Ralph Ghadban
Die Verpflichtungen der Menschen sollten sich nicht nach der Scharia richten, sagt der Islamwissenschaftler
Hat der Islam, wie er von vielen Muslimen gelebt wird, Schwierigkeiten mit unseren Freiheitsrechten?
Die überwiegende Mehrheit der Muslime hat eher Schwierigkeiten mit der verfehlten Integrationspolitik als mit dem demokratischen System. Aber auch der orthodoxe und der islamistisch organisierte Islam verhindern die Integration. An sich schreibt der Islam aber kein politisches System vor. Der einflussreiche deutsche Konvertit Murad W. Hofmann sagt etwa, man sei nicht gegen Demokratie, doch die Verfassung müsse auf dem Gottesrecht, der Scharia, beruhen.
Wo verläuft die Konfliktlinie?
Wir haben Verfassungen, deren Grundrechte sich aus den Menschenrechten ableiten. Die Würde des Menschen oder der Grundsatz Freiheit, Gleichheit, Solidarität sind darin fest verankert und kaum ein Christ würde dies anzweifeln. Im Islam gilt das Gottesrecht, dessen Vollstrecker der Mensch ist. Als Sachverwalter Gottes auf Erden hat der Mensch keine Rechte, sondern Pflichten.
Welches Menschenbild hat der Islam?
In säkularen Gesellschaften hat der Mensch durch seine bloße Existenz eine Würde, aus der sich Grundrechte wie Freiheit und Gleichheit herleiten lassen. Im Christentum ist die Würde des Menschen in seiner Natur als Ebenbild Gottes begründet. So steht es in der Bibel. Im Koran ist der Glaube der entscheidende Aspekt in der Natur des Menschen, nicht aber die Würde. Die Würdigsten für Gott sind die Frömmsten, die gläubigen Muslime. Der Koran verlangt die bedingungslose Unterwerfung unter die Allmacht Gottes und die Umsetzung seines Gesetzes, der Scharia.
Nun wird der Koran heute nicht mehr buchstabengetreu gelebt...
Das wurde er nie! Der Islam hat sich verschiedenen Kulturen angepasst, so kannte etwa der indonesische Islam die Polygamie nicht. Die Masse der Muslime hat die modernen Werte der Menschenrechte weitgehend verinnerlicht, der offizielle orthodoxe Islam hat diese Entwicklung allerdings nicht begleitet. Und der politische Islam bekämpft die Modernisierung.
Wo verläuft die Trennlinie zwischen dem orthodoxen Islam und dem politischen, dem Islamismus?
Es gibt ideologisch wenig Unterschiede. Beide beruhen auf dem Islamverständnis des 11. Jahrhunderts. Praktisch unterscheiden könnte man sie aber durch ihre Haltung zum Staat. Durch Modernisierung, wie etwa in der Türkei, wurde die Trennung von Staat und Religion geschaffen. Die Islamisten lehnen das ab, sie wollen den islamischen Staat. Seit etwa einem Jahrhundert gibt es eine Kraftprobe zwischen beiden Strömungen, wobei die Islamisten die Orthodoxen in die Ecke gedrängt haben. Deshalb geht es heute fast überall um die Scharia, die in die politischen Systeme integriert werden soll, nicht aber darum, den Islam in freie, säkulare Gesellschaften zu integrieren.
Versuchen auch islamische Vereine in Deutschland, die Scharia in Teilen in unser Leben zu integrieren?
Ja. Sie verfolgen wie die Islamisten - zwar nicht mit deren politischen Motiven, aber in ideologisch naher Verwandtschaft - die Islamisierung der sozialen Verhältnisse. Es sind nicht nur Islamisten, die ihre Töchter nicht zum Sportunterricht schicken, sondern zumeist durchschnittliche, traditionelle muslimische Bürger. Die Islamisten nutzen dies geschickt, um mehr Muslime für ihr Projekt, den islamischen Staat, zu gewinnen. Wir sollten deshalb intelligenter als bisher versuchen, Muslime für die säkulare, freie Gesellschaft zu gewinnen. Eine vernünftige Integrationspolitik würde die Entwicklung, die Muslime in die Arme der Islamisten treibt, stoppen.
