EINWANDERUNG
Für die Flucht aus Afrika geben jährlich Tausende von Afrikanern alles - auch ihr Leben
Im Eilschritt läuft Jeffrey durch die verwinkelten Gassen der Medina von Tanger. An jeder Ecke hält er kurz, prüft mit einem besorgten Blick nach links und rechts, ob er nicht einen Polizisten oder eine andere verdächtige Gestalt entdeckt. Erst dann geht es weiter. "In ein Café können wir nicht gehen", erklärt der 25-Jährige nervös, "viel zu gefährlich." Nach etwa einer Viertelstunde erreichen wir endlich einen kleinen Hinterhof in der Altstadt, den er für sicher hält. Jeffrey kommt aus Nigeria und ist einer von etwa 500 Schwarzafrikanern, die derzeit in Tanger auf einen Platz in einem Boot ("patera") warten, das sie nach Spanien, ins goldene Europa bringen soll. Dorthin, wo es gut bezahlte Jobs und für alle ein sorgenfreies Leben im Luxus gibt.
Das jedenfalls denkt Jeffrey und auch alle anderen Migranten aus Schwarzafrika, die nach Tanger gekommen sind. Dass das Leben in Europa nicht so rosig sein könnte, wie sie es sich ausmalen, will keiner glauben. "Wer arbeiten will", erklärt Jeffrey, "findet auch eine Arbeit. Eine schöne Wohnung und eine gutes Auto kommen dann ganz von selbst". Für sein großes Glück nimmt der junge Mann alle Unannehmlichkeiten in Kauf. Gut drei Monate dauerte die Reise aus Nigeria bis nach Marokko. Mit Sammeltaxis, in Bussen und auf Lkws schaffte er die lange Fahrt durch die Wüste. In Algerien hat er seinen Pass weggeworfen.
Sollte Jeffrey irgendwann Spanien erreichen, setzt er darauf, dass die Behörden seine Identität nicht herausfinden. Nach spanischem Recht kann er dann nicht in sein Heimatland deportiert werden und ist nach 40 Tagen ein freier Mann. Offiziell müsste er zwar ausreisen, taucht aber unter und wird vielleicht wie andere Schwarzafrikaner CDs und DVDs auf den Straßen irgendeiner spanischen Großstadt verkaufen. Stolz zeigt Jeffrey mir einen kleinen, abgegriffenen Zettel, auf dem die Telefonnummer eines Freundes in Barcelona steht.
Seit vier Jahren ist der junge Nigerianer bereits in Marokko und schlägt sich mit Betteln und Gelegenheitsjobs durch, die rar und schlecht bezahlt sind. Ganz am Anfang, bei seiner Ankunft, hatte Jeffrey noch Geld. Wie viele andere auch, wurde er betrogen. "Ich gab 1.000 Euro einem unserer ,Patrons', der normalerweise die Verbindung zu einem marokkanischen Bootsmann herstellt. Mein Kontaktmann ist jedoch plötzlich verschwunden und hat sich mit meinem Geld wohl selbst einen Platz auf einem Boot gekauft", erzählt Jeffrey kopfschüttelnd und sichtlich verärgert. "Nun sitze ich fest, kann weder zurück noch vorwärt.". Ein Schicksal, das er sich mit vielen anderen Flüchtlingen teilt. Zurück in seine Heimat will er unter keinen Umständen
Jeden Tag kann Jeffrey in eine Razzia der marokkanischen Polizei geraten. Dann wird er nach Oujda, in die ganz im Nordosten gelegene Grenzstadt zu Algerien, abgeschoben. Schon zweimal ist ihm das passiert. Dort sammelt die Polizei Schwarzafrikaner aus ganz Marokko, um sie im Niemandsland zwischen Marokko und Algerien auszusetzen. Offiziell gelten sie als abgeschoben. Auf Schleichwegen kommen sie jedoch alle wieder zurück.
