Wehrmacht
Viele Soldaten nahmen die Kriegsverbrechen hin. Manche beteiligten sich auch.
Ist die Zeit der deutschen Täter vorbei, kommt nun die Zeit der deutschen Opfer?", fragte der "Stern" vor einiger Zeit. Tatsächlich: Was in den vergangenen Jahren über den Zweiten Weltkrieg geschrieben und gesendet wurde, hatte oft das Leid der Deutschen zum Thema. Der "Spiegel" widmete dem Bombenkrieg Serien, Günter Grass legte einen Roman über den Untergang des Flüchtlingsschiffs "Wilhelm Gustloff" vor und Guido Knopps Reihe zur Flucht der Deutschen aus den Ostgebieten erreichte beste Einschaltquoten.
Der Historiker Sven Oliver Müller hat einen "verbreiteten revisionistischen Erinnerungstrend" ausgemacht. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter hat er bei der Konzeption der viel diskutierten Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" mitgearbeitet und will sein Buch "Deutsche Soldaten und ihre Feinde" auch als Antwort auf die angebliche "Relativierung deutscher Verantwortung" verstanden wissen. Müller beleuchtet "nationalistische Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen von einfachen Wehrmachtsangehörigen an der Ostfront zwischen 1941 und 1944". Die Quellenbasis seiner Forschung sind Feldpostbriefe. Er erforscht die nationalistischen und rassistischen Vorstellungen und Feindbilder der Soldaten und fragt danach, inwieweit die Berufung auf Volk und Rasse die Anwendung exzessiver Gewalt im Vernichtungskrieg beförderte.
Die neun bis zehn Millionen Soldaten, die im Laufe des Krieges an der Ostfront im Einsatz waren, waren in ihrem Denken repräsentativ für die deutsche Gesellschaft. In den Briefen tauchten übereinstimmende Stereotype für Russland und seine Bewohner auf. Oft wurde der Gegensatz zu Deutschland hervorgehoben: Unordnung gegen Ordnung, Primitivität gegen Kultur und Mensch gegen Untermensch. Müller zeigt, wie die Soldaten diese Gegensätzlichkeit zwischen sich und dem Gegner zur Abgrenzung ihrer Volksgemeinschaft benutzten: "Feindschaft ist mithin ein Produkt der nationalistischen Per- spektive."
Der Nationalismus an der Ostfront förderte Kriegsverbrechen gegen russische Gefangene und Massenmorde an Juden. Wer seinen Gegner für rassisch minderwertig hält, nimmt Morde und Verbrechen schnell als notwendig hin. So wie der Gefreite Heinz S. in seinem Brief vom Mai 1942: "Vor unserer Stadt sind auch zwei Massengräber. In einem liegen 20.000 Juden und in dem anderen 40.000 Russen. Zuerst ist man davon erschüttert, aber wenn man an die große Idee denkt, dann muss man ja selbst sagen, dass es nötig war." Vom Akzeptieren der Verbrechen zum eigenen Morden war es oft nur ein kleiner Schritt. "Gestern waren wir mit der SS gnädig", schreibt ein Soldat an seine Eltern, "denn jeder Jude, den wir erwischten, wurde sofort erschossen."
Müllers Fazit: Die Teilhabe der deutschen Soldaten am Krieg beschränkte sich nicht auf die passive Erfüllung von Pflichten und Befehle. "Das Denken und Reden in den Kategorien der Nation hieß oft, sich für die radikalste Verhaltensweise zu entscheiden, um sich als Deutscher, als Mann und als Soldat zu bewähren." Nationalistisch gesinnte Soldaten waren demnach an Massenmorden beteiligt, weil sie keine Alternative für ihr Tun sahen, obwohl objektiv betrachtet die Möglichkeit bestand, auch anders zu handeln. Müller will wie viele andere Historiker auch den Topos von der sauberen Wehrmacht als Mythos entlarven. Recht hat er. Die Wissenschaft hat die Verbrechen von Teilen der Wehrmacht längst belegt. Genauso sicher ist, dass nicht jeder der neun Millionen deutschen Soldaten der Ostfront daran beteiligt war.
Deutsche Soldaten und ihre Feinde. Nationalismus an Front und Heimat-front im Zweiten Weltkrieg.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2007; 329 S., 19,90 ¤