Wie interpretieren Sie islamische Erklärungen zu den Menschenrechten?
Solche Erklärungen sind mit dem Kern, aber nicht dem Gesamtbestand der Menschenrechte einverstanden. Das Recht auf Leben gilt für die Gläubigen, aber nicht für Heiden und Abtrünnige; es ist nicht absolut, sondern kann verwirkt werden. Die Scharia setzt die Grenzen und verhindert die bedingungslose Annahme der Menschenrechte. 1980 wurde von der "Islamischen Weltliga" eine "Islamische Welterklärung" über die Menschenrechte verabschiedet, die aber jede politische Ordnung, die den Koran nicht als Verfassung akzeptiert, ausschließt. Auch die "Kairoer Erklärung" von 1990 ist nicht anders. Sie legt fest, dass alle Rechte und Freiheiten der Scharia unterliegen. Die Charta des "Zentralrates der Muslime" folgt dieser Vorgabe. Nur die liberalen Reformer brechen aus diesem Zirkel aus, versuchen eine Reformierung des Islams, die eine Abschaffung der Scharia zum Ziel hätte und Staat und Religion trennen würde.
Wie schafft man es, dass der Islam sich reformiert?
Man braucht eine neue Ethik. Die Grundlagen des islamischen Glaubens müssen nicht geändert werden, auch nicht sein Menschenbild. Allein die Verpflichtungen des Menschen sollten sich nicht mehr nach der Scharia, sondern nach ethischen Werten richten. Das aber bedeutet die Umwandlung des Gottesrechtes in ein ethisches System. Der Inhalt des Korans muss daher von seinem Text befreit werden. Eine ständig neue Koran-Auslegung wäre erforderlich.
Und Tariq Ramadan, den viele für den wichtigsten Modernisten halten?
Er ist kein Modernist. Er hält an der Scharia fest und bekämpft jede neue Exegese. Ramadan versucht mit den Mitteln des islamischen Rechtes eine Anpassung an die Moderne herbeizuführen. Das Ergebnis ist eine Islamisierung Europas und keine Europäisierung des Islams! Eine Anpassung des Scharia-Prinzips ist aber ohne seine Sprengung nicht möglich. Es bedarf einer theologischen Begründung, damit eine Reform kein Lippenbekenntnis bleibt - und muslimische Vertreter glaubwürdig sind.
Ramandan nennt sein Programm Euro-Islam - in Anlehnung an Bassam Tibi, der diesen Begriff Anfang der 90er- Jahre einführte?
Bassam Tibis Euro-Islam war eine Hoffnung und etwas völlig anderes als die Ideen von Ramadan. Tibi setzte darauf, dass die zweite Generation muslimischer Migranten die europäischen Werte verinnerlichen würde, aus dem sich ein Euro-Islam ergeben könnte. Ein Islam, der Demokratie, die Trennung von Religion und Staat, die individuellen Menschenrechte und eine pluralistische Zivilgesellschaft akzeptieren kann. Es ist anders gekommen. Wegen der fehlenden Integration wandte sich die dritte Generation eher den Islamisten zu, die ihnen eine islamische Identität und eine abgeschottete Lebensweise angeboten haben. Viele sind gegen die auf den Menschenrechten basierende westeuropäische Kultur, die sie für verkommen und dekadent halten.
Viele säkulare Muslime leben dennoch die westlichen Werte. Sie sehen sich aber islamischen Sittenwächtern ausgesetzt Wer vertritt die Interessen dieser Muslime?
Tariq Ramadan gewiss nicht. Er strebt die Integration des Westens in den Islam an. Bas- sam Tibi wäre ihr Vertreter gewesen, aber er konnte sich nicht durchsetzen. Die säkulare Gesellschaft, auch die deutsche, hat gelernt, die Fremden zu akzeptieren. Das klappt, weil sich die Bürger nicht zuerst religiös definieren. Aber sie verstehen nicht, warum so viele Muslime dieses Gesellschaftsmodell ablehnen. Es ist eine Bringschuld der Muslime, ihre Religion, vor allem das Scharia-Prinzip, neu zu durchdenken und sich uns anzupassen - aber nicht umgekehrt.
Die Fragen stellte Regina Mönch.
Sie ist Redakteurin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".