Frau Kraft, Sie sind seit einem halben Jahr Vorsitzende des größten SPD-Landesverbands. Früher konnte die Bundes-SPD gegen den Willen von NRW nicht einmal einen Hausmeister einstellen. Muss Parteichef Kurt Beck Sie fürchten?
Nein. Aber Nordrhein-Westfalen ist immer noch der größte Landesverband - und hat bei der Meinungsbildung weiter großen Einfluss.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat Kurt Beck als "Rampensau" gelobt und ihn damit inoffiziell zum nächsten Kanzlerkandidaten ernannt. Eine gute Entscheidung?
Das Wort "Rampensau" gehört nicht zu meinem Vokabular. Aber Kurt Beck ist ein guter Vorsitzender und hat das erste Zugriffsrecht.
Machen Sie sich Sorgen, weil im Moment alle Medien auf Beck einschlagen?
Das ärgert mich. Vor allem deshalb, weil es offenbar einige Stichwortgeber aus der SPD gibt, die diese Kampagne befeuern.
Wer denn?
Das weiß ich nicht. Aber ganz ohne Quellen aus der Partei entstehen solche Geschichten nicht.
Herr Beck wünscht sich im Bund eine Ampelkoalition mit FDP und Grünen. Sie haben in NRW die Linkspartei als Partner ins Gespräch gebracht. Wollten Sie ein Gegengewicht setzen?
Ich habe zu keiner Zeit, die Partei "Die Linke" als Partner ins Gespräch gebracht. Wir sind uns in der SPD einig, dass über Koalitionen in den Ländern auch in den Ländern entschieden wird. Aber in NRW dauert es noch drei Jahre bis zur nächsten Landtagswahl, und die Linke hat noch nicht einmal ihren Zusammenschluss vollzogen. Da ist es abwegig, über Koalitionen zu reden. Ich mache ernst damit, sie inhaltlich zu stellen, anstatt sie zu stigmatisieren. Klar ist allerdings, dass das neue Zweistimmenwahlrecht in NRW der Linken nützen könnte.
Welchen Eindruck haben Sie?
Ich habe in der Sommerpause ein Streitgespräch mit dem designierten Landesvorsitzenden Wolfgang Zimmermann geführt. Seine Positionen waren hoch spannend: Er will keine soziale Marktwirtschaft, sondern einen Systemwechsel, das heißt de facto einen Ausstieg aus der EU und der NATO. Er will eine weitgehende Verstaatlichung der Industrie. Die Exportregion NRW würde das zehntausende Arbeitsplätze kosten.
Die Linke betont dagegen Gemeinsamkeiten, etwa bei der Ablehnung von Studiengebühren oder der Forderung nach einem Mindestlohn.
Das sind seit Jahren unsere Themen, auf die sie sich draufgesetzt haben. Daraus einen Fundus von Gemeinsamkeiten zu machen, geht mir zu weit. Wir sind es, die die Sozialpolitik machen und für soziale Gerechtigkeit stehen. Wir werden den Linken hier wenig Raum lassen.
Der frühere Arbeitsminister Wolfgang Clement hat in dieser Woche den Mindestlohn als schädlich bezeichnet, sein Nachfolger Franz Müntefering will ihn zum Wahlkampfthema machen. Wer hat Recht?
Der eine ist noch im aktiven politischen Geschäft - und der andere nicht mehr. Wer sich mit Menschen in Leiharbeitsfirmen unterhält, weiß, dass die gezahlten Löhne vielerorts skandalös sind. Und weil der mit der Union gefundene Kompromiss nicht ausreicht, werden wir beim Mindestlohn nicht
lockerlassen.
Welche Höhe sollte ein Mindestlohn Ihre Meinung nach haben?
Ich halte es für sinnvoll, nach englischem Vorbild eine "low pay commission" einzurichten, die Vorschläge für die verschiedenen Branchen erarbeitet. Deren Ergebnisse werden am Ende nicht weit unter dem liegen, was der DGB fordert.
