Auf einer wegweisenden Museumstagung 1975 in Frankfurt am Main forderte der Ulmer Verein (der "linke" Verband für Kunst- und Kulturwissenschaften), die Kulturpolitik und die Museen der Bundesrepublik müssten ihrer sozial- und bildungspolitischen Verantwortung stärker gerecht werden. In der Tagungsdokumentation mit dem programmatischen Titel "Museum - Lernort contra Musentempel" mahnte der damalige Frankfurter Kulturdezernent, "die soziale Funktion von Kunst und Kultur, Kunst als sozio-kultureller Faktor in der gesellschaftspolitischen Strategie für das Ziel einer größeren Bildungsgerechtigkeit künftig eindringlicher herauszustellen". 1
In den folgenden drei Jahrzehnten unternahmen zahlreiche Museen tatsächlich große Anstrengungen, ihre Angebote besucherorientiert zu gestalten und Schwellenängste abzubauen, um neue, bisher kaum repräsentierte Zielgruppen zu gewinnen und an sich zu binden. Museumspädagogik wurde als eigenständiges Arbeitsfeld etabliert. Die 1980er Jahre erlebten außerdem einen beispiellosen Museumsgründungsboom, so dass die Statistiker Jahr für Jahr neue Rekordzahlen an Museumsbesuchen vermeldeten. Das Konzept "Kultur für alle" schien aufzugehen. Trotzdem fällt die Bilanz der jahrzehntelangen Bemühungen, "Bildungsgerechtigkeit" im Museum herzustellen, d.h. alle gesellschaftlichen Schichten gleichermaßen zu erreichen und zu beteiligen, heute bisweilen ernüchternd aus.
Dabei ist gegenüber der Behauptung einer Verallgemeinerbarkeit des Nutzens eines Museumsbesuches durchaus Skepsis angebracht. Einige Vermittlungskonzepte tragen erkennbar kulturmissionarische Züge, auf die manche Zielgruppen sensibel reagieren. Ein Indiz dafür ist in der Fachdiskussion die immer häufigere Verwendung des Begriffes "Kulturvermittlung". Diese Begrifflichkeit fällt zurück hinter den schon erzielten Konsens über eine erweiterte Definition von Kultur, der die Vielfalt der Lebenswelten und Kulturpraktiken umfasst und den Menschen als aktives, gestaltendes Wesen, als Subjekt seiner Verhältnisse sieht. Das Konzept "Kulturvermittlung" dagegen unterstellt den Zielgruppen ein Defizit an Kultur, das es zu beheben gelte. Daraus resultiert wiederum ein falsch verstandenes Konzept von Museumspädagogik als einer nachträglichen Didaktisierung der in der Regel von Wissenschaftlern und Designern erarbeiteten Ausstellungsinhalte.
Mit Blick auf die im Museum wenig repräsentierten Gruppen wäre es zielführender, im Sinne von Empowerment deren positive Ressourcen zu stärken, ihnen Partizipationschancen zu eröffnen, die sowohl eine erweiterte Aneignung von kulturellen Angeboten erlauben als auch eine kulturelle Eigenproduktivität. Rainer Treptow nennt es das "kulturelle Mandat" einer sozial ausgerichteten Museumsarbeit, Ressourcen und Kompetenzen ("kulturelles Kapital") gleichermaßen bereitzustellen für die Verwirklichung kultureller Aneignungs- und Gestaltungswünsche der bisher nicht im Museum präsenten Adressatengruppen. 2 Jutta Thinesse-Demel weist darauf hin, dass in diesem Zusammenhang der Teamarbeit zwischen Museologen und Öffentlichkeit eine wachsende Bedeutung zufällt. Die einstige Betonung formeller Lernprozesse und Vermittlung vorgegebener Museumssettings trete zurück hinter selbst gesteuerten Lernansätzen mit Hilfe von anregenden Lernumgebungen. 3
Die Verknüpfung von Strategien der Erwachsenenbildung (Zielgruppenarbeit, lebenslanges Lernen) und der sozialen Arbeit mit der Praxis der Museen steht damit erneut auf der Agenda. 4 Um dieses Konzept zu verdeutlichen, werden im Folgenden zwei Projekte des Kreuzberg-Museums für Stadtentwicklung und Sozialgeschichte in Berlin vorgestellt, die auf die Partizipation von Bevölkerungsgruppen setzten, die gegenüber Museen in der Regel eher Distanz wahren.
