MENSCHENRECHTE
Sie sind universell. Dennoch haben sie weltweit unterschiedliches Gewicht.
Die Universalität der Menschenrechte bestreiten heißt leugnen, dass es überhaupt Menschenrechte gibt. Daher rührt die Brisanz der Fragestellung, die übrigens keineswegs neu ist, sondern die Geschichte der Menschenrechtsbewegung von Anfang an begleitet hat. Schon 1790 attackierte Edmund Burke, Abgeordneter im englischen Unterhaus, die von der Französischen Revolution proklamierten Menschenrechte als eine abstrakt-geschichtslose Konstruktion, die zum Scheitern verurteilt sei. Er könne sich Rechte der Engländer oder anderer Nationen vorstellen, aber nicht Rechte des Menschen an sich. Burke entwickelte damit ein Leitmotiv der Menschenrechtskritik, das sowohl von den französischen Denkern der katholischen Gegenrevolution als auch vom preußischen Staatsphilosophen Hegel aufgegriffen wurde. Zu den Gegnern der Menschenrechte in Europa zählte über lange Zeit auch die katholische Kirche. Erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das vom Oktober 1962 bis zum Dezember 1965 stattfand, erkannte der Katholizismus offiziell die Religionsfreiheit an, die in päpstlichen Dokumenten des 19. Jahrhunderts als Ausdruck verwerflicher Selbstüberhebung des Menschen verurteilt worden war.
Die kurze Rückblende auf die europäische Menschenrechtskritik zeigt, dass wir es in der Auseinandersetzung um die Universalität der Menschenrechte keineswegs mit einem "clash of civilizations" zwischen Europa und Asien oder etwa zwischen christlich und islamisch geprägten Kulturregionen zu tun haben. Dieser Eindruck konnte entstehen, weil in den letzten beiden Jahrzehnten insbesondere Vertreter ostasiatischer und islamischer Staaten - wie etwa Singapur, Malaysia, die Volksrepublik China, Iran oder Sudan - die kulturrelativistische Karte ausspielten, um den Geltungsanspruch der Menschenrechte zu unterminieren. Tatsächlich aber verläuft die Kontroverse um die Menschenrechte mitten durch die Länder und Kulturregionen.
Zwar sind die Menschenrechte als politisch-rechtliches Konzept historisch zunächst in Europa und Nordamerika - in den Schriften von John Locke, Moses Mendelssohn, Olympe de Gouches, Thomas Paine oder Immanuel Kant - formuliert worden. Die Anerkennung und wirksame Durchsetzung der Menschenrechte war aber auch in Europa Gegenstand lang anhaltender politischer Auseinandersetzungen, die auch bis heute keineswegs abgeschlossen sind. Solche Kontroversen finden mittlerweile in allen Regionen der Welt statt - es sei denn, sie werden mit Gewalt unterdrückt. Auch in islamisch geprägten Staaten beziehungsweise in den Ländern Afrikas und Asiens gibt es viele Menschen, die sich nicht selten unter Inkaufnahme erheblicher Risiken für die Menschenrechte einsetzen - man denke nur an die Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi aus Iran, die Bürgerrechtlerin Aung San Suu Kyi aus Myanmar oder den aus Sudan stammenden Menschenrechtler Abullahi An-Na'im.
Zu den zäh aufrechterhaltenen Klischees gehört die Vorstellung, Menschenrechte seien Ausdruck eines individualistischen Menschenbildes, das mit gemeinschaftlich orientierten Wertesystemen (manche denken dabei heute an so genannte "asiatische Werte") unvereinbar sei. Richtig ist vielmehr, dass die Menschenrechte die Würde und Freiheit jedes einzelnen Menschen schützen. Gerade dadurch aber ermöglichen sie Formen freier Gemeinschaftsbildung.
