Das Museum ist nicht nur ein Supportsystem, das dafür sorgt, dass die Kunstwerke toter oder lebender Künstlerinnen und Künstler nicht verschwinden, also die klassischen Aufgaben des Sammelns und Ausstellens wahrnimmt, sondern darüber hinaus ist es auch eines für dieProduktion von Kunstwerken. Es übernimmt gezielt eine absolute Verpflichtung zur Zeitgenossenschaft und weicht der Gegenwart nicht aus, auch wenn diese globale Dimensionen angenommen hat. Indem es junge Künstler bei ihrer aktuellen Produktion unterstützt und stets für aktuelle Positionen Partei ergreift, unterstützt das Museum auch verstorbene Künstler und deren marginalisiertes, exiliertes oder zerstörtes Werk.
Indem es sich um die Zukunft der Kunst sorgt, sorgt sich das Museum auch um deren Vergangenheit. Denn "it is the future that is at issue here, and the archive as an irreducible experience of the future", wie Jacques Derrida schreibt. 1 Das Museum verschließe sich keinem Medium, keiner Kunstform, keiner Gattung, keinem Stil. Das Museum betreibt ein Archiv und damit Zukunft. Für das Labyrinth der Vergangenheit legt es einen Ariadnefaden aus, für die Unübersichtlichkeit der Gegenwart flaggt es Positionsbestimmungen. Es legt einen Kurs fest, es zeigt Entwicklungen, Diachronien, Genealogien und Chronologien. Indem es einen Kurs festlegt, bereitet das Museum einen Diskurs auf, es öffnet Grenzen und Horizonte. Durch das Archiv, durch die Arbeit am kulturellen Gedächtnis, leistet es Übersetzungen von Generationen zu Generationen, von Kulturen zu Kulturen. Es gibt einen Generationenvertrag zwischen toten und lebenden Künstlern, also zwischen Sammlung und Ausstellung.
Das Museum ist eine kontinuierliche Plattform für Diskurse und Wissensverbreitung. Es werden dem Publikum auf einzigartige Weise Zugänge zu den Problemfeldern der Kunst und der Gesellschaft geboten. In seinen Ausstellungen zeigt das Museum dem Publikum auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene nicht nur die Welt der Kunst, sondern auch die Welt, wie sie sich in der Kunst darstellt, also somit die Welt, in der das Publikum lebt. Das Publikum der Ausstellungen soll die Welt erkennen, in der es lebt, sie wiedererkennen und das Museum mit Erkenntnisgewinn verlassen.
Die Verhältnisse zwischen Markt, Medien und Museum haben sich seit den 1980er Jahren verschoben. Markt und Massenmedien dominieren das Kunstfeld. Der Markt (Auktionshäuser, Messen, Galerien) lebt vom Handel, von Verkauf und Kauf, von der Geldzirkulation. Die Museen sind seit dem Rückzug des Staates nicht mehr Teil der Geldzirkulation. Sie haben nicht mehr das Geld für Ankäufe. Sie sind auf private Spender, Sammler und Sponsoren angewiesen. Sie sind auf dem Markt nicht wettbewerbsfähig, weil sie nicht wie private Sammler agieren können. Die Medien leben als Unternehmen ebenfalls von Handel, von Verkauf und Kauf (der Zeitung, der Nachrichten etc.), also von der Geldzirkulation. So haben beide - Markt und Massenmedien - gemeinsame Interessen, und diese sind private Interessen, weil die Händler, die kaufen und verkaufen, private Individuen sind, die nach ihren eigenen Interessen handeln. Markt und Medien vereint aber nicht nur die Ökonomie des Geldes, also das Interesse am Profit, sondern auch die Ökonomie der Aufmerksamkeit. 2 Preise können Sensationen sein, Marktpreise allemal: Sie sichern Aufmerksamkeit, die ihrerseits Leser sichert. Die Leser sichern Werbeanzeigen, diese wiederum die Geldzirkulation. Die Massenmedien schenken dem Markt die Aufmerksamkeit, und der Markt den Massenmedien die Sensationen. Beide verbindet die Gier nach Aufmerksamkeit, die durch Geld geliefert wird, und beide verbindet die Gier nach Geld, das durch Aufmerksamkeit produziert wird. So werden private vices zu public virtues, private Interessen zu öffentlichen Tugenden, private Profite zu öffentlichen Werten, um Mandevilles Bienenfabel (1714) neu zu paraphrasieren. 3
