Argentinien
Cristina de Kirchner gewinnt die Präsidentschaftswahl. Sie wird wohl die Politik ihres Mannes fortsetzen.
Sie ist zwar nicht die erste Staatspräsidentin Argentiniens, aber Cristina Elisabet Fernández de Kirchner ist das erste gewählte weibliche Staatsoberhaupt, das in die Casa Rosada einzieht. Bei den Wahlen am 28. Oktober erhielt die Gattin des seit Mai 2003 regierenden Präsidenten Néstor Kirchner knapp 45 Prozent der Stimmen. Eine von der zersplitterten Opposition erhoffte Stichwahl erübrigte sich damit. Allerdings gaben trotz Wahlpflicht nur 71,8 Prozent der 27 Millionen Wahlberechtigten die Stimme ab, die niedrigste Wahlbeteiligung seit 1946. Die allgemeine Politikverdrossenheit hat damit in Argentinien neue Höhen erklommen. Eine Umfrage der Firma Poliarquia kurz vor dem Urnengang hatte gezeigt, dass mehr als 70 Prozent der fast 40 Millionen Argentinier keinerlei Interesse an der Politik bekundet.
Da verwundert es nicht, dass sich auch kaum jemand darüber aufregte, als Präsident Kirchner seine Frau für die Nachfolge ohne jegliche Rücksprache mit seinem Kabinett oder seiner peronistischen Gerechtigkeitspartei (Partido Justicialista, PJ) nominierte. Diese wird seit Jahren zwangsverwaltet, da sie ihren eigenen Statuten nicht mehr entspricht. Und so trat Frau Kirchner an mit einer Wahlplattform "Front für den Sieg" (Frente para la Victoria). Als Vizepräsident gehört ihr der Gouverneur der Provinz Mendoza, Julio Cobos, an - ein Mitglied der mittelinken "Radikalen Bürgerunion" (Union Civica Radical), an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Sammelbecken der nach politischer Integration strebenden Immigranten. Längst läuft ein tiefer Riss durch diese ehedem stolze Partei und in den meisten Landesteilen optierten UCR-Politiker als Kirchner-Anhänger für die "Front für den Sieg". Diese erhielt auch eine überwältigende Unterstützung bei den gleichzeitig stattfindenden Wahlen zur Erneuerung der Hälfte des Abgeordnetenhauses, eines Drittels des Senats und bei der Wahl von acht Provinzgouverneuren. Entscheidend war vor allem die Wahl des amtierenden Vizepräsidenten Daniel Scioli zum neuen Gouverneur der Provinz Buenos Aires, der wichtigsten des Landes: Wer sie regiert, sitzt an einem entscheidenden Schalthebel der Macht. Der anders als Nestor Kirchner stets um Ausgleich bemühte ehemalige Rennbootfahrer Scioli, könnte gute Chancen haben, sich für die Präsidentschaftswahlen 2011 zu positionieren. In der Hauptstadt Buenos Aires, traditionell die wichtigste Hochburg des Antiperonismus, konnte sich Frau Kirchner nicht durchsetzten. An erster Stelle lag Elisa Carrio mit ihrer "Bürgerkoalition" (Coalicion Cívica), einem Zusammenschluss heterogener politischer Grüppchen und Persönlichkeiten. Da gerade in Buenos Aires viele Wähler auf einen zweiten Wahlgang hofften, erhielt Frau Carrio allerdings viele Leihstimmen aus dem Lager des Liberalen Ricardo Lopez Murphy und von Mauricio Macri. Dieser wird ab Anfang Dezember neuer Chef der autonomen Hauptstadtregierung. Seine Vizeregierungschefin ist Gabriela Michetti, eine an den Rollstuhl gebundene Sozialwissenschaftlerin und vielleicht interessanteste Persönlichkeit der Opposition. Auch in den wichtigen Metropolen Córdoba und Rosario, sowie den Städten Santa Fé, Bahia Blanca, Mar del Plata und La Plata gewann die Opposition: Nicht nur die von den Kirchners gern verunglimpfte kleine Oberschicht, sondern gerade die urbanen Mittelschichten haben Frau Kirchner durchgehend nicht gewählt.
Dennoch ist die designierte Staatspräsidentin ausgestattet mit einer so komfortablen Machtbasis, dass sie eigentlich "durchregieren" könnte. Für die Porteños, die Einwohner von Buenos Aires, bedeutete dies schon wenige Tage nach dem Wahlsonntag massive Erhöhung der Licht-, Gas-, Benzin- und Transportpreise. Alberto Fernández, der allmächtige Kabinettschef von Präsident Kirchner, hatte diesen Rachefeldzug gegen die Kirchner-feindliche Hauptstadt am Tag nach den Wahlen angekündigt: Er warf den Porteños vor, sie seien arrogant und lebten "wie auf einer Insel". Auch mit den anderen Anti-Kirchner-Landesteilen wird man wohl in Zukunft ähnlich verfahren, denn nicht nur der Präsident, sondern auch seine Frau gelten als extrem nachtragend und rachsüchtig. Aber auch für diejenigen Provinzen, die auf Seiten des Ehepaares stehen, könnten die nächsten Monate Veränderungen bringen: Die wirtschaftliche Realität wird schmerzliche Anpassungen erzwingen.
