Afghanistan
Sollen vermeintliche Kriegsverbrecher am Wiederaufbau des zerstörten Landes beteiligt werden? Noch gibt es keine klare Strategie.
Nur einen Tag lang, am 10. Dezember 2006, stand der Bericht der Vereinten Nationen über Kriegsverbrechen in Afghanistan auf der UN-Webseite. Am nächsten Tag war er verschwunden. Eigentlich enthielt das Papier kaum Neues. Dennoch barg es so viel politischen Sprengstoff, dass die UN sich zum Rückzug entschieden.
Das Thema Kriegsverbrechen ist in Afghanistan ein Minenfeld, und die internationale Gemeinschaft tut sich schwer damit, eine klare Strategie im Umgang mit den Tätern zu entwickeln. Denn viele der vermeintlich schlimmsten Kriegsverbrecher des Landes bekleiden hohe Regierungsämter oder dominieren als Abgeordnete das Parlament.
Abdul Rabb al-Rasul Sayyaf etwa. Der ehemalige Oberkommandeur der Miliz Ittihad-e Islami ist einer der wichtigsten Verbündeten von Präsident Hamid Karzai. Unter seinem Kommando sollen Anfang der 1990er -Jahre Tausende Menschen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit verschleppt, gefoltert, vergewaltigt oder getötet worden sein.
Die afghanische Regierung und die westlichen Geber haben sich verpflichtet, auf eine rechtliche Aufarbeitung der Verbrechen hinzuarbeiten. Doch fünfeinhalb Jahre nach dem Sturz der Taliban ist kaum etwas geschehen. Aus Gründen der Stabilität wurden zahlreiche Kriegskommandeure in den Friedensprozess einbezogen. Inzwischen haben viele von ihnen über die neuen demokratischen Strukturen ihre Macht ausgebaut. Eine Verurteilung der Täter ist daher in weite Ferne gerückt.
Die Organisation Human Rights Watch sieht die Präsenz vermeintlicher Kriegsverbrecher in Parlament und Regierung als ein entscheidendes Hindernis für den Friedensprozess im Land. "Den Taliban ist es gelungen, dies zu ihrem Vorteil zu nutzen", sagt der stellvertretende Leiter der Asienabteilung, Sam Zarifi. "Sie säen Unmut, indem sie darauf hinweisen, dass eben jene wieder an der Macht sind, die für die schlimmsten Verbrechen verantwortlich sind."
Human Rights Watch wirft den westlichen Geberländern vor, den ehemaligen Bürgerkriegskommandeuren den Weg zurück an die Macht geebnet zu haben. "Präsident Karzai wurde in die Hände der Kriegsverbrecher getrieben, weil ihm die westlichen Mächte nicht die nötige Unterstützung gewährt haben", sagt Zarifi. Zudem habe sich die internationale Gemeinschaft ohne Not von den Milizenführern einschüchtern lassen. Tatsächlich verfügen sie nur noch über geringe militärische und politische Macht - und könnten leicht entmachtet werden. Der Afghanistan-Experte Conrad Schetter weist dagegen darauf hin, dass eine Machtbeteiligung von Kriegsakteuren in Nachkriegsgesellschaften eher die Regel als die Ausnahme ist. Die Forderung nach einer Verurteilung der Täter in Afghanistan hält er - wenngleich moralisch verständlich - für unpraktikabel: "Die Gräueltaten des Krieges können nicht einer Handvoll identifizierbarer Kriegsherren zugeordnet werden. Denn während des Krieges in Afghanistan waren die Grenzen zwischen Kämpfern und Zivilisten sowie zwischen Tätern und Opfer verwischt", sagt er.
Viele afghanische Beobachter warnen zudem vor einer direkten Konfrontation mit den ehemaligen Bürgerkriegskommandeuren. "Am Anfang war es ein Fehler, sie nicht zu entmachten. Aber danach wurde noch ein Fehler gemacht: Sie wurden ohne Grund in die Enge getrieben", sagt der Journalist Baseer Tahseen. Er gibt Human Rights Watch sogar eine Mitschuld am Wiedererstarken der Mujaheddin-Führer.
Die Organisation hatte im Dezember 2006 in einem Bericht afghanische Politiker der Kriegsverbrechen beschuldigt und gefordert, sie müssten vor Gericht gestellt werden. Kurz davor war im Irak Saddam Hussein gehängt worden. Beides hatte die Mujaheddin-Führer so beunruhigt, dass sie im Eiltempo eine Generalamnestie für Kriegsverbrecher durchs Parlament peitschten. Zwar legte der Präsident später eine geänderte Fassung vor, wonach einzelne Opfer Kriegsverbrecher vor Gericht bringen können, doch die Beweislast liegt nun auf Seiten der Opfer.
Das Gesetz hat den Aufbau eines Rechtsstaats in Afghanistan weit zurückgeworfen. In mehreren Gefängnissen traten Häftlinge in den Hungerstreik und forderten ihre Entlassung. Wenn Mörder und Vergewaltiger ungestraft davon kämen, wollten auch sie ihre Strafe nicht absitzen. "Das Amnestiegesetz wird Kriminelle ermutigen zu glauben, dass sie ungestraft töten können", sagt Ahmad Fahim Hakim, stellvertretender Leiter der afghanischen Menschenrechtskommission. Die Regierung bemüht sich seit längerem, die Kriegsfürsten durch symbolische Ämter in Kabul aus ihren Machtzentren zu locken und sie so zu schwächen. In vielen Fällen haben Regierung und internationale Geber sich jedoch den Drohungen der Warlords gebeugt. So hätten viele der heutigen Abgeordneten gar nicht an der Parlamentswahl teilnehmen dürfen. Wegen Verbindungen zu bewaffneten Gruppen waren sie zunächst disqualifiziert worden. Nach einigen Drohgebärden wurden sie jedoch wieder zugelassen. Inzwischen haben sich die Führer der bislang verfeindeten Mujaheddin-Gruppen in einer Nationalen Front zusammengeschlossen.