Die Museen können aufgrund ihrer finanziellen Schwäche am Handel mit Kunst nicht mehr teilnehmen. Sie sind dadurch sowohl von der Geldzirkulation als tendenziell auch von der Nachrichtenzirkulation und der öffentlichen Sphäre ausgeschlossen. Nur wenn die Museen die Sensationen liefern, welche die Medien brauchen, bekommen sie von diesen Aufmerksamkeit, weil die Medien damit Geld verdienen. Es hat sich aber zwischen Markt und Medien ein Kreislauf errichtet, der sich wechselseitig ernährt und selbst organisiert, also zu einem geschlossenen System tendiert, von dem die Museen eventuell ausgeschlossen werden. In diesem Kreislauf zwischen Markt und Medien, der zyklisch operiert, eben weil er ökonomisch ist, mitKonjunkturschwankungen zwischen Hausse und Baisse, werden Kunstwerke wieAktien, Künstler wie Blue Chips behandelt, und Kunstbewegungen erleiden Konjunkturschwankungen auf dem Markt wie in den Medien. Es gibt Namen, dieplötzlich von allen wichtigen Sammlerngekauft werden und die in allen Medien stehen, aber zehn Jahre später beinahe vergessen sind. Es gibt Kunstbewegungen, die gehen in die Geschichtsbücher ein, aberzwanzig Jahre später sind ihre Akteure vom Markt und aus den Medien verschwunden.
In dieser Welt des Marktes und der Medien, wo Kunstbewegungen wie Konjunkturen und Aktienkurse behandelt werden, spielt die Wahrheit keine Rolle, sondern nur die mediale Aufmerksamkeit. Die Sensation als Maximum der Aufmerksamkeit und der monetäre Wert zählen, welcher wiederum von der Aufmerksamkeit als symbolisches Kapital verstärkt wird. Diese Aufmerksamkeit wird erzeugt durch die bekannten Techniken der Massenmedien wie Legendenbildung, Lüge, Fälschung, Fiktion, Skandalisierung, Übertreibung, Verzerrung - Techniken, derer sich die Künstlerinnen und Künstler oft selbst gerne bedienen bzw. bewusst damit operieren, weil sie sehen, dass sie damit die Aufmerksamkeit der Medien erreichen und auf diese Weise zu Ruhm, Glamour und Geld kommen. Markt und Medien verzerren also das Feld der Kunst. Die Welt des Marktes und die Welt der Medien ist nicht zur Gänze identisch mitderWelt der Kunst. So, wie die Wirtschaft der Wissenschaft nicht zur Gänze vorschreiben kann, was sie zu tun und zuforschen hat, weil die Wissenschaft vomStaat auch viel mehr geschützt und unterstützt wird als die Kunst, können auchMarkt und Medien der Kunst nicht zur Gänze vorschreiben, was sie zu tun undwie sie sich zu entwickeln hat. Es gibtund gab Kunst jenseits von Markt undMedien.
Was kann nun ein Museum heute leisten? Es kann sich um jene Kunst kümmern, um die sich Markt und Medien nicht kümmern, auch wenn der Preis dafür ist, dass die Medien diese Arbeit nicht beachten, ihre Aufmerksamkeit nicht darauf richten, nicht bzw. nur marginal darüber publizieren. Das Museum heute, wenn es seine Aufgaben, seine Mission erfüllen will, kann natürlich nicht das gleiche wie der Markt und die Medien tun, sonst hätte es ja keine Raison d'Être, sonst gäbe es keinen Grund für seine Existenz. Das Museum soll nicht verzerren, sondern entzerren, es soll gegen die Konjunkturzyklen arbeiten und Geschichte rekonstruieren, nicht Legenden und Fiktionen in die Welt setzen, nicht lügen und fälschen, sondern soweit wie menschenmöglich versuchen, auf empirischer, wissenschaftlicher Basis die Wahrheit zu erzählen, es soll informieren statt desinformieren. Den verengten und verzerrten Blick, den Medien und Markt auf die Kunst werfen, soll das Museum erweitern und damit den Zugang zur Welt, den die Kunst selbst öffnet, offen halten. Dies ist Vermittlungsarbeit und Demokratie im tiefsten Sinne.
