RUSSLAND
Der Wahlkampf schleppt sich lustlos dahin. Viele Oppositionelle sind erst gar nicht zugelassen.
In der vollgepackten Twerer Szenebar "Fabrika Blues" herrscht schweigendes Entsetzen: Gerade hat die russische Fußballnationalmannschaft unglücklich gegen Israel verloren, eine möglicherweise vorentscheidende Niederlage im Kampf um die Qualifikation zur Europameisterschaft. Da tritt ein junger Mann lächelnd an mich heran: "Keine Sorge, wir qualifizieren uns noch. Fußball, das ist hohe Politik. Jetzt ist die Stimmung auf dem Tiefpunkt. Aber bei uns stehen Wahlen vor der Tür, und es gibt noch einen Spieltag. Du wirst sehen, danach werden alle begeistert sein."
Tatsächlich würde ein Fußballtriumph der allgemeinen Laune in Russland nicht schaden. Vor allem der allgemeinen Laune vor den Wahlen zur Staatsduma am 2. Dezember. Der Wahlkampf schleppt sich lustlos seinem Ende entgegen. "Wenn es den Russen gut geht, geht es allen gut", die Stammtischparolen des Nationalpopulisten Wladimir Schirinowskij kennt man schon von den vorletzten Wahlen. "Putins Plans ist Russlands Sieg", auch die Plakate der Kremlpartei "Einiges Russland" (ER) lassen keine rechte Stimmung aufkommen.
Ansonsten hat das Fernsehen den Wahlkampf zum größten Teil ins Frühstücksprogramm verbannt. Auf dem staatlichen Ersten Kanal verfolgen gegen acht Uhr morgens gerade 1,5 Prozent des schlaftrunkenden TV-Publikums, wie sich der Kandidat Sergej Mytrochin von der liberalen Jabloko-Partei mit dem Kandidaten Sergej Belych von der liberalen "Union der rechten Kräfte" (UdRP) heftig streitet, wer von ihnen in Moskau gemeinsamere Sache mit dem korruptionsumwitterten Bürgermeister Luschkow gemacht habe. Es erstaunt, wie oft die Vertreter der beiden einzigen halbwegs oppositionellen Parteien auf den Bildschirm zusammenprallen. Als wolle ein unsichtbarer Regisseur auch dem letzten Wähler klar machen, dass die demokratischen Kräfte hoffnungslos zerstritten sind. Dass die Kremlpartei ER auch diesmal auf die Teilnahme an den Fernsehdebatten verzichtet hat, erstaunt dagegen niemanden mehr. "Sinnlos, sich diese Debatten anzusehen", wettert der Schriftsteller Valentin Rasputin. "Weil alles schon vorher entschieden ist."
Nach jüngsten Umfragen der Meinungsforschungsinstitute kann ER mit 42 bis 53 Prozent der Stimmen rechnen. Im Endergebnis aber legen die Einheitsrussen bei allen Wahlen gegenüber den Umfragen immer beachtlich zu. Es gehört nicht viel prognostische Kühnheit dazu, um Russlands künftiger Staatsduma neben die einstige DDR-Volkskammer zu stellen: Die Einheitspartei dominiert, flankiert von hörigen Blockflöten.
Lust zum Wählen macht das alles nicht. Soziologen wie Wladimir Petuchow von der Akademie der Wissenschaften rechnet mit einer Wahlbeteiligung von 50 bis 55 Prozent. Seit Monaten wird das Personal in Steuerbehörden, Wohnungsverwaltungen und auf Kolchosen dazu vergattert, erstens zur Wahl zu gehen und zweitens für ER zu stimmen. Oder wie die Einladung zum Elternabend in einem Kindergarten in der Wolgarepublik Tschuwaschien verkündet: "Tagesordnungspunkt eins: Videofilm über den Besuch von Wladimir Wladimorowitsch Putin in unserer Republik. Tagesordnungspunkt zwei: Das Wahlprogramm der Partei Einiges Russland." Die Wahlzeitungen der UdRP, die sich als einzige Partei erlaubt, Putin und sein Regiment im Stil westlicher Oppositionsparteien zu kritisieren, werden dagegen in Millionenauflagen beschlagnahmt. Radikalere demokratische Kräfte wie Garri Kasparows "Anderes Russlands" oder die "Republikaner" Wladimir Ryschkows sind erst gar nicht zugelassen worden. Das Ergebnis ist der langweiligste Wahlkampf in Russland seit Breschnjew.
Aber auch die bisherige Duma produziert alles andere als politische Spannung, allzeit bereit, den Initiativen des Kremls schnellstmöglich Gesetzeskraft zu verleihen.
Und das große Fragezeichen dieses Winters hängt über dem Kreml: Wer wird im März zu Wladimir Putins Nachfolger gewählt? Und was wird aus Wladimir Putin? Als der kürzlich bei einer Plauderei mit sibirischen Bauarbeitern erklärte, er wolle auch in Zukunft von seinem "moralischen Recht Gebrauch machen, Regierung sowie Parlament jederzeit zur Rede zu stellen" und hoffe auf ein dementsprechendes Ergebnis bei den Duma-Wahlen, ging ein Raunen durch Moskaus politische Öffentlichkeit: Ganz offenbar rechnet Putin mit einer Zweidrittelmehrheit für ER in der Duma, die es erlaubt, jederzeit die Verfassung zu ändern.
Als sich wenige Tage später in der Provinzstadt Twer eine allrussische Bewegung "Für Putin" gründete, deren erklärtes Ziel es ist, Putin den Status eines "nationalen Führers" zu verleihen, begann man in Moskau zu diskutieren, ob der Kreml die Monarchie mit Wladimir Putin als neuem Zaren wieder einführen wolle. Tatsächlich herrscht unter Experten ebenso Ratlosigkeit wie beim Wahlvolk. Wird Putin nach den Präsidentschaftswahlen Pensionär, Premier oder - mit ein paar Monaten Anstandspause - doch wieder Präsident? Oder Ehrenspielführer und Oberschiedsrichter der russischen Politik? Die wirklich zentralen Entscheidungen in Russland fallen längst unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Russland hat sich doch für die Fußballeuropameisterschaft qualifiert können, weil England gegen Kroatien überraschend verlor. "Siehst du, wir sind wieder eine Großmacht", freut sich mein Bekannter in Twer. "Jetzt werden wir auch Europameister." Die Russen sind Optimisten. Und es gibt jetzt einen Sieg mehr, auf den sie hoffen dürfen. Und ob Russland wirklich ins EM-Finale vorstoßen kann, interessiert die meisten Russen noch mehr als die Frage, was aus Wladimir Putin wird.