Das Kreuzberg-Museum befindet sich inmitten eines Gebietes, das seit Jahren ganz unten auf der Berliner Armutsskala rangiert. Das Viertel verzeichnet in Berlin die meisten Empfänger staatlicher Transferleistungen, das geringste Durchschnittseinkommen und eine Arbeitslosenquote von 28 Prozent. Fast die Hälfte der türkischstämmigen Kreuzberger, die hier die größte Migrantengruppe stellen, ist arbeitslos. Von der Presse häufig als "Klein-Istanbul" stigmatisiert, war Kreuzberg nie ein Ort bürgerlicher Traditionspflege. Als das Museum 1991 gegründet wurde, gab es keinen nennenswerten Fundus und kein Archiv, das dem Museum als Grundstock hätte dienen können. Die ersten Ausstellungen über einzelne Aspekte der Bezirksgeschichte dienten so auch dem Aufbau der Sammlung. Sie fanden ihr Publikum bei kulturinteressierten und ehemaligen Kreuzbergern, Schülern und Studenten, vergleichsweise gering war aber das Interesse der ca. 40 000 direkten Nachbarn des Museums - eine Erfahrung, die übrigens auch das Jüdische Museum macht, das im gleichen Bezirk liegt. Es wurde schnell deutlich, dass diese Nachbarn in anderer Weise angesprochen werden wollten: Im Jahr 2000 lud das Museum türkische Kreuzberger ein, unter dem Titel "Wir waren die ersten" ihre persönliche (und kollektive Migrations-) Geschichte für eine Ausstellung aufzuarbeiten. 2003 folgte das Projekt "Geschichte wird gemacht" über die Nachkriegszeit, Stadtsanierung und Protestbewegung in Kreuzberg. Für dieses Vorhaben suchte das Museum in der unmittelbaren Nachbarschaft interessierte Laien als ehrenamtliche Ausstellungsmacher und bot ihnen zur Vorbereitung zwei leere Fabriketagen und alle erforderlichen Arbeitsmaterialien an. Beide Ausstellungen sind bis heute in komprimierter Form Teil der Dauerausstellung des Kreuzberg-Museums.
Anlässlich der offiziellen Aufhebung des Sanierungsgebietes Kottbusser Tor entstand in einjähriger Vorbereitungszeit die Ausstellung "Geschichte wird gemacht" zur Entwicklung des Viertels und seiner Bewohner seit Ende des Zweiten Weltkriegs. 5 Anhand von Bildern, Filmen, Modellen, Erinnerungen und Portraits wurde zugleich Bilanz gezogen über 40 Jahre kontinuierliche Stadtsanierung im Gebiet. An sechs vorbereitenden Arbeitsgruppen beteiligten sich über fast ein Jahr bis zu 100 Stadtteilbewohnerinnen und -bewohner: 6 Studierende, Rentner und Frührentner, meist jedoch Arbeitslose, die in der Regel handwerkliche, gestalterische oder wissenschaftliche Berufsausbildungen hatten. Ihr Motiv, sich zu beteiligen, war weniger das Interesse an Stadtteilgeschichte als die Möglichkeit, erworbene Qualifikationen sinnvoll einzusetzen, sich weiterzubilden, Berufserfahrungen in einem attraktiven Arbeitsfeld zu sammeln, im Team tätig zu sein oder ganz allgemein, etwas Sinnvolles im gemeinnützigen Zusammenhang zu tun. Sechs Honorarmitarbeiter übernahmen die Projektleitung.
