Kapitalismuskritik
Eine überflüssige Schocktherapie
Haben Sie eigentlich noch alle Tassen im Schrank?" Mit einer frecheren Frage kann man ein Interview eigentlich nicht einläuten. Anscheinend war der "Zeit"-Journalist nach der Lektüre des neuen Anti-Globalisierungsschockers von Naomi Klein noch zu benommen, um sich der 37-jährigen Publizistin rhetorisch nüchterner zu nähern. Die kanadische Bestsellerautorin indes parierte gelassen mit der entwaffnenden Gegenfrage: "Meinen Sie?" Weiß sie doch seit ihrem erfolgreichen Erstling "No Logo" um die Verteufelung ihrer Thesen in neoliberalen Zirkeln, aber auch um deren Popularität in kapitalismuskritischen Kreisen.
Vermutlich wird auch ihre über 700 Seiten starke Kampfschrift gegen den "Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus" weniger voreingenommene Leser polarisieren. Denn wenn die "Haupttheoretikerin" unter den Globalisierungsgegnern anhand Dutzender von Krisen der letzten 30 Jahre zu beweisen sucht, dass den Elektroschockexperimenten der 1950er-Jahre und der wirtschaftsliberalen "Schockdoktrin" des kürzlich verstorbenen Nobelpreisträgers Milton Friedman ähnliche Denk- und Handlungsmuster zugrunde liegen, stellt sich die Frage: Hält man ihre Theorie von der systematischen Ausnutzung des Schocks zum Zwecke einer vermeintlichen Wahrheitsfindung oder Wohlstandsmehrung für überzeugend oder überzogen?
Bei genauerer Betrachtung muss die Antwort lauten: Ihre "Theorie" ist überflüssig. Mit ihr lässt sich keineswegs erklären, wieso etwa nach dem Sturz Allendes in Chile Anfang der 1970er-Jahre, dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 90er-Jahren oder der Invasion im Irak zu Beginn dieses Jahrtausends ein skrupelloser wirtschaftsliberaler Kurs eingeschlagen wurde. Denn genügend andere Beispiele zeigen, das nicht auf jede Krise oder Katastrophe zwangsläufig ein reinrassiger Raubtierkapitalismus folgte, der die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher machte. Aber genau diesen Eindruck möchte Naomi Klein mit ihren Enthüllungen aus der Welt der Machtpolitiker und Mega-Manager erzeugen.
Das gelingt ihr meist deswegen so überzeugend, weil sie fast ausschließlich nur Krisen, Fakten und Argumente anführt, die ihr Freund-Feind-Schema bestätigen. In dem Milton Friedman, seine Eleven oder Renegaten die "Monster" verkörpern und die von Staatsstreichen, Hyperinflation, Angriffskriegen oder Naturkatastrophen geschockte Zivilgesellschaft die Opferrolle zukommt. Naomi Klein hat ein klares Feindbild, das selten von differenzierten Zwischentönen getrübt wird.
Als Menschrechtsaktivistin steht sie mit gutem Grund auf Seiten der Entrechteten, Unterdrückten und Ausgebeuteten. Doch genau diesen Opfern erweist sie einen Bärendienst, wenn sie mit ihren polemischen Angriffen gegen die "Hohepriester der Globalisierung" und ihren hinkenden Vergleichen die Fronten verhärtet und sich darauf beschränkt, mehr oder weniger bekannte Skandale aufzulisten und die verantwortlichen Drahtzieher anzuprangern.
Gewiss ist es der glänzend formulierenden Journalistin und ihrem ausgezeichneten Rechercheteam nicht hoch genug anzurechnen, die Schattenseiten von Privatisierung, Deregulierung und Sozialabbau durch drastische Momentaufnahmen aus den Krisengebieten, schockierende Fakten und Zahlen grell auszuleuchten.
Aber leider vermag sie die Katastrophen in Lateinamerika, Südostasien, Südafrika, dem Nahen Osten oder China nie in ihren ganzen, auch politischen Komplexität zu erfassen. Außerdem blendet sie krisenauslösende Faktoren, wie etwa die sozialistische Miss- und Vetternwirtschaft, fast immer aus, relativiert sie und richtet den Blick allein auf die schockartige Einführung und das Scheitern marktradikaler Reformen. Von einer so einflussreichen, mitunter scharfsinnigen Globalisierungskritikerin hätte man zudem gerne gewusst, mit welchen Maßnahmen die Krisen konkret vermeid- oder lösbar gewesen wären. Und dass eine Laissez-faire-Wirtschaft weder Freiheit noch Wohlstand für alle bringt, wissen wir spätestens seit dem 18. Jahrhundert, als die Jünger von Radikalökonom Adam Smith auszogen, um die Nationen mit ihrer Idee vom freien Markt zu beglücken.
Ihr Vorschlag eines dritten Weges, irgendwo zwischen Kapitalismus und Kommunismus, klingt gut, aber nebulös. Denn mit welchen finanzierbaren Reformen er im Zeitalter der Globalisierung dauerhaft beschritten werden kann, lässt sie offen. Wie hart um sozial- und gleichzeitig marktverträgliche Lösungen gerungen wird, kann man ja derzeit in vielen Demokratien Euro-pas beobachten. Aber Klein scheut die intellektuellen Mühen, konkrete politische und ökonomische Strategien zu entwickeln. Stattdessen bedient sie sich genau wie ihre Gegner einer Schock-Strategie, die zwar das Gute will, aber nur das Schlechte ablehnt. Die Gunst der Krise sollte lieber genutzt werden, um neue, flexible Ideen zu entwickeln und nicht nur alte, starre zu diskreditieren. Den Opfern kapitalistischer Übergriffe wäre mit einer wirtschaftspolitisch fundierten Therapie der Schocks sicher mehr geholfen als mit einer rein publizistischen Schocktherapie.
Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2007; 763 S., 22,90 ¤