EDITORIAL
Die Ostsee ist ein junges Meer, gerade einmal 12.000 Jahre alt. In mehreren Etappen bildete sich aus einer massiven Masse von Gletschern und Eis ein bis zu 460 Meter tiefes Binnenmeer mit einer vielfältigen, zumeist lebensfreundlichen Küstenlandschaft heraus. Die Verwandlung verlief - gemessen in erdgeschichtlichen Dimensionen - unglaublich rasant. Und sie dauert weiter an, für jeden sichtbar.
Derzeit erlebt die Ostsee noch eine zweite Veränderung, die - diesmal gemessen in politischen Dimensionen - ähnlich unglaublich schnell abläuft. Wer die Entwicklung der Ostsee-Anrainer seit 1990 beobachtet, staunt: Aus einem Meer, das zwei Machträume trennte, ist ein einendes Element geworden. Aus einer geografisch, wirtschaftlich und politisch eher periphären Gegend ist eine dynamische Region geworden; und aus einem Teil Europas ein Teil der Europäischen Union. Das heißt jedoch nicht, dass damit plötzlich alles und alle gleich sind. Neben politischen Problemen, etwa die Einbindung Russlands, das kein EU-Mitglied ist, und neben wirtschaftlichen Unterschieden besteht eine große kulturelle Vielfalt, erkennbar bereits an den neun Sprachen, die offiziell gesprochen werden.
Diese mal harten, mal eher weichen Brüche machen die Zusammenarbeit zwischen den Staaten, Regionen, Städten und Kommunen zu einer nicht immer einfachen, aber reizvollen Aufgabe. Der Ostseeraum ist inzwischen überzogen von einer ganzen Reihe von Netzwerken und Institutionen unterschiedlichster Art. Er wurde damit auch zu einem Experimentierfeld, wie Austausch und Kooperation funktionieren können - und wie nicht. Dass die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen zwischen den Ostseestaaten auch in Zukunft ausgebaut werden, daran besteht kein Zweifel. Nach der mächtigen Öresund-Brücke entsteht in wenigen Jahren eine Brücke über den Fehmarnbelt. Beides sind außergewöhnliche Errungenschaften - technisch, politisch und symbolisch. Auch der Schiffsverkehr nimmt zu, ein Zeichen für die gestiegene Bedeutung des Handels und des Tourismus.
Spannend bleibt es dennoch zu beobachten, ob das Meer wirklich wieder zu jenem verbindenden Element wird, das es lange war. Welche Bedeutung hat es für die Bewohner der Anrainerstaaten, vor allem kulturell? Welche Vorteile bringt es für die Wirtschaft und die Wissenschaft - oder spielt diese räumliche Nähe in Zeiten der Globalisierung überhaupt keine Rolle mehr? Kann die Ostsee - poetisch formuliert - die Hindernisse zwischen den Staaten so sanft wegspülen wie Küstensand? Und können es die Staaten gemeinsam erreichen, dass das Meer nicht schmutziger, sondern sauberer wird und dass die einzigartige Naturlandschaft erhalten bleibt? Sicher ist: Diese rasanten Veränderungen dauern an - für jeden sichtbar.
Der Autor ist Redakteur der "tageszeitung" in Berlin.