Es war nicht zu erwarten, dass die Zusammenarbeit stets reibungslos verlaufen würde. Bei vielen Teilnehmenden - die Altersspanne reichte von 23 bis 58 Jahren - hatten sich nach erfolgloser Arbeitssuche bereits Perspektivlosigkeit und ein Gefühl der Sinnlosigkeit bisher erlangter Qualifikationen eingestellt. Das Ausstellungsprojekt ermöglichte ihnen, die eigenen Fähigkeiten kreativ zu erproben, neue und nützliche Kenntnisse zu erwerben, zu neuem Selbstbewusstsein zu gelangen und dem persönlichen Lebenslauf neue Impulse zu geben. Die so motivierte Mitarbeit implizierte jedoch die Tendenz zur blinden Konzentration auf die individuelle Aufgabe, mit deren Erfüllung man sich und andern etwas beweisen und die bisherigen Enttäuschungen im Berufsleben kompensieren wollte. So arbeiteten viele mit einem Perfektionismus, der nicht nur den Zeitplan durcheinander brachte, sondern nicht selten dem Ziel, eine Ausstellungspräsentation zu erarbeiten, zuwiderlief. Der Aufwand stand vielfach in keinem Verhältnis zum letztlich sichtbar gemachten, die Gefahr der Nicht-Verwendbarkeit des Erarbeiteten - und damit erneute Enttäuschungen - stellte sich unmittelbar ein. Arbeitsteiliges Vorgehen und Teamarbeit hatten viele Teilnehmer als Erfordernis für ein gutes Produkt bisher kaum kennen gelernt. Die Berufstätigen unter den Teilnehmern waren zeitlich unflexibel, andere mussten diversen Jobs nachgehen, um sich die Mitarbeit am Projekt "finanzieren" zu können, so dass Arbeitspensen und Arbeitsrhythmus bei Einzelnen erheblich divergierten. Ebenso wurde der notwendige Zeitaufwand teilweise stark unterschätzt. Verständlicherweise ließ die Motivation zuweilen nach, Zweifel entstanden, und die Gruppenleiter hatten alle Hände voll zu tun, die Teilnehmer zur weiteren Ausarbeitung ihrer Vorhaben zu ermuntern.
Unerfahrenheit und Unsicherheit im Umgang mit den Aufgaben provozierten nicht selten Missverständnisse und mangelnde Abstimmung. Die Museumsleitung nahm zwar an den Gesamt- und Gruppenleitertreffen teil, bot Anregungen, erörterte Fragen und Probleme und war bemüht, den Zeitplan durchzusetzen, hielt sich aber ansonsten im Hintergrund. Mit dieser Freiheit fühlten sich viele Teilnehmer überfordert. Sie erwarteten Anweisungen "von oben" und Entscheidungen der drei hauptamtlichen Museumskräfte: "Die müssen das doch schließlich wissen." Angesichts des Zusammenprallens unterschiedlichster Biografien, Motivationen und Erwartungen hat die Kooperation allerdings trotz Meinungsverschiedenheiten über Vorgehen und Kompetenzen und trotz kleinerer Krisen erstaunlich gut funktioniert. Nach der Eröffnung wurde die Ausstellung gleich im ersten Monat von 4 000 Menschen besucht, bis heute ist die Zahl der Besucher auf etwa 80 000 angewachsen.
Während der einjährigen Laufzeit des Projekts wurden zahlreiche Kooperationspartner und Helfer im Bezirk gewonnen. Dazu gehören Einzelpersonen ebenso wie Initiativen, Archive, Vereine und Institutionen. Ehemalige und aktuelle Gewerbetreibende, Mieter und Kneipeninhaber steuerten Exponate und Texte bei, öffneten ihre privaten Archive und verhalfen zu weiteren Ansprechpartnern und Ideen. Die Vielfalt und der Ehrgeiz der letztendlich etwa 200 aktiven Projekteilnehmer machten deutlich, dass Kreativität und Engagement in dem von neuer Armut geprägten Gebiet potentiell vorhanden sind, dem Quartier aber Chancen fehlen, dies auch dauerhaft zu nutzen. Eine berufliche Perspektive hat das Projekt den wenigsten Teilnehmern eröffnen können.
