MYTHOS WALD
Es scheint als gäbe es ihn schon ewig. Doch er ist ein Produkt der Moderne.
O Täler weit, o Höhen,
O schöner, grüner Wald,
Du meiner Lust und Wehen
Andächtger Aufenthalt!
Da draußen, stets betrogen,
Saust die geschäftge Welt,
Schlag noch einmal die Bogen
Um mich, du grünes Zelt.
Man muss nicht einem Männergesangverein angehören, um diese erste Strophe von Joseph von Eichendorffs "Abschied" wirklich zu kennen. Die meisten werden diesem 1815 standenen Gedicht irgendwann einmal begegnet sein, und sei es, dass es ihnen in aufklärerischer Absicht als Beispiel für gefährliche Weltflucht und Zivilisationsfeindschaft präsentiert worden ist. Der Wald als Sehnsuchtsort und Gegenbild zur "geschäftgen Welt" - das ist doch nichts anderes als die poetische Verdichtung der deutschen Vorbehalte gegen die politische, wirtschaftliche und technische Moderne, eine lyrische Wegmarke des "deutschen Sonderweges", der, wie man weiß, in die Katastrophe führte! Die ideologiekritische Warnanlage geht los, der Männerchor kommt dagegen nicht mehr an, vor allem die Tenöre klingen bei "grüner Wald" altersbedingt brüchig. Das Gedicht bleibt auf der Strecke.
Der Wald ist im deutschen Bewusstsein omnipräsent. Oft verbindet sich mit ihm eine Ahnung von Verlust und Abschied. Bei Eichendorff steht er für die Sphäre des Unentfremdeten, des bei sich Seins, des Unverdorbenen, der immer gültigen Werte, die man verlassen muss, wenn man sich ins Leben, in die Welt, in die Fremde hinaus begibt - ein Schritt, dessen Notwendigkeit in Eichendorffs Gedicht keineswegs in Frage gestellt wird. Auch das berühmte "Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben" (Der Jäger Abschied) ist ein großer Abschiedsgesang, in dem die Möglichkeit, dass die Jäger im Wald bleiben könnten, nicht vorkommt:
Tief die Welt verworren schallt,
Oben einsam Rehe grasen,
Und wir ziehen fort und blasen,
Dass es tausendfach verhallt:
Lebe wohl,
Lebe wohl, du schöner Wald
Wenn dann Abschied genommen ist, bleibt dem "Fremden", der auf "buntbewegten Gassen" des "Lebens Schauspiel" sieht, der Wald ein unerschütterlicher Trost:
Und mitten in dem Leben
Wird deines Ernsts Gewalt
Mich Einsamen erheben,
So wird mein Herz nicht kalt
In Eichendorffs Gedichten erlebt man gewissermaßen die Geburt des deutschen Waldmythos. Sie entstanden in einem historischen Moment höchster Dramatik. Napoleons Armeen hatten die Ideen der Französischen Revolution auch nach Deutschland gebracht, allerdings auf dem Wege imperialer Machtpolitik. Gegen diesen Modernitäts-Export regte sich Widerstand, der aber selbst von den Ideen der Nation und der Volkssouveränität gespeist, also, teilweise jedenfalls, aus dem Stoff von 1789 gemacht war. Einerseits entsprach der Weg der Deutschen in die Moderne dem Hauptstrom der Geschichte. Die antinapoleonischen Kämpfer, die des Imperators Truppen zermalmen wollten wie einst Hermann der Cherusker die Legionen des Varus im Teutoburger Wald, waren keine Waldgermanen, sondern moderne, meist sehr städtische Menschen, denen die deutsche Kleinstaaterei und Fürstenwillkür ein Graus waren. Andererseits verbanden sich mit ihren Vorstellungen von Emanzipation und Freiheit tiefe Vorbehalte gegen die "moderne Zeit" der Beschleunigung, der Verstädterung, der Industrie, der Technik.