Es gibt in der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts eine Tendenz, den Betrachter oder Beobachter selbst in den Mittelpunkt des Kunstwerks zu stellen. Marcel Duchamp hat dies 1957 so formuliert: "Alles in allem wird der kreative Akt nicht vom Künstler allein vollzogen; der Zuschauer bringt das Werk in Kontakt mit der äußeren Welt, indem er dessen innere Qualifikationen entziffert und interpretiert und damit seinen Beitrag zum kreativen Akt hinzufügt." 4 Diese Rezipientenkultur wurde von verschiedenen Theoretikern, von Rainer Warning bis hin zu Michail Bachtin, weiter ausgebaut. 5 In der Praxis der Kunst hat sich diese Rezipientenkultur, d.h. die aktive Teilnahme des Besuchers, ab den 1950er Jahren etabliert. Seit der Op-Art und Kinetik ist das Kunstwerk beobachterabhängig. Der Besucher muss sich beispielsweise bewegen, um entweder optische Effekte hervorzurufen oder um ein Werk in Bewegung zu setzen. In Happening, Fluxus und Event dominierten Handlungsweisungen an den Betrachter. Der Besucher folgte den geschriebenen oder gesprochenen Anweisungen eines Spielleiters und realisierte damit selbst das Kunstwerk. Auch die Konzeptkunst adressierte sich häufig an die Betrachter, Ideen auszuführen. In der digitalen Kunst spielt ohnehin seit 1980 die Interaktivität eine zentrale Rolle. Aber diese Interaktivität hat im Grunde nur darin bestanden, dass der Künstler ein Kunstwerk liefert und dieses Kunstwerk vom Besucher in Gang gesetzt werden muss, zum Beispiel durch Bewegungen oder auf Knopfdruck, also durch Schnittstellentechnologie. Der Inhalt des Kunstwerks kommt vom Künstler, der Betrachter setzt das Kunstwerk nur in Gang.
Im Web 2.0, hier verstanden als neue, interaktivere Generation des Internets, erleben wir etwas, das "User Generated Content" genannt wird, das heißt, hier wird der Inhalt von den Betrachtern selbst geliefert. So findet man auf MySpace, YouTube und vielen anderen Plattformen im Internet Werke, welche die Benutzer dieses Netzwerkes selbst geschaffen haben. Das ist ein gewaltiger Unterschied zu den bisherigen Betrachtungen der Interaktivität. Mit der Web-2.0-Revolution wird die bisherige künstlerische Aktivität also viel weiter getrieben, weil hier zum ersten Mal die Inhalte selbst von den Benutzern stammen. In der Kunst war es bisher so: Kunstwerke wurden von Künstlern zum Benutzen des Betrachters geschaffen. Nun ist der Betrachter so weit gekommen, dass er seine eigene Kunst ins Netz stellen kann, die dann wieder andere betrachten können. Die Frage ist nun, ob die Museen sich auf diese kulturelle Revolution einlassen werden.
Mein Standpunkt ist der, dass dieses neue Verhalten, das die Jugendlichen, die jüngere Generation der bis ca. 30-Jährigen, im Netz erlernen (selbst programmieren, nicht nur programmiert werden, Musikprogramme zusammenstellen, Filme editieren und online stellen etc.), auch für die Museen interessant und wichtig ist. Wenn wir im Museum weiter so verfahren wie ein Fernsehsender, dass wir dem Besucher Werke in einer bestimmten Reihenfolge und zu einer bestimmten Zeit zeigen, also kuratieren wie ein Programmdirektor und programmieren wie ein Kurator, und der Betrachter nicht die Möglichkeit hat, selbst ein Programm zusammenzustellen, dann wird das Museum obsolet. Und wenn wir uns in den nächsten Dekaden nicht auf dieses neue Verhalten, das die Betrachter bzw. Benutzer im Netz erworben haben oder erwerben, einstellen, dann wird das Museum irgendwann überflüssig, denn der Betrachter wird sagen, "ich gehe nur noch ins Museum, wenn ich ein Kulturverhalten verspüren möchte wie im 19. oder 20. Jahrhundert." Es bleibt dem Museum gar nichts anderes übrig, als auf das neue Verhalten, das sich Betrachter und Benutzer erworben haben, einzugehen.