Eine Studie des Stadtsoziologen Olaf Schnur über Problemquartiere deutscher Großstädte bestätigt, dass "erhebliche Engagement-Potentiale bei den Bewohnern (...) vorhanden sind, deren Aktivierung jedoch (...) scheitert". 7 Als Gründe nennt Schnur die fehlende soziale und räumliche Nähe zwischen Bürgern und Politikern, verzerrend dramatisierende Negativzuschreibungen durch die Medien, Unterschätzung des Engagement-Potentials der Bewohner sowie soziale Polarisierung und Homogenisierung und fordert den Aufbau einer lokalen Engagement-Infrastruktur, die Förderung lokaler Identifikation sowie die dezentral-autonome Mittelverwendung im Quartier. 8 Methodik und Didaktik des hier vorgestellten Museumsprojekts sowie der intendierte Austausch zwischen der kommunalen Kultureinrichtung und der Stadtteilbevölkerung kommen den Postulaten Schnurs nicht nur sehr nahe, sondern stehen auch in der Tradition Kreuzbergs, dessen "Selbsthilfe- und Aktionsbündniskultur" der späten 1970er und frühen 1980er Jahre eine bemerkenswerte Infrastruktur geschaffen hat. Wenn es auch weiterer Anstöße bedarf, kann das Kreuzberger Ausstellungsprojekt als Initialzündung gesehen werden. Die hergestellten Netzwerke bilden eine dauerhafte Basis für neue Initiativen, Projekte und intensivierte Nachbarschaftskontakte.
In der Evaluierungsstudie über das Projekt 9 wurde die Frage erörtert, ob die Ausstellung, wäre sie von professionellen Museumsleuten erarbeitet worden, besser oder schlechter geworden und ebenso begeistert aufgenommen worden wäre. Die darin angestellten Überlegungen, welche die Standpunktabhängigkeit von Geschichtsarbeit verdeutlichen und den Sinn der Verwissenschaftlichung der Museen in Zweifel ziehen, führen die Autorin zu der Frage, für wen kulturhistorische Ausstellungen - speziell in städtischen Heimatmuseen - gemacht werden. Der Trend zu immer professioneller inszenierten und beworbenen Sonderausstellungen lässt auch die lokalhistorischen Museen nicht unberührt. Meist geht es bei der Themenwahl darum, insbesondere Ortsfremde anzulocken und ihnen eine touristische Attraktion zu bieten, so dass sich die Ortsansässigen von den kulturellen Angeboten weniger angesprochen fühlen. Dass Zeitzeugen und Laien eine hohe Vermittlungskompetenz entwickeln und verständlich dokumentieren können, hat das hier geschilderte Projekt gezeigt.