Ein gutes Beispiel bietet das Menschenrecht auf freie Eheschließung. Es zielt auf die Überwindung von Zwangsverheiratungen und andere Formen familiärer und gesellschaftlicher Bevormundung, unter denen vor allem Frauen und Mädchen leiden. Es wäre absurd, wollte man im Recht der freien Eheschließung die Auflösung der Ehe und familiärer Solidaritätsstrukturen sehen. Auch Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit oder etwa das Recht auf Bildung haben unverkennbar gemeinschaftliche Aspekte. Nicht der oft beschworene angebliche Gegensatz von Individuum und Gemeinschaft macht deshalb die Zielsetzung der Menschenrechte aus. Vielmehr steht die durch Menschenrechte ermöglichte freie Gemeinschaftsbildung in der doppelten Frontstellung gegen autoritäre Kollektivismen und gegen soziale Ausgrenzungen. Menschenrechtswidrig wären demnach zum Beispiel Familienstrukturen, die Familienmitgliedern das Recht der Selbstbestimmung verweigern, Religionsgemeinschaften, die Abtrünnige mit Gewalt bedrohen, oder Volksdemokratien ohne Pressefreiheit und Rechte der Opposition. Ebenfalls unter Menschenrechtsgesichtspunkten inakzeptabel aber wäre beispielsweise eine gesellschaftliche Praxis, die Menschen mit Behinderungen vom öffentlichen Leben absondert und sie damit in die Isolation treibt.
Ein weiteres Klischee besagt, der menschenrechtliche Universalismus laufe im Ergebnis auf eine gleichförmige, nivellierte Weltgesellschaft hinaus. Tatsächlich aber haben Menschenrechte mit Uniformität nichts gemein. Denn die Gleichheit, die sie verbürgen, zielt auf die gleichberechtigte Freiheit der Menschen, ihren je eigenen Lebensweg zu finden, ihre eigene Meinung zu entwickeln und zu äußern und nach ihren unterschiedlichen Überzeugungen zu leben. Indem sie dazu beitragen, dass selbstbestimmtes Leben nicht das Privileg ökonomischer und politischer Eliten bleibt, setzen die Menschenrechte eine Mannigfaltigkeit von Lebensweisen, Überzeugungen und kulturellen Ausdrucksformen frei. Sie schaffen nicht Gleichförmigkeit, sondern fördern Vielfalt.
Die Aufgabe, diese Vielfalt innerhalb einer sich globalisierenden Welt zu gestalten, lässt sich heute ohne Menschenrechte nicht mehr lösen. Denn die Menschenrechte stiften eine Gemeinsamkeit zwischen Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen, kulturellen Herkünften und politischen Positionen, die - ungeachtet bleibender Differenzen - darin übereinstimmen, dass Würde, Freiheit und Gleichberechtigung aller zu respektieren ist. Diese grundlegende Einsicht hat in den letzten Jahrzehnten institutionellen Rückhalt in einer Reihe einander ergänzender Menschenrechtskonventionen gefunden: von der Antifolterkonvention und den Übereinkommen zur Abschaffung rassistischer und sexistischer Diskriminierung über die Kinderrechtskonvention bis hin zu der jüngst entstandenen Behindertenkonvention. Ihr Ursprungsdokument ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die die Vereinten Nationen im Dezember 1948 unter dem Schock des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs verabschiedet haben. Artikel 1 formuliert das Bekenntnis zur Universalität der Menschenrechte: "Alle Menschen sind frei und an Würde und Rechten gleich geboren."
Die Anerkennung der Universalität der Menschenrechte ist nicht primär eine Frage von rhetorischen Bekenntnissen. Sie hat sich vor allem in der praktischen Politik zu bewähren. Nach Einschätzung internationaler Menschenrechtsorganisationen, des Menschenrechtskommissars des Europarats und der Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen hat der globale Kampf gegen den Terrorismus vielfach als Vorwand dafür herhalten müssen, Oppositionelle zu inhaftieren, die Presse zu zensieren, Datenschutzstandards aufzuweichen, zivilgesellschaftliche Organisationen zu drangsalieren und sogar die Anwendung von Folter zu rechtfertigen. Die Gefahr, dass menschenrechtliche Errungenschaften zur Disposition gestellt werden, besteht weltweit. Auch die Aufgabe, die Menschenrechte zu verteidigen und weiterzuentwickeln, stellt deshalb eine weltweite Herausforderung dar. Ihre Prämisse ist die Einsicht, dass alle Menschen einen Anspruch auf Respekt ihrer Menschenwürde und ihrer grundlegenden Rechte haben. Nichts anderes ist mit dem Begriff der Universalität gemeint.
Der Autor ist Leiter des Deutschen Instituts für Menschenrechte.