Erfinden von sozialen Inszenierungen; in Direktheit und Energie; in Lebensfreude trotz widriger Bedingungen.
Bildungsassistenz und politische Bildung beginnen mit der Wahrnehmung Jugendlicher durch die politischen Bildnerinnen und Bildner. Sie sollten nicht sofort zu viel "verstehen" (im Sinne von Einordnung in gewohnte Deutungsmuster wie: die sind faul, unmotiviert, gegen mich) und von vornherein wissen wollen, wie sich der Bildungsprozess entwickeln soll. "Sehen" öffnet für eine anerkennende Wahrnehmung des jugendlichen Gegenübers. Es geht um respektvolles Beobachten, nicht (sofort) um Interpretation. Ein solcher Blick kann Neues erkunden und wird von den Gesehenen als Anerkennung gespürt. Für viele (hier in Rede stehende) Jugendliche ist ein skeptisch-diagnostischer Blick bedrohlich. Nicht von ungefähr lautet der klassische Spruch, mit dem solche Blicke abgewehrt werden: "Was guckst du?" Ein abschätziges Beobachtet-Werden kennen die Jugendlichen von Erwachsenen (zum Beispiel in der Schule) zur Genüge. Ein respektvolles Gesehen-Werden hingegen wird oft als positives Angebot wahrgenommen.
Vorschlag: Schau hin und beschreibe! Beobachten Sie die Interaktionen von Jugendlichen (z.B. im offenen Bereich eines Jugendhauses, auf der Straße, auf dem Schulhof). Schreiben Sie auf, was Sie gesehen haben. Versuchen Sie, so wenig interpretativ wie möglich Ihre Beobachtungen zu notieren. Registrieren Sie, inwieweit Sie Ihre Wahrnehmungen durch vorgefasste Deutungen eingrenzen. Notieren Sie auch Ihre schnellen Interpretationen. In einem zweiten Schritt versuchen Sie, diese zu öffnen: "Marcel kommandiert wieder seine Untergebenen" wird zu: "Marcel hat eine laute Stimme, alle können ihn hören, und viele tun, was er sagt." Aus: "Aische ist total verschüchtert" wird: "Aische sagt nichts, beobachtet aber viel." Aus "Adem redet wieder dauernd über aufgemotzte Autos" wird: "Adem spricht lange über seine Bewunderung für schnelle Sportwagen und für Tuning".
Vorschlag: Was beschäftigt die Jugendlichen? Nach einer Phase wiederholter Beobachtungen kann man diese auswerten: Was beschäftigt die Jugendlichen am meisten? Was beschäftigt die meisten Jugendlichen? Was beschäftigt mich? Mit welchen Themen habe ich welche Probleme? Welche Themen sehe ich als Ansatzpunkt gemeinsamer (politischer) Bildungsprozesse? Wieder ist darauf zu achten, dass die Themenformulierungen offen und nicht abwertend sind, also: "Reden über Frauenkörper" statt "sexistisches Machogequatsche". Eine zweite Auswertungsperspektive richtet sich darauf, wie sich die Jugendlichen mit Themen beschäftigen. Sie zeigen ihren kulturellen Umgangsstil, an den man anknüpfen kann. Fragt man sie (etwa in Kursen "Politische Bildung"), nennen sie immer wieder folgende Themen: Gewalt (auch untereinander), Ausländerfeindlichkeit, Konflikte/Mobbing, Liebe/Sex/Partnerschaft, Sucht/Drogennutzung. Weniger abstrahiert werden (Teil-)Themen etwa so formuliert: Was ist eine "Schlampe"? Was ist "schwul"? Wie verteidigen wir uns gegen eine "feindliche" Clique? Ist "Drogendealer" ein Beruf? Welche Strafen bekommt man, wenn man beim Sprayen erwischt wurde? Welches Handeln kennzeichnet Mädchen als "Nutten"? Sind Hartz-IV-Empfänger "Schmarotzer"? Wie kann man einen Puff kennen lernen? War es unter Hitler besser als heute? Sind Deutsche Nazis? Gegen welche Beleidigungen muss man die "Ehre" mit Gewalt verteidigen?