Möglicherweise repräsentiert die Ausstellung "Geschichte wird gemacht" einen Museumstyp, den Ralph Rugoff das "rührende Museum" nennt: Dies seien "Orte, an denen die übliche Rhetorik der Präsentation auf leicht verstümmelte, man könnte auch sagen: kreative Art und Weise artikuliert ist". Indem sie "hoffnungslos hinter der Idealnorm" zurückblieben, zeigten uns solche Museen "die offiziellen Repräsentationsmodelle in einem unabgeschlossenen Zustand", wodurch es dem Betrachter leichter falle, "diese Modelle als Konstrukte zu verstehen" und "die Willkürlichkeit unserer offiziellen Standards" zu reflektieren. Ebenso könnten uns rührende Museen zu "emotionalen Erlebnissen führen, die uns das zerbrechliche Wesen der Geschichte näher erfahren lassen als die gut geschützten Ausstellungen unserer größten Institutionen". 10 "Das derart zur Bewältigung seiner Vergangenheit animierte und aktivierte Publikum darf aber mit den Problemen, die dieser Vorgang in ihm auslösen kann, nicht leichtfertig allein gelassen oder auch lediglich als Materiallieferant missbraucht werden. Die Betroffenen' wie die Museen werden Hilfe brauchen bei diesem neuen, anspruchsvollen Umgang mit der Geschichte. Das kann durch die Einbindung in längerfristige Lern- und Arbeitsprozesse geschehen, die generell nicht anders als auf einer partnerschaftlichen Ebene organisiert werden sollten (...)". 11
In der Wahrnehmung der Einwanderercommunities war Kreuzberg nie ein Ort dauerhafter Ansiedlung, sondern immer vorübergehender Aufenthaltsort, eine Art Durchgangsstation. Die Hoffnungen der türkischen Migranten richteten sich auf baldige Rückkehr ins Herkunftsland oder auf einen sozialen Aufstieg, was einem Weiterzug in den Berliner Westen entsprach. So entstand im Bezirk eine hohe Mobilität - ein Grund dafür, dass sich kein an den Ort gebundenes Traditionsbewusstsein entwickeln konnte. Über die Erfahrungen, die Menschen im Migrationsprozess machen, wird wenig tradiert.
Auch im Kreuzberg-Museum war wenig über die Einwanderungsgeschichte seit dem Anwerbeabkommen mit der Türkei 1961 und die Erfahrungen der Migranten bekannt. So wurde sie erst zum Gegenstand seiner Forschungen, Sammelkonzeption und Ausstellungstätigkeit, als die Einwanderer(kinder) selbst die fehlende Präsenz ihrer Geschichte im Stadtteilmuseum bemängelten. Bei der Vorbereitung der von 2000 bis 2002 gezeigten und in dieser Zeit kontinuierlich erweiterten Ausstellung "Wir waren die ersten - Türkiye' den Berlin' e" zum vierzigjährigen Jubiläum der türkischen Einwanderung nach Kreuzberg war das Museumsteam stark auf die Mitwirkung der "Erlebnisgeneration" angewiesen. Schon deshalb musste ein Prozess der Zusammenarbeit zwischen Museumsfachleuten und Migranten bzw. deren Nachfahren organisiert werden: Ehemalige "Gastarbeiter", die in den 1960er Jahren im Rahmen der Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik und nach West-Berlin gelangten, heute entweder dauerhaft hier leben, "pendeln" oder zurückgekehrt sind, also die Angehörigen der "ersten Generation", waren bei diesem Ausstellungsprojekt nicht nur Interviewpartner, sondern auch Leihgeber von Exponaten und teilweise auch selbst Ausstellungsproduzenten. Gespräche mit ihnen lösten bei den Interviewern und später beim Publikum zahlreiche "Aha-Effekte" aus, beseitigten Missverständnisse und trugen zur Korrektur des häufig lücken- und fehlerhaften Alltagswissens über die Gründe und den Verlauf der Migration bei. Die exemplarische Vorstellung ihrer Biographien, die konsequente Zweisprachigkeit der Ausstellung und der intergenerationelle Vergleich machten die Erfahrungen mit Kulturwechsel nachvollziehbar.