Weit über 1.000 Flüchtlinge wohnen mittlerweile in Oujda, campieren auf dem Gelände der Universität oder in umliegenden Wäldern der Stadt, schätzt "Ärzte ohne Grenzen", eine Organisation, die sich um die medizinische Versorgung ausschließlich von schwarzafrikanischen Migranten in Marokko kümmert.
"Mittlerweile ist es schwieriger", sagt Jeffrey, "aus Oujda wieder rauszukomme.". Heute kann er als Schwarzafrikaner ohne legale Papiere keinen Bus oder Zug nehmen. Auch den Fahrern der billigen Sammeltaxis ist es verboten, ihn mitzunehmen. Geld für ein Versteck auf einem Lkw hat Jeffrey nicht. Er müsste die 600 Kilometer nach Tanger wieder einmal zu Fuß gehen. Allerdings könnte ihm auch noch etwas Schlimmeres widerfahren, nämlich die Deportation nach Nigeria. In den letzten Monaten setzten die marokkanischen Behörden Hunderte von Immigranten ins Flugzeug und schickten sie - ob mit Pass oder nicht - zurück in ihre Heimatländer.
"Dann wäre alles umsonst gewesen", meint Jeffrey mit resigniertem Blick. Er ärgert sich sowieso, dass er sich für Tanger entschieden hatte und nicht für die Westsahara oder Mauretanien. "Dann wäre ich schon längst in Spanie.". Er meint die Kanarischen Inseln, wo fast täglich Boote, voll mit Flüchtlingen von der afrikanischen Küste, ankommen. Insgesamt 31.200 Menschen schafften 2006 so die gefährliche Reise auf die Kanaren.
Nicht alle afrikanische Migranten überleben die 800 Kilometer lange Überfahrt. Die Boote sind nicht hochseetauglich, Proviant und Wasser knapp, viele verlieren einfach die Orientierung. Allein 2006 sind nach Schätzungen der spanischen Behörden 6.000 Migranten ums Leben gekommen. Über die Meerenge von Gibraltar sind es zwar nur 15 Kilometer von Marokko nach Spanien, trotzdem ist die Fahrt nicht ungefährlich. Zwischen 2000 und 2005 sollen -so das Rote Kreuz von Tarifa, der Küstenstadt direkt gegenüber von Tanger auf der spanischen Seite des Mittelmeeres - mehr als 4000 Menschen ertrunken sein. Vielleicht hatte Jeffrey Glück, dass er sich noch keinen Platz auf einem Boot leisten konnte. Etwas, das er natürlich völlig anders sieht. Jeffrey wohnt in Tanger in einem "save house". Er teilt sich etwa 15 Quadratmeter mit vier anderen afrikanischen Immigranten. 150 Euro müssen sie für diese Miniwohnung bezahlen, die normalerweise 50 Euro kosten würde. Nicht alle Immigranten können es sich eine Wohnung in der Medina von Tanger leisten. Sie campieren außerhalb der Stadt. "Eine einzige Katastrophe", sagt Natalie Dari, Projektleiterin von "Ärzte ohne Grenzen" in Tanger. "Es gibt nicht ausreichend Wasser und Verpflegung, viele sind schlecht ernährt. Im Sommer ist es natürlich besser, aber im Winter bei Kälte, Wind und Regen, ohne genügend Decken ist es schrecklich."
Seit drei Jahren unterhalten "Die Ärzte ohne Grenzen" in Tanger eine kleine Nothilfepraxis für Migranten aus Schwarzafrika. Der Behandlungsraum, in dem jeden Freitag die Sprechstunde stattfindet, ist kaum 20 Quadratmeter groß. Ein Viertel aller Behandlungen, das hat eine Untersuchung der Organisation ergeben, sind auf die Einwirkung von Gewalt zurückzuführen - die Hälfte davon begangen von der marokkanischen Polizei. Der Rest beruht auf internen Konflikten, meist in den Camps.
