Navid Kermani
Die Debatte um Integration wird zu hysterisch geführt, findet der Schriftsteller. Denn die Realität ist viel normaler.
Wie würden Sie ihre Identität beschreiben? Sind Sie Iraner, Ausländer oder Deutscher mit Migrationshintergrund?
Deutscher mit Migrationshintergrund, oh je nein, in diesem Wortungetüm finde ich mich nicht wieder. Aber im Ernst, diese Fragen stelle ich mir nicht. Ich muss sie beantworten, weil andere sie an mich herantragen. Ich bin in Deutschland aufgewachsen und es war selbstverständlich, dass ich zu Hause Persisch und in der Schule Deutsch sprach. Erst später, als die Debatte über Gastarbeiter und dann über den Islam aufkam, wurde ich ständig nach meiner Herkunft gefragt. Viele Deutsche können offenbar nicht glauben, dass diese polyglotte Selbstbeschreibung kein Problem ist, sie meinen, daraus müsste automatisch eine Identitätskrise erwachsen. Ich hätte aber eine Identitätskrise, wenn ich wirklich nur eine Identität hätte.
Sie haben über sich als Mensch gesprochen. Und als Autor? Sind Sie ein deutscher Schriftsteller?
Ja, eindeutig. Wie deutsch ich mich fühle, können Sie daran ermessen, dass ich, als ich in einem Buchladen meine Bücher in der Rubrik persische Literatur sah, diese in das deutsche Regal umgestellt habe.
Sie sind im Oktober in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen worden. Eine große Ehre?
Das bedeutet mir sehr viel. Wenn ich mir vor Augen halte, welche Biografien dahinterstecken, welcher Wille zur Bildung und Leidenschaft für Kultur - ich meine nicht bei mir, sondern bei meinen Vorfahren, den Vorfahren meiner Eltern in Iran, damit am Ende so ein Einwanderersohn wie ich in diese ehrwürdige Deutsche Akademie aufgenommen wird: Wow, da könnte mir richtig schummerig werden.
Wie würde die Mehrheit der Muslime die Frage nach der Identität beantworten?
Eine bestimmte Tradition des Denkens in Deutschland erschwert die Gleichzeitigkeit kultureller Bezugssysteme. Das ist beispielsweise in Amerika anders. In Deutschland gibt es eine Tendenz zur eindeutigen Bestimmung. Das äußerst sich symbolisch in der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft, die außerhalb von Deutschland als absurd empfunden wird. Deutsche Politiker stellen sich Identität wie einen Stuhl vor, auf den man sich setzt. Dass das Ganze ein organisches Gewebe ist, wollen sie nicht sehen. Die jungen Leute in Deutschland und erst recht die Kinder, übrigens auch die deutschen Kinder, gehen mit dieser Vielfalt ungleich selbstverständlicher um als zu meiner Schulzeit.
Dennoch haben Kinder von Einwanderern oft große soziale Probleme und insgesamt eine schlechtere Bildung.
Die, die am Ende die Leiter herunter purzeln, sind diejenigen, die nicht die nötige Leistung bringen. Und das ist nicht ethnisch bedingt, sondern hängt vom Bildungshintergrund und dem Ehrgeiz der Eltern ab. In dem Umfeld in Köln-Eigelstein, in dem eine relativ ausgeprägte türkische Mittelschicht lebt, beobachte ich, dass die türkischen Kinder relativ gut sind. Die italienischen Kinder haben hier viel größere Probleme. Wenn wir über die Probleme reden wollen, müssen wir über das deutsche Schulsystem reden, das die Kinder sehr früh aussiebt.
Aber flüchten sich nicht Viele auch gern in die Opferrolle?
Die Normalität im Zusammenleben ist viel verbreiteter als dies üblicherweise in den Medien dargestellt wird. Diese Selbstverständlichkeit, die vielerorts herrscht, scheint übrigens auch ein Impuls von Bundesinnenminister Schäuble gewesen zu sein, die Islamkonferenz anzustoßen. Er erzählte uns einmal, dass er zu Hause bei sich in Gengenbach genau diese Normalität erlebt. Nicht überall gibt es nur Probleme, nicht überall ist Köln-Müllheim oder Neukölln.
Warum haben wir dann das Gefühl, dass so viel im Argen liegt?