Das verbreitete Klischee, die ersten Gastarbeiter seien in der Regel männlich gewesen, hätten über keine qualifizierte Allgemein- und Berufsausbildung verfügt, aufgrund von Armut und Arbeitslosigkeit ihr Land verlassen und stammten aus ländlichen Regionen wie Anatolien, konnte schon nach wenigen Interviews revidiert werden. Die vom Konzern Telefunken angeworbenen türkischen Frauen hatten beispielsweise nichts gemein mit Klischeevorstellungen von "der türkischen Frau", wie sie heute kolportiert werden, wie ihre Erinnerungsfotos belegen. Die jungen Frauen, die in den 1960er Jahren kamen, waren urban orientiert und säkular eingestellt. Sie kleideten sich nach der damaligen Mini-Mode und verbanden ihren Wunsch nach Gelderwerb mit der Absicht, die Welt kennen zu lernen. Nach islamischer Vorschrift in lange Mäntel und Kopftücher gekleidete Frauen waren damals in der Minderheit - sie gehören meist zur Gruppe der so genannten "Heiratsmigrantinnen", die nach dem Anwerbestopp 1973 in die Bundesrepublik kamen und andere Bildungsvoraussetzungen und gesellschaftliche Orientierungen mitbrachten. Sie wurden in Deutschland häufig nicht in den Arbeitsprozess eingegliedert und knüpften entsprechend selten Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft. Die Erfahrungen dieser Zeitzeuginnen wurden ebenfalls dokumentiert, sollte doch deren "Schatten-Dasein" in der historischen Darstellung nicht noch einmal reproduziert werden.
Eine tragende Rolle bei der Vorbereitung des Ausstellungsprojektes zur Migrationsgeschichte fiel der "zweiten Generation" zu, den hier geborenen oder als Kinder und Jugendliche nach Deutschland gekommenen heute Zwanzig- bis Vierzigjährigen. Als Moderatoren und "Türöffner" schlagen sie Brücken zwischen unterschiedlichen Temperamenten, Vorverständnissen und Herangehensweisen in multikulturellen Projekten, können sie doch im wörtlichen wie übertragenen Sinne "Übersetzungshilfen" anbieten, für Vertrauen werben und Missverständnisse ausräumen. Die Begrenzung und Zuspitzung der Ausstellung "Wir waren die ersten" auf den Zeitraum Anfang der 1960er bis etwa Anfang der 1980er Jahre schloss die interkulturellen Erfahrungen dieser Generation jedoch zunächst aus bzw. beschränkte sie auf ihre Erinnerungen als in der Türkei bei Verwandten und Bekannten "für ein Jahr" zurückgelassenen Kinder, die Tonkassetten mit sehnsüchtigen Gedichten und Grüßen besprechen und an ihre Eltern schicken durften. Die konzeptionell bedingte zeitliche Eingrenzung des Ausstellungsthemas forderte Kritik heraus und trug der Ausstellung vereinzelt sogar den Vorwurf ein, mehr zu verklären als zu erklären ("Gastarbeiteridyll") und die gegenwärtigen Herausforderungen im Zusammenleben auszublenden. Auch viele Beiträge im Besucherbuch mahnten eine "Fortsetzung" der Ausstellung an. 12
In Erweiterung der ersten Ausstellung wurden deshalb Ende 2001 unter dem Titel "Wir sind die nächsten ..." die erwachsenen Kinder der "Ersten" mit großen Portraitfotos, Interviewstatements und von ihnen selbst zusammengestellten biographischen Alben ins Zentrum der Ausstellung gerückt. Als besonders interessant erwies sich jetzt der "Sprachenvergleich". Da die Ausstellung konsequent zweisprachig gestaltet war, wurden auch die "Zweiten" angehalten, je ein Interview auf Türkisch und auf Deutsch zu geben: Die Sprachkompetenz hatte sich in einer Generation umgekehrt. Während die Eltern nur sehr holpriges Deutsch sprechen, konnten die Kinder mehrheitlich mit ihrem Türkisch nicht überzeugen. Die fehlende Sprachkompetenz im Türkischen und der wachsende Abstand zur Kultur ihrer Eltern führten bei der zweiten und dritten Generation aber auch zunehmend zu Einbußen in der Befähigung für die Moderatorenrolle. 13
