Artis Pabriks
Der lettische Außenminister hält den Ostseerat für unverzichtbar. Lettland führt derzeit die Präsidentschaft der Organisation
Herr Minister, ist für Sie die Ostsee eher ein trennendes oder ein verbindendes Element zwischen den Staaten?
Ich bin in Jurmula an der Ostsee geboren. Als ich klein war, nahm mich mein Vater oft mit zum Strand und sagte: "Siehst du, auf der anderen Seite, da ist Schweden." So bekam ich eine visuelle Vorstellung davon, wie man zu einer völlig anderen Welt gelangen konnte. Aus diesem Blickwinkel war die Ostsee für mich persönlich eindeutig immer ein verbindendes Element, wie für die meisten Letten.
Der Ostseerat wurde 1992 von Hans-Dietrich Genscher und Uffe Ellemann Jensen, den damaligen Außenministern Deutschlands und Dänemarks, gegründet. Er sollte eine Brücke zwischen Ost und West schlagen. Ist dies gelungen?
Ja - in vielerlei Hinsicht. Die politische Leistung Genschers und Jensens ist bewundernswert, sie haben genau im richtigen Augenblick die Initiative ergriffen. 1992 fehlte vielen Menschen weltweit noch der Glaube an Veränderungen nach dem Fall der Berliner Mauer. Sie wussten nicht, was nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschehen würde, was mit den neuen unabhängigen Staaten geschehen würde. Mein Land war zu der Zeit weder Nato- noch EU-Mitglied, unsere Wirtschaft brach zusammen. Es war eine geniale Idee, den Ostseerat zu gründen. Später diente er als gutes Fundament für den politischen und sozialen Reformprozess in den Ostseestaaten, trotz der Unterschiede der vorangegangenen 50 Jahre. Die Initiative half uns auch, schneller in den freien Markt integriert zu werden. Wie man sehen kann, haben wir uns innerhalb von 15 Jahren anderen nordischen Staaten extrem angenähert. Und es war schließlich diese Initiative, die uns zurück in die Gemeinschaft der nordischen Staaten gebracht hat.
Heute sind alle Ostsee-Anrainer bis auf Russland Mitglieder der Europäischen Union. Ist der Ostseerat überhaupt noch notwendig?
Natürlich haben sich die Zeiten geändert. Und das bedeutet, dass nach 15 Jahren auch die Institutionen über einen Reformprozess nachdenken sollten. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Ostseerat nicht auch seinen Platz hat. Es gibt viele Themen, mit denen wir uns beschäftigen können. Erstens ist es wichtig, die Institution aus der Sicht der EU zu betrachten. Wir brauchen Programme, die diese beiden Organisationen näher zusammen bringen. Zweitens gibt es regionale Themen unterhalb der EU-Ebene, mit denen wir uns intensiver beschäftigen können und sollten. Im Wesentlichen ist die Ostsee einer der Hauptgründe, warum es diese Organisation gibt. Und schließlich ist sie auch ein wichtiges Werkzeug zur Einbindung Russlands, das weder EU- noch Nato-Mitglied ist, aber dem Ostseerat angehört.
In einem Artikel über die Zukunft des Ostseerats schrieben Sie, dass es nicht mehr die Regierungen seien, die die Richtung vorgäben. Es seien mehr Unternehmen, regionale Behörden, Universitäten und unabhängige Organisationen, die zusammen arbeiteten...
Welche Rolle die Regierungen in Zukunft spielen werden, ist eine viel umfassendere, philosophische Frage. Im Falle des Ostseerats haben die Regierungen der Mitgliedstaaten die Aufgabe, initiativ tätig zu werden. Es gibt jedoch viele Themen, die nicht auf oberster Ebene behandelt werden müssen. Wir müssen die Kompetenzbereiche einiger staatlicher Stellen auf lokale Ebenen übertragen und Bildungs- und Wirtschaftsinstitutionen stärken. Gesellschaften sind dann erfolgreich, wenn man die staatlichen und nichtstaatlichen Kräfte kombiniert.
Glauben Sie, Russland will die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedern im Ostseeraum verstärken?
Die russische Diplomatie lässt sich nicht so leicht beschreiben. Wenn wir ehrlich sind, geht es Russland normalerweise immer um sein eigenes Interesse. Aber seine Interessen können mit den Interessen anderer Länder verbunden sein. In diesen Fällen ist eine gute Zusammenarbeit möglich.