Vorschlag: Ihre Themen gelten, nicht die der Pädagoginnen und Pädagogen! Die Interessen der Kinder und Jugendlichen sind die Grundlage ihres Subjektstatus und des politischen Handelns in der Jugendarbeit. Deshalb sollten keine noch so gut gemeinten Inhalte und Themen vorgegeben werden. Politische Bildung, die es besser weiß als ihre Adressaten, bricht mit dem angestrebten Mündigkeitsstatus. Deshalb ist bei den Themen anzusetzen, die die Jungen und Mädchen anbieten. Diese mögen auf Anhieb völlig unpolitisch erscheinen (oder erschreckend, oder abstoßend), das Politische steckt jedoch nicht (nur) in ihrem Inhalt, sondern zunächst im Umgang mit artikulierten Interessen. Nur wenn die Themen der Jugendlichen ernst genommen werden, können sie erfahren, dass sie ein Recht auf eigene Interessen und ihre Artikulation haben und dass sie ernstzunehmende Beteiligte beim Ausstreiten dieser Interessen sind. Die Regel "Ihre Themen gelten!" bedeutet nicht, dass alles, was sie vorbringen, sklavisch umgesetzt werden muss. Über das, was sie wollen, und darüber, wie sie ihre Interessen umsetzen wollen, kann und muss gelegentlich gestritten werden, jedoch anerkennend davon ausgehend, dass es politisch legitim ist, Interessen einzubringen und sich für ihre Umsetzung einzusetzen.
Erst nach ausführlicher Beobachtung empfiehlt sich ein vorsichtiger fachlicher Verstehensversuch, in dem Ergebnisse Hypothesen bleiben müssen. Welche Themen sind für die Jugendlichen wichtig? Welche Interessen und Bedürfnisse könnten dahinter liegen? Was bewältigen sie damit wie? Welche Chancen und Risiken hat das Thema? Welche Beziehungskonstruktionen sind enthalten? Welche Angebote an mich kann ich im Handeln zum Thema erschließen? Welche Potenziale könnten im Handeln und im Thema stecken? Ohne Vertrauen lassen sich "politikferne" Jugendliche kaum auf einen gemeinsamen Arbeits- und Auseinandersetzungsprozess ein. Ohne dass in einem solchen Prozess durch die Erfahrung von Zutrauen auch Selbstvertrauen entstehen kann, bleiben die Subjekte zu "schwach", um sich eigenständiger Entwicklung und eigensinnigem politischen Handeln stellen zu können. Axel Honneth betont "Liebe" als Anerkennungserfahrung, die auf der Basis gegenseitiger vertrauter Beziehung Selbstvertrauen ermöglichen kann: "Weil diese Erfahrung im Verhältnis der Liebe wechselseitig sein muss, bezeichnet Anerkennung hier den doppelten Vorgang einer gleichzeitigen Freigabe und emotionalen Bindung der anderen Person; nicht eine kognitive Respektierung, sondern eine durch Zuwendung begleitete, ja unterstützte Bejahung von Selbstständigkeit ist also gemeint (...)." 4
Durch diese Bindung, die wechselseitig Abgrenzung/Ablösung ermöglicht, entsteht Selbstvertrauen, das die Basis für alle Einstellungen der Selbstachtung und damit auch der autonomen Teilnahme am demokratisch-öffentlichen Leben ist. Der Anerkennungsmodus der Liebe ist in Honneths Konzept auf wenige Primärbeziehungen begrenzt. Dennoch gibt es in der Jugendarbeit immer häufiger die Erfahrung, dass viele Kinder und Jugendliche diese grundsätzliche, bedingungslose Zuwendung nie erfahren haben und ihr Selbstvertrauen entsprechend schwach ausgebildet ist. Um ihnen soziale und politische Beteiligung zu ermöglichen, muss das Selbstvertrauen entwickelt werden. In Bildungssettings geht es möglicherweise nicht um "Liebe", aber doch um das Angebot vertrauensvoller, sicherer Beziehungen. Dafür scheint wichtig, dass sich die pädagogischen Gegenüber den Jugendlichen als authentische Personen zeigen, mit Lebensweisen, Werten, Widersprüchen, Unsicherheiten. "Politikferne" Jugendliche kennen (zu) oft distanzierte, sich nur absichernde "Lohnerziehende", die Gegenseitigkeit in der Beziehung fürchten und die sich durch eine "Rühr-mich-nicht-an-Fassade" zu schützen versuchen.
Für politisches Handeln scheint es mir zwei zentrale Bedingungen zu geben: Zum einen muss das Subjekt seine Interessen kennen und klären können, um sie zum anderen öffentlich einzubringen, Aufmerksamkeit für sie zu verlangen und sie in Bezug zu gemeinsamen Themen und Entscheidungsfragen setzen. Dazu muss das Individuum in der Lage sein, überhaupt erst eine eigene Position zu entwickeln, es muss sie und sich für prinzipiell berechtigt halten, und es muss Kompetenzen haben, dem Eigenen Ausdruck zu verleihen, sowie eine gewisse Hoffnung, auch Gehör zu finden.
