Deutschland ist erwachsen geworden. Heißt das, dass wir jetzt alle Wessis sind? Oder Wossis? Nach dem 18. Jahrestag des Mauerfalls ist es wohl so: Die Menschen lernen langsam, selbstverständlich zusammen zu sein. Über die Teilung und ihre Überwindung reden viele aber zu wenig. Es ist das größte Defizit der deutschen Einheit.
Ost- und Westdeutsche sind sich über die Jahre nahe gekommen, auch in ihren sozialen Sorgen. Sie ähneln sich aber ebenso mit ihren Leerstellen im Gedächtnis. Allzu oft fehlen gemeinsame Erinnerungen an die deutsch-deutsche Teilungsgeschichte. Selbst die Kinder des Umbruchs, der ohne Vorgeschichte nicht zu begreifen ist, spüren die Lücken - im Schulunterricht, in dem die DDR noch immer eine Fußnote der Geschichte ist.
In der Novembernacht 1989, in der viele schon schliefen, wurden in Berlin Träume wahr. Aber auch Erwartungen fielen zusammen vom glitzernden Fernsehwesten; unbegrenzte Hoffnungen, die sich in den eingegrenzten Menschen angestaut hatten. Der Freiheitsdrang, die Wahnsinnslust auf alles Neue, auch die Angst davor - all diese Gefühle haben die Ostdeutschen im Umbruch geprägt. Das Schweigen danach, das Zurückziehen aus der selbst gewählten Demokratie, die noch weithin sichtbare Ostalgie - es sind auch Reaktionen auf Erwartungen von damals. Bei allen Aufbauleistungen des vereinten Landes, bei allen Missverständnissen zwischen Ossis und Wessis, bei manchem Neid und manch ironischer Versöhnung - die gemeinsame Geschichte ist vielen Menschen noch nicht selbstverständlich nahe. Eltern und Lehrer müssen mehr erzählen. Jüngere, die längst in einer entgrenzten Welt leben, sollten mehr nachfragen. Denn über ihre Geschichte können Ost und West entdecken, wie nahe sie sich sind.