Der Erfolg interkultureller Museumsarbeit, das zeigte auch dieses Museumsprojekt, misst sich an ihrer Prozessqualität. Nur im Verlauf des Prozesses der Zusammenarbeit konnten die Sichtweisen der Migranten auf das Thema an Bedeutung gewinnen und das Ergebnis nachhaltig prägen, dabei allerdings auch in Konflikt geraten mit den Erkenntnissen wissenschaftlicher Forschung oder den ursprünglichen Intentionen des Vorhabens. Unterschiedliche Auffassungen zur Darstellung und Interpretation des Geschichtsverlaufes waren "auszuhalten" und als solche zu dokumentieren. 14
Bei der Vorbereitung und Durchführung von partizipativen Ausstellungsprojekten ergeben sich auch besondere Anforderungen an die Strukturqualität von Museen. Nicht (nur) das gut ausgestattete Archiv, die Bibliothek, EDV usw. sind für einen erfolgreichen Verlauf entscheidend, sondern die Aufenthaltsqualität im Museum, das Vorhandensein geeigneter Treffpunkte, Gruppenarbeitsräume und Teeküchen. Da Museen solche Qualitäten in der Regel nicht aufweisen, bietet sich eine Zusammenarbeit mit Nachbarschaftszentren oder Kulturläden an. Auch aus Gründen der Verantwortung für die eingegangenen sozialen Beziehungen - gerade wenn es um die Aufarbeitung von Biographien mit Betroffenen geht - ist eine Rückkoppelung mit sozialpädagogischen Einrichtungen unbedingt zu empfehlen. Manche Interviewpartner mussten sich zum Beispiel im Rückblick auf ihr Leben eingestehen, dass die Aufrechterhaltung (und permanente Verschiebung) der Rückkehrabsicht eine schmerzhafte Lebenslüge war.
Die beiden hier geschilderten Ausstellungsprojekte haben maßgeblich dazu beigetragen, dass das Kreuzberg-Museum heute eine lebendiges Stadtteilmuseum ist. Dafür sorgen nicht nur die Ausstellungsbesucher: Die eingegangenen Kooperationen führten zu einer engen Vernetzung mit weiteren Akteuren im Stadtteil. Synergieeffekte werden belegt durch zahlreiche gemeinsame Veranstaltungen, Diskussionen und Kurse, die das Museum als "Ressource" und "Ausgangsbasis" nutzen. 15 Zusätzlich ergaben sich internationale Kooperationen, z.B. mit den Partnerstädten des Bezirks in Polen und in der Türkei. Die Deutsch-Britische Stiftung ließ sich anregen zu dem Vergleich: "Lebt es sich leichter als Türke in Berlin oder als Pakistani in Bradford?" 16 Die drei fest angestellten Mitarbeiter des Museums gerieten unversehens und immer mehr in die Rolle, Prozesse, die sie selbst mit in die Wege geleitet hatten und die nun zunehmend ihre eigene Dynamik entfalteten, zu moderieren, zu koordinieren und zu steuern. Traditionelle Museumstätigkeiten wie historische Forschung, Erschließung der (inzwischen erheblich erweiterten) Sammlung und - nicht zuletzt - die Verwaltungsaufgaben kamen dabei phasenweise zu kurz. Die "Wahrnehmung des kulturellen Mandats" im Stadtteil durch das Museum benötigt mehr personelle Ressourcen als Stadteilmuseen in der Regel haben. Der soziale "Faktor" erweist sich als voraussetzungsvoll und verändert das "Produkt" Museum.
1 Hilmar Hoffmann,
Museen in kommunalpolitischer Sicht, in: Ellen
Spickernagel/Brigitte Walbe (Hrsg.), Das Museum - Lernort contra
Musentempel, Gießen 1976, S. 172.
2 Rainer Treptow, Kultur und Soziale
Arbeit, Münster 2001, S. 185ff.
3 Vgl. Jutta Thinesse-Demel, Eine Welt
im Wandel. Museen als Plattform für lebenslanges Lernen, in:
Hartmut John/dies. (Hrsg.), Lernort Museum - neu verortet!,
Bielefeld 2004, S. 15.