Der deutsche Aufbruch in die Moderne mutete weithin wie eine Abkehr von ihr an. Das Scharnier dieser Paradoxie ist der Wald - der Wald als ideologisches Konstrukt, als Urgrund des Deutschtums, als Hort ewiger Werte gegen die rasende Zeit; aber auch der reale Wald, der sich in dieser historischen Wendezeit ebenso dramatisch wandelte. Für Eichendorff ist der Wald etwas selbstverständlich Gegebenes, etwas Überzeitliches, eine unmittelbare Manifestation göttlichen Schöpferwillens. Solche Überhöhung des Waldes wuchs aus der Erfahrung drohenden Verlusts. Der deutsche Wald des frühen 19. Jahrhunderts war am Ende.
Das kann man gerade in jenen Bildern ablesen, in denen er verklärt wurde. Aus der Sicht des Forstwirts war der romantische Wald mit seinen steinalten Baumriesen, in deren bizarrem Wurzelwerk Trolle und Wichtel hausten, ein durch jahrhunderte- lange rücksichtslose Nutzung verarmter Wald. Der Maler Moritz von Schwind etwa hat seinen Rübezahl, jene Sagengestalt aus dem Riesengebirge, die sich von Pilzen nährt, Wanderer erschreckt und schwere Unwetter herbeirufen kann, in die Kulisse eines solchen "Ur"-Waldes gestellt - und ist dabei bis in die Details realistisch geblieben. Der Waldboden ist nackt, es gibt kein Laub, keinen Humus. Die knorrigen Baumstämme tragen zahlreiche Verwundungen. Äste sind abgeschnitten, die Rinde ist geschält, manche Bäume sind schon Leichen. Malerisch sieht das aus, ein wenig unheimlich und sehr "urig". Aber es ist die Folge davon, dass der Wald menschliche Arbeits- und Produktionsstätte war, keinesfalls ein Ort der weltentrückten Einsamkeit, als den ihn die romantischen Dichter und Maler sahen. Im Wald herrschte emsige Betriebsamkeit. Die Bauern trieben ihr Vieh hinein. Rinder, Schafe und Ziegen fraßen die jungen Triebe. Schweineherden taten sich an den Früchten von Eichen und Buchen gütlich. Das Laub wurde als Einstreu und Winterfutter, als "Waldheu", in die Scheunen eingefahren. Köhler, Pechkocher, Aschenbrenner und Glaser lebten und arbeiteten im Wald.Holz war die wichtigste Energiequelle und der wichtigste Baustoff.
Mit Beginn der industriellen Revolution verschärfte sich dieser Nutzungsdruck auf den Wald noch einmal gewaltig. Vor allem der Bergbau verlangte nach Grubenholz. Holz war die Voraussetzung dafür, die Kohle, den Energieträger des Industriezeitalters, zu erschließen. Im 18. Jahrhundert wurde die Holzknappheit zu einer der größten Herausforderungen, denen sich die aufgeklärt-absolutistischen Obrigkeiten der Zeit und das reformbewusste Bürgertum gegenübersahen.
Sie antworteten darauf mit der systematischen Förderung der Forstwissenschaft. Im eigentlichen Sinne entstand diese breit gefächerte Wissenschaft vom Wald und seiner Nutzung überhaupt erst mit der beginnenden industriellen Moderne. Mit ihr wurde die Idee der Nachhaltigkeit geboren. Vereinfacht gesagt bedeutet sie, dass dem Wald nur so viel entnommen werden darf wie nachwächst. Dass Industrie und Großstadt "Naturzerstörer" seien, dass die Zivilisation sich rücksichtslos in Gottes Schöpfung hineinfresse, das sind gerade im deutschen Bewusstsein tief verwurzelte Klischees. Deutsche Förster allerdings bewiesen, dass Ressourcen-Nutzung nicht rücksichtslose Ausbeutung bedeuten muss - und schufen mit dem Konzept der nachhaltigen Forstwirtschaft einen bis heute auf der ganzen Welt nachgefragten wissenschaftlich-praktischen Exportartikel.