Vorschlag: Höre ihre Geschichte! Benachteiligte Jungen und Mädchen drücken sich selten in abstrakten Formulierungen aus. Statt dessen erzählen sie Geschichten. Diese "Epen" enthalten verdichtet Relevanzen, Selbst-, Fremd- und Gesellschaftsbilder. Sie enthalten prototypische Probleme, Konflikte und mögliche Lösungen. Diese Geschichten erzählen sie zwar untereinander, sind es aber nicht gewohnt, dass Erwachsene zuhören. Eine eigene Stimme entwickelt sich aus der Resonanz der Zuhörer. Der/die Erzählende muss ihr "Echo" vernehmen, um sich in ihm selber hören und wiedererkennen zu können.
Vorschlag: Thematisiere ihre Erfahrungen von Ungerechtigkeit und Diskriminierung! Gerade benachteiligte Jungen und Mädchen erfahren gesellschaftliche Zusammenhänge häufig in Form von Ausgrenzung, Begrenzung, Misstrauen, Kontrolle und Abwertung. Statt von ihnen zu verlangen, andere nicht zu diskriminieren und zu bekämpfen, setzt politische Bildung bei ihren eigenen Erfahrungen mit Ungerechtigkeit und Desintegration an. Dazu kennen sie viele Geschichten, die wiederum ihren Blick auf gesellschaftliche Lebensbedingungen enthalten.
Vorschlag: Mache die Personen (sich selbst) sichtbar! Die ihres Selbst unsicheren Jugendlichen brauchen ein Gesehen-Werden, brauchen Resonanz, um Selbstgefühl entwickeln zu können und sich und ihren Interessen, Meinungen, Haltungen zu trauen und sie einzubringen. Deshalb sollte die Sichtbarmachung von Geschichten, Interessen, Positionen immer auch die Person darstellen, ihre Eigenart würdigen, die Bereicherung des Gemeinsamen durch ihre Spezialität demonstrieren. Diesen Aspekt von Anerkennung nennt Honneth "Solidarität": die Anerkennung der besonderen Fähigkeiten, in denen sich die Menschen unterscheiden, aber die von konstitutivem Wert für Gemeinschaften sind.
Vorschlag: Mache ihre Geschichte, ihre Aussage, ihr Interesse sichtbar! Das erzählte Wort bleibt in der narrativen (Beziehungs-) Situation gefangen. Deshalb ist es wichtig, den Jugendlichen Ausdrucksmittel anzubieten, mit denen sie ihre Geschichte festhalten, präzisieren und anderen öffentlich mitteilen können. Eine mediale Dokumentation sollte an die jugendkulturellen Ausdrucksweisen der jeweiligen Szene oder Clique anknüpfen. Mädchen zeichnen gerne und mit hoher Kompetenz Bildgeschichten im Stil japanischer Mangas. Ganz simpel ist die Dokumentation von Geschichten und Interviews mit mp3-Rekorder oder auf Video. Texte selbst geschriebener HipHop-Songs, SMS, Handyfotos, Fotostorys, selbstgemalte Bilder, Skulpturen aus Knete, Schrott und vielem mehr, Gedichte, Flugblätter, selbstgemachte Zeitungen, Blogs, besprayte oder mit Eddings beschriebene Wände, elektronische Laufbandschriften können genutzt werden. Wenn Jugendliche beginnen, politischen Ausdruck zu probieren, nutzen sie häufig Thematisierungs- und Gesprächsweisen, die sie aus dem Fernsehen kennen. So sind z.B. Talk- und Gerichtsshows für sie eine Form, um Artikulation, Auseinandersetzung und Entscheidungen zu erproben. Einerseits gefällt den Jugendlichen solch medialer Ausdruck ihrer Geschichten, und sie arbeiten engagiert daran, andererseits misstrauen sie ihren Ausdruckskompetenzen und Inhalten und fürchten, verlacht oder abgewertet zu werden. Deshalb ist im Prozess der ästhetisch-medialen Erarbeitung ihres Ausdrucks eine ständige Unterstützung und Bestätigung nötig. 5
Vorschlag: Ermögliche Resonanz und Dialog! Die medial gestalteten Geschichten, Interessen und Positionen der Jugendlichen müssen in einem zweiten Schritt einer Öffentlichkeit präsentiert werden und von ihr Resonanz erhalten. Das kann zunächst die Öffentlichkeit der eigenen Clique, Gruppe oder des Jugendhauses sein. Da die Jugendlichen häufig Misserfolge bei der Präsentation von Leistungen (besonders in der Schule) gewohnt sind, haben sie Schamgefühle und Ängste, sich und ihre Aussagen öffentlich zu zeigen. Deshalb ist ein vorsichtiges Üben und Steigern der Konfrontation mit Öffentlichkeiten empfehlenswert. Zuhörer/Zuschauer und Beteiligte brauchen Gelegenheit und Mittel, ihre Reaktion auf die Präsentationen zu dokumentieren. Auch dieses kann unter Verwendung verschiedenster Medien geschehen. Damit beginnt eine rudimentäre Form des Dialoges: Auf eine Positionierung folgt eine Reaktion, und ein (politisches) Gespräch kann sich entwickeln.