Was halten Sie von Münteferings Idee, die Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze an den Mindestlohn zu koppeln?
Das ist nur logisch: Wer die Hartz-IV-Sätze erhöhen will, muss das finanzieren. Wenn es einen Mindestlohn gäbe, würde die Aufstockung bei Niedriglohnempfängern wegfallen. Zusätzlich sollten wir aber auch darüber nachdenken, Einmalzahlungen für Kinder wieder einzuführen. Der Wegfall der
direkten Beihilfen war vor allem für Familien fatal.
Warum?
Nehmen Sie nur meinen Sohn: Der ist 14 und trägt Schuhgröße 47. Wäre ich Hartz-IV-Empfängerin gewesen, hätte ich ihm niemals regelmäßig neue Schuhe kaufen können.
Die Beihilfen waren Teil des alten Sozialhilfesystems. Wollen Sie dahin zurück?
Nein. Aber für Hartz IV gilt, was für ein Auto gilt: Nach ein paar Jahren ist eine Inspektion fällig.
Was unterscheidet Ihre "Inspektion" von der "Revision", die Ihr Gegenspieler Jürgen Rüttgers fordert?
Ganz einfach: Anders als er stelle ich die Hartz-Reformen nicht grundsätzlich in Frage.
Jürgen Rüttgers schien in NRW in den vergangenen beiden Jahren unantastbar, nun verliert er erstmals in Umfragen. Macht Ihnen das Hoffnung?
Die Menschen haben den Auftritt des Sozialschauspielers Rüttgers schnell durchschaut. Dieses Image ist sehr schnell zerbrochen: Er hat das Jahr 2006 zum Jahr des Kindes ausgerufen und gleichzeitig 160 Millionen Euro bei den Kindergärten gekürzt. Er hat sich zum Arbeiterführer ernannt und zerschlägt die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst. Und er hat die Grundschulbezirke aufgelöst - was dazu geführt hat, dass die Auslese zwischen reichen und armen Kindern weiter zugenommen hat.
Sie nennen Rüttgers unsozial. Könnte er Sie nicht als unmodern bezeichnen - etwa weil Sie an der Steinkohle festhalten wollen?
Moment. Kohle ist weltweit Zukunft und nicht Vergangenheit. Alles, was die schwarz-gelbe Landesregierung an Innovationspolitik tut, ist von uns abgekupfert: Der Aufbau von Clustern, etwa für Logistik oder Energieforschung, all das ist SPD-Politik. Wir haben in 39 Jahren Regierungszeit in Nordrhein-Westfalen sicher nicht alles richtig gemacht - aber den Strukturwandel im Ruhrgebiet haben wir hinbekommen.
Was ist neu unter Ihnen?
Etwa in der Bildungspolitik wollen wir mit der Gemeinschaftsschule längeres gemeinsames Lernen für alle Kinder ermöglichen.
Mit dieser Forderung ist die SPD in NRW allerdings schon einmal gescheitert.
Ja. Aber ich glaube, dass es mittlerweile einen Mentalitätswandel bei Eltern und Lehrern gibt. Dass uns das jetzige Abschulsystem nicht weiter bringt, haben spätestens die PISA-Tests gezeigt.
Wenn es nicht klappt mit dem Wahlsieg 2010 in Nordrhein-Westfalen - könnten Sie sich dann auch vorstellen, nach Berlin zu wechseln?
Die Frage stellt sich nicht, weil wir gewinnen werden. Die Nähe zu meiner Familie ist mir sehr wichtig. Außerdem gehöre ich nicht zu den Menschen, die Bundespolitik für etwas qualitativ Besseres als Landespolitik halten.
Wann ist denn die SPD so weit, eine Kanzlerkandidatin aufzustellen?
Das weiß ich nicht. Aber die Frauen sind in dieser Partei auf dem Vormarsch.
Die Fragen stellten Annika Joeres und Klaus Jansen.