Néstor Kirchner hatte nach seinem Regierungsantritt in einem gigantischen Umschuldungspaket den Gläubigern Argentiniens den größten Schuldenverzicht der internationalen Finanzgeschichte abgetrotzt. Allerdings blieben gut 20 Milliarden Dollar außen vor. Diese mit Zinsen nun auf 25 Milliarden Dollar angewachsenen "Hold-outs" erschweren eine Normalisierung der argentinischen Finanzlage ebenso wie die 7 Milliarden Dollar Schulden gegenüber den im Pariser Club zusammengefassten staatlichen Gläubigern - Deutschland an erster Stelle. Bei Währungsreserven von 42 Milliarden Dollar wäre es allerdings für Kirchner ein leichtes, dieses Problem aus der Welt zu räumen. Allerdings ginge dies nur unter Einbeziehung des Internationalen Währungsfonds (IWF), den der Linksnationalist Kirchner für alle Schwierigkeiten Argentiniens verantwortlicht macht. Die IWF-Statuten sehen vor, dass vor einer Schuldenregulierung ein Monitoring stattfinden muss. Eben dies will Kirchner verhindern, denn sein Geflecht aus wirtschaftsdirigistischen Maßnahmen kann der Fonds nicht gutheißen. Dazu gehören staatliche Preiskontrollen, hohe Steuern auf die landwirtschaftlichen Exporte und das Einfrieren der Tarife von Strom, Gas und Elektrizität der meist spanischen und französischen Betreiberfirmen auf dem Niveau des Jahres 2001.
Dies und der künstlich niedrig gehaltene Peso haben längst auch wieder die Inflation angefacht, die nach Meinung des ehemaligen Wirtschaftsministers Roberto Lavagna dieses Jahr um die 20 Prozent betragen wird. Um dies zu verschleiern, manipuliert Kirchner die Zahlen des Statistikinstituts Indec. Die sprunghaft gestiegenen Einnahmen aus den Agrarexporten, die über die Exportzölle direkt in die Staatskasse fließen, geben Kirchner allerdings weiterhin eine riesige Finanzierungsmasse in die Hand. Nach Gutdünken verteilt er diese Gelder an seine Günstlinge, so dass am Rio de la Plata längst vom "Capitalismo de Amigos" gesprochen wird. Kirchner hat ohne Not den vor gut zehn Jahren unter dem ehemaligen Präsidenten Carlos Saúl Menem eingeschränkten Einfluss der peronistischen Gewerkschaften gestärkt. Den muss seine Frau nun bändigen, will sie das Heft des Handels nicht aus der Hand verlieren. Hugo Moyano, der mächtigste Gewerkschaftsführer, hat Lohnerhöhungen von 20 bis 30 Prozent angekündigt und außerdem eine Indexierungsklausel gefordert, die natürlich die Inflation weiter anfachen würde. Dass die Mietverträge seit kurzem wieder eine solche Anpassungsklausel haben, ist ein sicheres Indiz für die wieder aufflammende Geldentwertung.
Der ehemalige Staatspräsident Uruguays Julio María Sanguinetti forderte in einem Beitrag in der argentinischen Tageszeitung "La Nacion" in diesen Tagen von der gewählten Präsidentin vor allem "Ernsthaftigkeit" (Sinceramiento) und bezeichnete Argentinien als "wunderbares, aber unkalkulierbares Land". Sanguinetti dürfte dabei vor allem an den Konflikt denken, der zwischen den beiden Nationen entstanden ist, weil Uruguay der finnischen Papierfirma Botnia den Bau einer Zellulosefabrik am Grenzfluss zu Argentinien gestattete. Argentinische Umweltgruppen blockieren seit über eineinhalb Jahren den Grenzverkehr, obgleich die Firma alle Umweltauflagen erfüllte. Präsident Kirchner duldete diesen Rechtsbruch bisher. Der "Fall Botnia" ist deshalb längst mehr als ein Scharmützel zwischen den beiden traditionell befreundeten Nationen: Es ist der Lackmustest argentinischer Glaubwürdigkeit. Diese hat unter Néstor Kirchners Isolationismus gewaltig gelitten: So hat Buenos Aires Gaslieferverträge mit Chile gebrochen und unterhält mit Venezuelas gewähltem Diktator Hugo Chávez besonders freundliche Beziehungen, weil dieser argentinische Staatspapiere kauft. Für deren Bedienung müssen die Argentinier allerdings doppelt so hohe Zinsen zahlen wie an den IWF, hätten sie den Kredit mit diesem abgewickelt.