Vorschlag: Fragt die anderen, erweitert die Perspektiven! Sich Sichtweisen, Interessen und Positionen anderer zu stellen, kann geübt werden, in dem man die Jugendlichen in Kontakt zu Menschen bringt, die von Themen, Interessen oder Haltungen der Jugendlichen betroffen sind. Häufig leben "politikferne" Jugendliche in begrenzten sozialen Räumen mit auf andere Jugendliche und pädagogische Betreuer und Wächter eingeschränkter Kommunikation. Um "Gesellschaft" außerhalb ihres Horizonts zu entdecken, ist es hilfreich, dass Jugendliche andere Betroffene kennen lernen und befragen. Das Interview (wieder dokumentiert!) ist für die Jugendlichen eine Möglichkeit, sich nicht selbst sofort positionieren und konfrontieren zu müssen, sondern sich aus der Deckung des Fragestellers in andere Perspektiven hineinzuversetzen. Reden die Jugendlichen über "Schwule", befragt diese; bewundern sie Drogendealer, befragt diese (man findet sie im Knast); interessieren sie sich für "Nutten", befragt diese; reden sie über "geile Wummen" (Pistolen), fragt Menschen, die Pistolen tragen, und welche, auf die geschossen wurde; reden sie über "Mobbing", fragt Opfer, Richter, Berater. Immer wieder sollten Essentials öffentlich dokumentiert werden: als Grafik, Foto, Netzwerk, Collage.
Resonanz und Aussagen von Befragten bringen nicht nur positive Bestätigung, es kommen auch andere Positionen und Gegenmeinungen ins Spiel. Politisch-demokratisch ist es von zentraler Bedeutung, sein Gegenüber zu respektieren und seine Argumente ernst zu nehmen. Eine Kritik oder Gegenmeinung empfinden benachteiligte Jugendliche häufig als bedrohlich und abwertend. Entsprechend leicht geraten sie in Verteidigung, Rückzug oder Gegenangriff. Den Konflikt auszuhalten, weder körperliche oder psychische Gewalt auszuüben noch einfach zu flüchten, ist eine der zentralen Übungen politischer Bildung.
Besondere Wirkung hat das Handeln der Pädagoginnen und Pädagogen in den Konflikten, die sie selber mit den Jugendlichen austragen. Sie sollen ja nicht die Positionen der Jugendlichen nachbeten, sondern müssen sich im Sinne von Authentizität deutlich positionieren, auch und gerade, wenn dies in Konfrontation zu Interessen und Positionen beteiligter Jugendlicher steht. Es geht darum, mit den Jugendlichen zu streiten, ohne diese herabzuwürdigen und argumentativ bloßzustellen oder besiegen zu wollen. Damit wird eine gewaltfreie Streitkultur praktiziert, in der die Jugendlichen erfahren können, dass man nicht immer mit allen einer Meinung ist, aber diese trotzdem in ihrem Anderssein respektiert und schützt. Deshalb stehen Inhalte, Ergebnisse oder gar Überzeugungsveränderungen nicht im Vordergrund, sondern die Beziehungs- und Kommunikationsstruktur und der Prozess eines demokratischen Streitgesprächs.