Was wird das für das Museum bedeuten? Wenn Sie ins Museum gehen, sind Sie heute immer zeitlich und räumlich gebunden - Sie erleben das Museum erstens ortsgebunden, in dem Augenblick, in dem Sie im Gebäude vor einem Kunstwerk stehen. Sie können die Werke des Museums auch nur während der Dauer Ihres Aufenthalts in diesem Gebäude und zu dessen Öffnungszeiten erleben. Wenn Sie das Museum verlassen haben, dann ist das einzige, was Sie mitnehmen können, ein Ausstellungskatalog, in dem die Werke idealerweise abgebildet sind. Sie können natürlich heutzutage auch die Website des Museums anschauen, auf der Sie dann meist sehen können, welche Werke das Museum besitzt; die Webseite ist meist ähnlich aufgemacht wie ein Katalog.
Um dem neuen Verhalten der Benutzer gerecht zu werden, gilt es, das Museum von Orts- und Zeitgebundenheit zu befreien; das heißt, es muss in Zukunft möglich sein, mit dem Museum und dessen Werken in Kontakt zu treten, auch wenn ich nicht im Museum bin, und zwar anders als nur über die Website. Es muss möglich sein, täglich und rund um die Uhr mit dem Museum in Kontakt zu treten. Es wird also notwendig sein, dass die Museen in die virtuelle Welt von Second Life hineingehen und dort eine Dependance eröffnen. In Second Life kann jeder jederzeit das Museum besuchen und dort auch wählen, was er oder sie sehen will. Darüber hinaus - und das ist der entscheidende Punkt - muss der Betrachter die Möglichkeit haben, seine eigenen Kunstwerke dort abzustellen. Das heißt, es geht nicht nur darum, dass die bisherige Museumsstruktur in das Netz transkodiert wird, sondern es geht darum, dass der Betrachter seine eigenen Kunstwerke ins Netz einstellen kann und so selbst zum Künstler und Kurator wird. Virtuelle und reale Sphären durchdringen einander. Dislozierte Betrachter nehmen an der Ausstellung teil, sowohl im Netz wie im realen Ausstellungsraum, da die Netzinhalte in den realen Ausstellungsraum projiziert werden.
Dadurch wird das Museum nicht mehr nur ein lokal gebundenes Ereignis in Raum und Zeit für Individuen sein, die einem Kunstwerk gegenübertreten, sondern es wird idealerweise eine Plattform, auf der die Menschen unabhängig von ihrem physischen Aufenthaltsort miteinander über die Kunstwerke kommunizieren können. Das bedeutet den Abschied von der Heuristik, der vielen Leuten nicht gefallen wird, aber es ist auch eine Revolution, durch die sich die Amateure, die "Idioten", die Konsumenten - das ist mein Schlagwort - zum ersten Mal emanzipieren können. Die Konsumenten können versuchen, zu Experten zu werden.
1 Jacques Derrida,
Archive Fever. A Freudian Impression, in: Diacritics, 25 (1995) 2,
S. 9 - 63.
2 Vgl. Georg Franck, Ökonomie der
Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 1998.
3 Vgl. Bernard Mandeville, Die
Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile (The
Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits), zuletzt
Frankfurt/M. 19982.
4 Marcel Duchamp, The Creative Act,
Rede, Convention of the American Federation of Arts, Houston, TX
April 1957.
5 Vgl. Rainer Warning (Hrsg.),
Rezeptionsästhetik, München 1975; Hans R. Jauß,
Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in:
ebd., S.126-162; Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes,
Frankfurt/M. 1979.