Im Juli hat die einjährige lettische Präsidentschaft im Ostseerat begonnen. Einer Ihrer Schwerpunkte ist die Bildung, insbesondere die Hochschulausbildung. In diesem Bereich gibt es bereits eine Vielzahl von Austauschprogrammen und Kooperationen. Welche Pläne haben Sie?
Wir können sicherlich nicht alle Ziele während unserer Präsidentschaft erreichen. Aber wir müssen langfristig und übergreifend denken, und auch hier wiederum aus dem Blickwinkel der EU. Global gesehen fällt die EU in wirtschaftlicher Hinsicht hinter die meisten fortschrittlichen Regionen zurück. Ein Grund ist die Bildungsmisere, vor allem in Wissenschaft und Universitätsausbildung sind uns insbesondere die USA zunehmend voraus. Meine Vision ist es, ein stark wettbewerbsorientiertes Hochschulnetzwerk in unserer Region zu etablieren und die Universitäten zusammenzubringen, damit wir mit den besten Einrichtungen der Welt konkurrieren können.
Woher bekommen Sie das Geld dafür?
Nun, das ist eine Frage, die die allgemeine Vorstellung von der Zukunft Europas betrifft, und eine Frage von Prioritäten. Ich kann hier nicht für den Ostseerat sprechen, aber nach meinem Verständnis können wir die besten Ziele nur durch die Kombination von privater Beteiligung und halbprivatem Kapital verwirklichen.
In dem Artikel, den ich vorhin schon ansprach, schrieben Sie, dass Bildung und Wissenschaft einen Wirtschaftsboom begründen sollten, und dass dieser effektiver zu Innovationen in der Region beitragen und die Region so zu einem "Wachstumszentrum des 21. Jahrhunderts" werden könnte. Welche Technologien wollen Sie fördern?
Zunächst müssen wir schauen, in welchen Technologien wir naturgemäß immer stark waren und diese Nische nutzen. Selbstverständlich kommen wir am IT-Bereich nicht vorbei, denn hier besteht ein starker Wettbewerb mit anderen Regionen weltweit. Ein weiteres Feld sind die Ingenieurwissenschaften. Und wir brauchen auch die Sozialwissenschaften.
Wirtschaftlich gesehen scheint es den bevölkerungsmäßig kleineren Ostseestaaten gut zu gehen, den Ostseeregionen der beiden größten Anrainerstaaten, Polen und Deutschland, hingegen nicht. Was macht Deutschland falsch?
Ein Präsident aus dem Baltikum hat einmal gesagt: Wenn unruhige Zeiten kommen, stehen Reformen an, und es ist viel leichter, einen kleinen Kajak zu drehen als einen großen Tanker. Deutschland ist ein großes Land mit viel Potenzial. Es ist die Achse der EU-Zusammenarbeit. Die baltischen Staaten unterstützen viele deutsche Initiativen. Ich möchte Ihnen keine Ratschläge erteilen. Aber wenn wir von unserer Seite aus einen Tipp geben könnten, wäre es dieser: Wenn sich ein Land nicht immer wieder an neue Gegebenheiten anpasst, kann es keine tragfähige Entwicklung geben. Haben Sie keine Angst vor Reformen.
Einige der Ostseestaaten sind nationalistischer als andere, zum Beispiel Polen, wie auf dem jüngsten EU-Gipfel zu beobachten war; andere teilen schon seit Jahrzehnten bestimmte Werte. Entwickelt sich in der Ostseeregion eine eigene politische Identität, die die Bevölkerungen der Staaten verbindet?
Nationalismus und Populismus gehören zur politischen Kultur in jeder Gesellschaft, sei es in Russland, Polen, Deutschland, Lettland oder einem anderen Land. Die Frage ist: Wann wird versucht, diese Phänomene zu wecken, und warum? Ich glaube, die Staaten entlang der Ostsee haben viel gemeinsam und ein Stück gemeinsame Identität. Aber sie ist nicht stärker als die nationale Identität. Nationale und kollektive Identitäten schließen sich jedoch nicht aus, sie können sich überschneiden. Unsere Aufgabe ist es, an den Identitäten zu arbeiten, die verbinden und nicht trennen. Ich kann allen Politikern, die mit Nationalgefühl und populistischen Ideen herumspielen, nur raten, dies ernst zu nehmen, denn es stehen gemeinsame Ziele auf dem Spiel.
Das Interview führte Bert Schulz.