Niemandem, außer dem Team von "Ärzten ohne Grenzen", ist es erlaubt, die Lager zu betreten. Gerade Journalisten sind unerwünscht. Als ich nach einem 20-minütigen Fußmarsch das Plateau des Hügels erreiche und die grünen und blauen Plastikplanen der Zelte sehe, empfangen mich einige Gestalten, die lange Eisenstangen in Händen halten, die sie immer wieder bedrohlich auf den Boden schlagen. Die Botschaft ist eindeutig, der einzige Weg führt wieder zurück nach unten. Beim Abstieg treffe ich auf James aus dem Senegal. Bereitwillig erzählt er mir von den Brutalitäten der marokkanischen Polizei. Er zeigt mir seine Narben auf dem Kopf, eine frische am Arm. "Sie nehmen uns alles, was wir nicht rechtzeitig verstecken können. In erster Linie haben sie es auf Geld und Handys abgesehen", sagt James. "Geschlagen wird man so oder so."
Verhaftet sei aber aus dem Lager schon lange niemand mehr, berichtet der 25-Jährige weiter. Wahrscheinlich wissen die marokkanischen Behörden nicht wohin mit den Immigranten. Die rund zweihundert Zeltbewohner würden bei der Polizei von Tanger wohl ein logistisches Chaos auslösen. Im Wald stören sie niemanden. Wahrscheinlich wird "Ärzte ohne Grenzen" mit reduziertem Personal in Tanger weitermachen. Früher gab es das ganze Jahr über etwa 1.500 Migranten. In den Sommermonaten kamen einige Hundert regelmäßig hinzu. Im Juli und August ist das Mittelmeer ruhiger, und die Überfahrt in schnellen Zodiacs oder kleinen Fischerbooten nicht so gefährlich. "Heute sind es in Tanger und Umgebung nur etwa 500 Menschen", sagt Natalie Daris, die ihre Arbeit als Projektleiterin aufgeben wird.
Große Sammelpunkte sind heute im Norden die Grenzstadt Oujda, im Süden Rabat und Casablanca an der Atlantikküste, wo alleine über 5.000 Migranten leben. Grund für die Fluktuation sind die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen auf beiden Seiten des Mittelmeeres, die den illegalen Bootsverkehr fast unmöglich machten. Ende 2005 stürmten verzweifelte Immigranten die Grenzzäune von Ceuta und Melilla, der beiden spanischen Enklaven auf marokkanischem Territorium. Nach diesen Vorfällen, bei denen 161 Schwarzafrikanern die Flucht auf europäischen Boden gelang, rüstete Spanien die Grenzanlagen mit Radar, Nachtsichtgeräten, Pfählen und einer Sprinkleranlage für "Störmittel" auf. Die Europäische Union stellte 40 Million Euro als Soforthilfe für Marokko zur Grenzsicherung zur Verfügung. "Wir wollen für Marokko ein Zeichen setzen, dass wir zur Seite stehen", versicherte Franco Frattini, EU-Kommissar für Freiheit, Sicherheit und Justiz. Heute bewachen marokkanische Soldaten die Grenzen von Ceuta und Melilla. Die Grenzpolizei Marokkos patrouilliert mit neuen Booten entlang der Mittelmeerküste und koordiniert ihre Einsätze mit den spanischen Kollegen.
Heute organisieren nur mehr wenige, dafür hoch professionelle Schmugglerbanden Fahrten nach Spanien. Entsprechend Angebot und Nachfrage sind die Preise für einen Platz in den "pateras" gestiegen. 2.000 Euro kostet der inzwischen. Eine Summe, die für die meisten Schwarzafrikaner unerschwinglich ist. Jeffrey hat einen Freund in Casablanca, mit dem er regelmäßig telefoniert. "Jedes Mal erzählt er mir", sagt Jeffrey, "dass er gutes Geld verdient. Er will mich überreden, dass ich auch komme." Aber Jeffrey möchte nicht. "Ich bin nicht Tausende von Kilometern gefahren und habe Jahre gewartet, um in Casablanca zu leben. Ich will nach Europa."
Der Autor ist freier Journalist in Marokko.