Human Rights Watch dagegen hält dies nur für Säbelrasseln. In vielen Nachkriegsgesellschaften sei die Furcht verbreitet, sich mit den Verbrechen der Vergangenheit zu beschäftigen, sagt Zarifi. "Historisch gesehen erweist sich dies aber oft als falsch." Die afghanische Menschenrechtskommission zieht es derweil vor, im Umgang mit Kriegsverbrechen leisezutreten. Man will die Mitarbeiter nicht in Gefahr bringen. Nach der Veröffentlichung des Human Rights Watch-Berichts hatten Mujaheddin-Führer die Kommission als Spione des Westens und schlechte Muslime diffamiert und bedroht. Viele gering gebildete Afghanen seien für diese Art der Propaganda anfällig und müssten erst über die Bedeutung von Menschenrechten aufgeklärt werden. Hakim kritisiert deshalb das konfrontative Vorgehen von westlichen Menschenrechtlern: "Es ist emotional, von außerhalb eine Erklärung abzugeben, aber was ist das Ergebnis - außer, dass man im Rampenlicht steht? Welchen Sinn macht es, Aufsehen zu erregen, bevor nicht die Voraussetzungen geschaffen sind?" Zu den wichtigsten Voraussetzungen gehörten Gesetze und Institutionen, um irgendwann einmal Kriegsverbrecher verurteilen oder andere Formen der Aufarbeitung umsetzen zu können, sagt Hakim. Afghanistan habe zwar die meisten internationalen Menschenrechtskonventionen unterschrieben, sie aber noch nicht in nationales Recht umgesetzt.
Das afghanische Rechtssystem ist noch lange nicht in der Lage, solche komplexen Prozesse durchzuführen. Viele Richter kennen zudem nur das islamische Recht. Eine ebenso große Herausforderung ist der Schutz von Zeugen und Dokumenten. Denn die Sicherheitskräfte sind nicht nur korrupt, sondern häufig auch jenen ehemaligen Bürgerkriegskommandanten verpflichtet, denen der Prozess gemacht werden könnte. Da dies in vielen Nachkriegsgesellschaften der Fall ist, haben die UN Instrumente wie etwa das Ad-Hoc-Strafgericht für Ruanda geschaffen, die außerhalb der Länder auf der Basis des internationalen Strafrechts agieren. Auch unterstützen die UN das Sonderstrafgericht in Sierra Leone, das im Land der Verbrechen tagt und Elemente aus nationalem und internationalem Strafrecht vereint. Doch selbst im Fall von Sierra Leone sitzen zahlreiche Hauptbeteiligte des Bürgerkriegs im Parlament und anderen Machtpo- sitionen.
In Afghanistan gibt es ebenfalls kaum Mitglieder der Elite, die nicht am Krieg beteiligt waren. Dies weist darauf hin, dass der Umgang mit Kriegsverbrechen nicht nur ein legaler, sondern auch ein langwieriger gesellschaftlicher Prozess ist. Die afghanische Menschenrechtskommission bemüht sich deshalb, die Bevölkerung stärker einzubeziehen. "Wir zeigen nicht mit Fingern auf Kriegsverbrecher", erklärt Hakim.
In diesem Prozess fühlt sich die Kommission aber von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen. Anstatt die vermeintlichen Täter auszugrenzen, würden sie von westlichen Gebern zum Mittagessen eingeladen, kritisiert Hakim. Zuletzt hatte sich die US-Politikerin Nancy Pelosi vor laufenden Kameras mit Ex-Kommandeur Sayyaf getroffen.
Auch die Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul, Ursula Koch-Laugwitz, plädiert für eine bewußtere Wahl der politischen Partner: "Es verblüfft mich, dass wir Menschen, deren Kriegsverbrechen nicht in Frage stehen, eine Bühne geben." Zwar sei es aus realpolitischen Gründen nicht vermeidbar, auch mit fragwürdigen Politikern zu sprechen. Auftritte mit politischer Signalkraft müssten jedoch vermieden werden, sagt sie.
Als Beispiel nennt sie eine Delegation sehr umstrittener Politiker, die kürzlich von der NATO nach Europa eingeladen worden seien. Der Stabschef der NATO-geführten Schutztruppe ISAF, Bruno Kasdorf, widerspricht: "Wir sind hier, um eine legitim gewählte Regierung zu unterstützen. Wie sich die Amtsinhaber rekrutieren, ist abhängig von denjenigen, die hier gewählt wurden." Seiner Ansicht nach ist das afghanische Umfeld zu komplex und kulturell fremd, als dass ein westlicher Beobachter es erfassen könne. "Das ganze auszubalancieren gelingt erstmal nur einem Afghanen. Da halte ich den Präsidenten für den richtigen Mann." Doch Ursula Koch-Laugwitz meint: "Wer mit dem Teufel tanzt, darf sich nicht wundern, wenn er anschließend nach Schwefel riecht."
Die Autorin arbeitet als freie Journalistin in Berlin und in Afghanistan.