Die beispiellose Pannenserie in den beiden schleswig-holsteinischen Atomkraftwerken Krümmel und Brunsbüttel, der dramatische Weltklimabericht der Vereinten Nationen: Es ging hoch her in den letzten Monaten für Michael Müller, seit Regierungsantritt der Großen Koalition im November 2005 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und dort zuständig für die aktuellen Topthemen Reaktorsicherheit, Energie und Klima.
Doch von Stress oder Angespanntheit ist dem SPD-Politiker, der ganz leger in schwarzen Jeans und ohne Krawatte in seinem Dienstzimmer mit Blick auf den Berliner Alexanderplatz sitzt, nichts anzumerken. Vielleicht liegt das daran, dass er ein alter Hase im politischen Geschäft ist - und ein eigenwilliger Kopf dazu, der von medienwirksamen Aufgeregtheiten nicht viel hält.
"Was wir im Augenblick erleben, ist, dass die alten Vorbehalte gegen die Atomenergie wieder hochkommen", sagt der 59-Jährige mit dem Kinnbart und den wachen Augen, der bereits seit 1983 für seinen Düsseldorfer Wahlkreis im Bundestag sitzt. "Ich möchte aber gern über die Alternativen reden, doch darüber lässt sich in Notsituationen nur schwer diskutieren."
Zum Thema Atomkraft hat Müller eine dezidierte Meinung - seit Jahrzehnten schon. "Aus meiner Sicht ist die Atomenergie Ausdruck eines längst überholten Denkens", erklärt er. "Die klassische Energiepolitik bestand darin, möglichst viele große Kapazitäten zu schaffen, um die Menschen auch in einer extremen Notsituation versorgen zu können. Meine Philosophie lässt sich mit der Frage umschreiben: Wie komme ich mit möglichst wenig Energie zu den gewünschten Leistungen? Also weg vom Versorgungsdenken hin zu einem Effizienz- und Vermeidungsdenken."
Bereits 1968 - lange bevor die Grünen auf der politischen Bildfläche erschienen - schrieb der damals Zwanzigjährige seinen ersten Artikel gegen die Kernkraft, engagierte sich in der Umweltbewegung und organisierte Demonstrationen gegen Atomkraftwerke - unter den Sozialdemokraten war er damit eine recht exotische Erscheinung. Rasch wurde Parteichef Willy Brandt auf den umtriebigen Querdenker in den eigenen Reihen aufmerksam, ließ sich von Müller Reden zu umweltpolitischen Themen schreiben.
Der Ökologie ist der Theaterfan - "Ich gehe bestimmt fünfzig Mal im Jahr ins Theater" - während seiner gesamten politischen Karriere treu geblieben, in den 90er-Jahren war er umweltpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Vorsitzender der Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt".
Dank seiner Sachkenntnis lässt sich Müller, der mehrere Bücher zu Energiefragen und zum Klimawandel herausgegeben und selbst geschrieben hat, bei Umweltthemen so schnell nichts vormachen. "Was beim Thema Klimawandel alles als letzte Neuheit verkauft wird, wundert mich schon", sagt er mit leisem Spott. "1987 habe ich eins der ersten Bücher zum Klimawandel überhaupt herausgegeben. Darin sind alle Prognosen und Lösungswege bereits beschrieben, zu denen der Weltklimarat im Februar dieses Jahres gekommen ist."
Es sind wohl solche ernüchternden Einsichten in die begrenzten Möglichkeiten, mit Fachartikeln ein ökologisches Umdenken bei den Menschen und damit in der Politik zu bewirken, die den vielseitig interessierten Diplombetriebswirt nach anderen Wegen suchen lassen, um "Reflexionsmechanismen auszulösen".
Derzeit versucht er sich an einem Theaterstück. "Darin geht es um den Widerspruch zwischen Wissen und Handeln, darum, dass wir unser Wissen nicht mehr verarbeiten können", erzählt Müller. "In dem Stück gibt es eine Szene, eine Original-Nachrichtensendung des ZDF von vor zwei Jahren. Diese Sendung besteht aus neun Meldungen, alle neun berichten von einer Katas-trophe: von einem Flugzeugabsturz, von Attentaten und so weiter. All das trägt der Nachrichtensprecher in zweieinhalb Minuten vor. Das begreift doch kein Mensch mehr."Und mit einem Augenzwinkern fügt er hinzu: "Die zehnte Meldung war übrigens auch noch beschissen, das war das Wetter."