4 Bereits 1980 empfahlen die Frankfurter
Hochschullehrerin für Erwachsenenbildung Hildegard Feidel-Merz
und der Museumspädagoge Wolf-Heinrich von Wolzogen den Museen
eine stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse
breiter Bevölkerungsschichten, wobei sie sich auf englische
und amerikanische Museen als Vorbilder bezogen. Vgl. H.
Feidel-Merz/W.-H. von Wolzogen, Das aktive Publikum - Kulturelle
Sozialarbeit und Museum, in: Museumsarbeit, Hessische Blätter
für Volks- und Kulturforschung, Band 10, Gießen
1980.
5 Vgl. Verena Groß, Geschichte
wird gemacht. Ein Projekt stadtteilorientierter Museums- und
Bildungsarbeit in Berlin-Kreuzberg, unveröffentl. Manuskript
der Projektkoordinatorin, 2003.
6 Die im Folgenden verwendeten
männlichen Bezeichnungen umfassen beide Geschlechter.
7 Olaf Schnur, Lokales Sozialkapital
für die "soziale Stadt". Politische Geographien sozialer
Quartiersentwicklung am Beispiel Berlin-Moabit, Opladen 2003, S.
346. Vgl. auch Rolf Keim/Rainer Neef, Ressourcen für das Leben
im Problemquartier, in: APuZ, (2000) 10 - 11, S. 30 - 39.
8 Letzteres ist in Kreuzberger
Quartiersmanagementgebieten insofern ansatzweise realisiert, als
ein Quartiersbeirat Projektfördermittel vergibt. Das
Museumsprojekt "Geschichte wird gemacht" kam auf diese Weise zu
seinem Etat von etwa 125 000 Euro.
9 Vgl. V. Groß (Anm. 5).
10 Ralph Rugoff, Der Nintendo-Holocaust
und die Macht des Rührenden, in: Michael Fehr (Hrsg.), open
box. Künstlerische und wissenschaftliche Reflektionen des
Museumsbegriffs, Köln 1998, S. 325.
11 H. Feidel-Mertz/W.-H. von Wolzogen
(Anm. 4), S. 56.
12 So zum Beispiel: "Leider habe ich
keinen persönlichen Bezug zu diesem Thema, da ich zur dritten
Generation gehöre. (...) wie wär's mit der Geschichte der
zweiten bzw. dritten Generation, die zwischen den Stühlen
sitzt?! Dramatischer ausgedrückt: die Heimatlosen!" Eintrag im
Gästebuch der Ausstellung "Wir waren die ersten ...".
13 Die Interviewauszüge sind
veröffentlicht auf der CD-ROM "... ein jeder nach seiner
Facon? 300 Jahre Einwanderung nach Kreuzberg und Friedrichshain",
hrsg. vom Verein zur Erforschung und Darstellung der Geschichte
Kreuzbergs und dem Kreuzberg-Museum, Berlin 2005.
14 Vgl. Martin Düspohl, In jeder
Generation tauscht sich die Bevölkerung einmal aus.
Migrationsgeschichte in der Konzeption des Kreuzberg-Museums, in:
Jan Motte/Rainer Ohliger (Hrsg.), Geschichte und Gedächtnis in
der Einwanderungsgesellschaft, Essen 2004.
15 So z.B. das Projekt "X-berg-Tag",
bei dem junge Kreuzberger mit Migrationshintergrund anderen
Jugendlichen ihre Lebenswelt zeigen, dabei durch das Museum und in
eine Moschee führen.
16 Roger Boyes/Dörte Huneke: Lebt
es sich leichter als Türke in Berlin oder als Pakistani in
Bradford?, London 2004, online unter:
www.agf.org.uk/pubs/pdfs/1433web_de.pdf. Die Studie wurde im Juni
2004 im Rahmen einer Tagung im Kreuzberg-Museum vorgestellt, an der
neben Kreuzberger Akteuren auch Vertreter der pakistanischen
Community aus dem Immigranten-Stadtteil Manningham von Bradford
teilnahmen.