Vom demokratischen Diskurs über Interessen, Positionen und Argumente arbeitet man sich vor zur grundsätzlichen demokratisch-partizipativen Strukturierung der Entscheidungsprozesse in Einrichtungen der Jugendarbeit. Als Ort politischer Bildung sollte eine Jugendeinrichtung demokratisch organisiert sein, das heißt, die beteiligten Jugendlichen müssen ihre Rechte auf Beteiligung und die strukturellen Möglichkeiten von Partizipation kennen und nutzen können. Die Rechte (etwa in einem Jugendhaus), soziale Regeln mitzubestimmen, Ressourcen zu verteilen und über Themen/Aktivitäten zu entscheiden, müssen im Alltag klar erkennbar, nutzbar, einklagbar sein. Diese Rechte benötigen demokratische Beteiligungsverfahren. Demokratische Partizipation braucht öffentliche Organe der Artikulation und Vertretung von Interessen, der Aushandlung von Lösungen und der gemeinsamen Entscheidung. Diese Organe können basisdemokratisch offen für alle sein (z.B. Hausversammlungen), aber auch repräsentativ-parlamentarisch gewählte Organe (z.B. Hausparlamente) sind nötig. Diese Gremien entscheiden über Inhalte, Aktivitäten, Finanzen, und sie bestimmen die Grundrechte und Regeln. Zusätzlich bedarf es Gremien der Konfliktbearbeitung und "Rechtsprechung" (z.B. Fairnesskomitees, Mediationsräte). 6
Politisch-demokratische Erfahrungen in der pädagogischen Polis lassen sich nicht ohne weiteres auf die allgemeine Polis, etwa die Kommune übertragen. Deshalb sollte immer wieder der Übergang in die öffentlich-allgemeine Politik des Gemeinwesens gestaltet werden. Die Themenstellungen beziehen sich ja nicht nur auf die Binnenverhältnisse einer pädagogischen Einrichtung, sondern viele haben mindestens Schnittstellen zu allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Fragen. Wer sich zum Beispiel für schnelle Autos interessiert, ist auch mit den Spritpreisen und der Energiepolitik konfrontiert; wer sich für den Umgang mit Alkohol interessiert, ist auch mit den Gesetzen und der öffentlichen Reaktion auf jugendlichen Alkoholkonsum konfrontiert, ebenso wie mit den Strategien der Alkoholindustrie; wer sich mit Ausländerfeindlichkeit beschäftigt, ist auch mit dem politischen Umgang mit Migration befasst; wer sich für Shopping interessiert, hat es auch mit Aufenthaltsrechten etwa in Shopping Malls zu tun; wer sich für "Abhängen" und Pöbeln auf der Straße interessiert, ist auch mit den Reaktionen von Passanten, Ordnungsamt und Polizei konfrontiert.
Auch hier gilt es zu beobachten, wie sich Jugendliche auf den politischen Raum beziehen, welche Interessen und Problemstellungen sie zeigen, um dann mit ihnen (mediale) Möglichkeiten der öffentlichen Artikulation ihrer Interessen herauszufinden und zu erproben. Bei der weiteren Gestaltung politischer Konfliktaustragung können auch Informationen und Aufklärung über formal- strukturelle, rechtliche oder kulturelle Bedingungen politischen Handelns im Gemeinwesen wichtig werden.
1 Ich bedanke mich
bei Heike Schlottau und Christian Welniak für Diskussionen und
Hinweise zu diesem Text. Eine Langfassung dieses Textes steht
bereit unter
www.soziale-arbeit-und-gesundheit.fh-kiel.de/Neu_SUG_Home/Organisation_Personen/Hauptamtliche/daten_bsturzenhecker/index.php
(20. 6. 2007). Vgl. Helmut Kentler, Was ist Jugendarbeit,
München 1964.
2 Vgl. Anne Sliwka/Susanne Frank,
Service Learning. Verantwortung lernen in Schule und Gemeinde,
Weinheim-Basel 2004.
3 Vgl. Klaus Koopmann, Projekt aktive
Bürger. Sich demokratisch durchsetzen lernen. Eine
Arbeitsmappe, Mülheim 2001.
4 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung.
Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt/M. 1992, S.
173.
5 Vgl. Manuela Mechtel, S wie Schlampe,
Z wie Zichopat. Neuköllner Märchen: Was die Kinder vom
Berliner Reuterplatz in einer Poesie-Werkstatt erzählen, in:
Süddeutsche Zeitung vom 12.4. 2006. Zum ästhetischen
Ausdruck des Eigenen vgl. Benedikt Sturzenhecker/Christoph Riemer
(Hrsg.), Playing Arts. Impulse ästhetischer Bildung für
die Jugendarbeit, Weinheim-München 2005; vgl. auch
www.playing-arts.de.
6 Vgl. zur Realisierung von Demokratie
mit Jugendlichen und Partizipation in der Offenen Jugendarbeit
Raingard Knauer/Benedikt Sturzenhecker, Partizipation im
Jugendalter, in: Benno Hafeneger/Mechthild M. Jansen/Torsten
Niebling (Hrsg.), Kinder- und Jugendpartizipation im Spannungsfeld
von Akteuren und Interessen, Opladen 2005, S. 63 - 94; vgl. auch
www.partizipation-und-bildung.de.