Nordrhein-Westfalen
Rüttgers im Richtungskampf
Nach zweieinhalb unangefochtenen Jahren in Düsseldorf feiern Jürgen Rüttgers und seine schwarz-gelbe Landesregierung in diesen Woche mit großem Brimborium Halbzeit. Am 22. Mai 2005 hatten CDU und FDP die SPD-Hochburg Nordrhein-Westfalen eingenommen - und so das Ende von Rot-Grün auf Bundesebene vorbereitet.
Dem bevölkerungsreichsten Bundesland bot Rüttgers damals etwas Neues an: Eine wirtschaftsliberale Wende mit christlich-sozialem Überbau. Diese Chuzpe der Regierenden verstört und lähmt die Opposition bislang so sehr, dass Rüttgers souverän amtieren kann. Noch. Denn pünktlich zum Bergfest kristallisiert sich in der "Koalition der Erneuerung" ein erbitterter Richtungskampf über das zukünftige Schulsystem heraus.
Der kleinere Koalitionspartner FDP plädiert neuerdings für eine so genannte "regionale Mittelschule", die neben dem Gymnasium bestehen und Real- und Hauptschule zusammenfassen soll. Rüttgers beharrt auf dem bisherigen System und versucht, die FDP wieder einzufangen - ohne Erfolg: "Wir wollen eine unideologische Debatte anstoßen", sagte FDP-Generalsekretär Christian Lindner dem Parlament.
Dabei bestimmten die Schulen und Hochschulen schon längst die politischen Agenda des Landes. Seit den SPD-Bildungsreformen der 60er- und 70er-Jahre hat keine Landesregierung die Kindergärten, Schulen und Hochschulen zwischen Aachen und Bielefeld so zu Objekten politischen Eifers gemacht wie die Christ- und Freidemokraten. Nur das dreigliedrigen System blieb unangetastet. So können seit diesem Sommer Eltern unabhängig vom Wohnort die Grundschule wählen, das Zentralabitur wurde eingeführt. Den Hochschulen wurde es frei gestellt, bis zu 1.000 Euro jährlich von ihren Studierenden zu verlangen - was sich bis auf wenige Ausnahmen auch keine der notorisch finanzschwachen Universitäten entgehen ließ. Alle diese Reformen sind umstritten.
Doch kongenial wie früher SPD-Pate Johannes Rau schwebt Jürgen Rüttgers über politischen Alltagsdingen. Mit seinem ALG I-Putsch vor einem Jahr treibt er Sozial- und Christdemokraten im Bund vor sich her. Seine realpolitische Agenda in Nordrhein-Westfalen mobilisiert jedoch zunehmend Zweifler und Dissidenten im Land.
Für die gegenwärtig ohnmächtige Opposition könnten so bessere Zeiten aufkommen. Die SPD-Vorsitzende Hannelore Kraft ist derzeit noch eine unbekannte Politikerin mit einem geschwächten Landesverband. Sie setzt im kommenden Wahlkampf auf ein Thema: die Schule für alle. Das scheint den Wählern zu gefallen. Zwei Drittel der NRW-Bürgerinnen und Bürger lehnen nach aktuellen Umfragen die Düsseldorfer Bildungsreformen ab. Bei der Sonntagsfrage hat Schwarz-Gelb nur noch eine minimale Mehrheit. Rüttgers droht, in der zweiten Halbzeit in die Defensive zu geraten: Er muss das bestehende Schulsystem verteidigen - auch gegen seinen Koalitionspartner. Die Festung NRW zu halten, wird wesentlich schwieriger sein, als sie einzunehmen.