Wenn ich nur Zeitung, speziell das Feuilleton lesen würde, hätte ich längst resigniert. Diese Debatte, dieser Alarmismus, diese Bereitschaft zur Eskalation: Das hat mit meiner sozialen Realität fast nichts zu tun. Das läuft in den Köpfen von Leuten ab, die sehr wenig mit Ausländern zu tun haben. Wenn Sie den Moscheebau in Köln anschauen, dann gibt es eine mediale Realität, wo alles hochgespult wird; gehen sie tatsächlich zur Bürgerversammlung, sind die Leute total down to earth und kommen mit praktischen Fragen, nicht mit Kulturkampftheorien. Diese Gesellschaft hat das hohe Maß an Einwanderung ziemlich gut bewältigt.
Gilt das auch für Ostdeutschland?
Nein. Das muss man ganz deutlich sagen: Das ist schlimm. Dort gibt es tatsächlich No-Go-Areas. Da können Leute wie ich nicht hingehen.
Hat die Politik geschlafen?
Allerdings. Helmut Kohl hat noch vor zehn Jahren behauptet, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Auf der linken Seite des Spektrums war die Haltung verbreitet, alles, was nicht deutsch ist, ist an sich gut. Völlig irreal, diese Romantisierung des Ausländers. In dieser Hinsicht ist die Debatte jetzt ehrlicher geworden, allerdings nimmt sie nun in anderer Hinsicht hysterische Züge an. Helden sind dann vor allem die, die ihre eigene Kultur beschimpfen. Und die anderen müssen sich ständig rechtfertigen: all die Probleme hätten nichts mit ihrer Religion zu tun. Dass man zugleich loyal und kritisch sein kann, und zwar beiden Kulturen gegenüber, fällt unter den Tisch.
Mit vielen kann man aber auch gar nicht reden, aus viel banaleren Gründen. Sie sprechen kein Deutsch....
In Deutschland sind ganz bestimmte Schichten eingewandert. Gerade die Türken kamen aus den Dörfern. Es waren viele Analphabeten darunter. Ihre Kultur, ihr patriarchalisches Denken, das Bild vom Islam, all das haben sie hier weitergelebt. Viele Türken haben einfach ihr Dorf in Deutschland neu gebaut. Das Problem ist: Man hat sie in Ruhe gelassen. Die Einzigen, die sich um sie gekümmert haben, waren die Moscheen. Und die wollten ja gerade, dass sie Türken bleiben. Es fand also das Gegenteil von Integration statt. Es ist etwas ganz Neues, dass DITIB, die mitgliederstärkste Migrantenorganisation, neuerdings auf Integration setzt.
Wieso kommt die deutsche Gesellschaft mit der Zuwanderung - trotz aller Probleme - besser zurecht als beispielsweise Frankreich?
Die Deutschen sind durch das Dritte Reich sensibilisiert. Es gab und gibt viele Tabus, wenn es um das Thema Ausländer geht. Und diese Tabus sind auch manchmal ganz gut. Außerdem hatten die Deutschen Glück, weil Türken kamen und keine Araber. Die Araber hätten den Palästinakonflikt importiert oder die Probleme der Diktaturen Nordafrikas. Die Türken sind im Grunde eine einfach zu handhabende Gruppe. Sie kommen aus einem laizistischen Staat und haben vor allem geschuftet und sich geduckt.
Ist die Islamkonferenz der Startschuss zu etwas Neuem?
Es ist sehr gut, dass der Anstoß von einem CDU-Innenminister kommt. Der Paradigmenwechsel ist: Der deutsche Staat redet mit den Muslimen und nicht über sie. Dass es dort oft langweilig ist, manche Arbeitsgruppen schlecht vorbereitet sind: geschenkt. Aber die Islamkonferenz ist ein großer symbolischer Akt. Die Muslime haben endlich gemerkt, sie müssen sich formieren und sich eine Struktur geben. Dieser Prozess ist extrem beschleunigt worden. Und vor allem die nicht orthodoxen Muslime merken, wenn sie nicht zwischen Islamkritikern und orthodoxen Verbänden zerrieben werden wollen, dass sie sich jetzt äußern müssen - als Muslime.
Das Interview führte Annette Rollmann.
Navid Kermani wurde 1967 als Sohn iranischer Eltern in Siegen geboren. Die Bücher des Schriftstellers und Islamwissenschaftlers wurden mit zahlreichen Preisen geehrt. Anfang 2007 erschien seine vorerst letzte Veröffentlichung, der Roman "Kurzmitteilung". Seit Oktober 2007 ist er Mitglied in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.