Die erste "forstliche Meisterschule" wurde 1763 im Harz eröffnet. 1770 entstand die Forstakademie in Berlin und 1780 wurden zum ersten Mal forstliche Vorlesungen in Göttingen gehalten. Diese Daten, die Hansjörg Küsters Buch "Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart" entnommen sind, seien aufgeführt, um zu illustrieren, wie entschieden die forstwissenschaftliche Aufklärung in Deutschland vorangetrieben wurde.
Mit Forstwissenschaft hatte der Dichterbund, den Studenten in diesen Jahren in Göttingen gründeten und "Hainbund" nannten, nichts im Sinn. Wohl aber mit dem Wald. Mit dem altdeutschen Wald. Idol der jungen Dichter war Friedrich Gottlieb Klopstock, der 1767 seine Ode "Der Hügel und der Hain" veröffentlicht hatte. Ein klassischer Poet, ein germanischer Barde und ein zeitgenössischer Dichter treffen zusammen. Der Poet winkt mit dem Lorbeer-Kranz, der Barde mit Eichenlaub. Soll der Dichter dem antik-mediterranen Vorbild folgen oder dem germanischen Sänger aus den Wäldern? Die Kunstfertigkeit des Poeten erkennt der Dichter an, aber erschüttern lässt er sich davon, dass aus dem Barden die Natur "laut ins erschütterte Herz" tönt und aus den wie von einem geheimnisvollen Wind in Schwingung versetzten Saiten seiner Leier das "Vaterland" spricht.
Der Versammlungsort war ein Eichenhain, ein alter Hudewald, in den zur Mast die Schweine getrieben wurden. Den Studenten aber kamen die knorrigen Bäume wie Zeugen altgermanischer Vergangenheit vor. Die moderne Forstwirtschaft und der Kult um die "deutsche Eiche" entstanden also gleichzeitig. Es geht heutigen Zeitgenossen, vor allem solchen, die sich als naturverbunden verstehen, schwer in den Kopf, aber es ist die historische Wahrheit: Das bäuerliche Wirtschaften bedeutete Rodung und Waldvernichtung. Der Siegeszug der Industrie brachte eine gewaltige Aufforstung mit sich.
Mit dem Wald schuf sich die Moderne ihr Gegenbild, auch wenn es sich bei den neuen Nutzwäldern meist um Nadelholz-Monokulturen handelte. Auch der "tiefe Tann", dessen Stämme in Reih und Glied stehen, erweist sich als anschlussfähig für allfällige antimoderne Sehnsüchte. Erst die Fichtenplantagen des Industriezeitalters machten den Weihnachtsbaum wirklich populär. Durch die Verknüpfung mit der Waldromantik wurde aus dem Christfest die Deutsche Weihnacht, zu der der Rückzug vor der bösen Welt da draußen in den emotionalen Hafen der Familie ebenso gehört wie der Konsumrausch. Die Widersprüchlichkeit pflanzt sich fort. Der Mythos Wald ist also keineswegs uralt, sondern, wie die Romantik insgesamt, eine Hervorbringung der Moderne. Diese Erkenntnis nimmt dem Wald aber nichts von seinem Zauber. Gerade Menschen, die professionell mit ihm zu tun haben, Förster etwa und Jäger, sind ihm gefühlsmäßig meist eng verbunden.
Ein Förster mag die saubersten ökologischen und ökonomischen Argumente für ein bestimmtes Waldbild vorbringen - es bleibt am Ende bei diesen Fragen immer ein ästhetischer Rest. Aus reinem Nutzenkalkül lässt sich nicht ableiten, dass ein Wald so oder so auszusehen habe. Ein Jäger kann die Jagd als nüchternes Wild-Management ausgeben, zum bloßen technischen Vollzug wird ihm sein Handwerk doch nur selten. Der Wald mit seinen Lauten, seinen Aromen und seinen Lichtwirkungen ist nicht nur eine Stimulation der Sinne, sondern auch des kulturellen Gedächtnisses. Wer ihn zu nehmen weiß, für den ist er immer wieder neu, wie die Oper, ein Kraftwerk der Gefühle.