Feindbild Islam
Mehr Wissen gleich weniger Angst: Diese Rechnung geht nicht immer auf.
Stellen Sie sich vor, Sie hätten ständig das Gefühl, ihre Unschuld beteuern zu müssen. Weil Sie, wie in Deutschland mehr als drei Millionen Menschen, muslimischen Glaubens sind. Dass dieser Eindruck vieler Muslime nicht auf bloßer Einbildung fußt, belegt die Meinungsforschung. So hat das Institut für Demoskopie in Allensbach 2006 herausgefunden, dass 98 von 100 Deutschen mit dem Islam Gewalt und Terror verbinden. Der bekannter Nahostexperte Michael Lüders nimmt solche Zahlen zum Anlass, um mit seinem neuen Buch "Allahs langer Schatten. Warum wir keine Angst vor dem Islam haben müssen" gegen islamophobische Stimmungen anzuschreiben.
Nach einem engagierten Vorwort bietet er zunächst auf guten 100 von insgesamt 223 Seiten religionsgeschichtliches Basiswissens: Ein Schnelldurchlauf durch die Geschichte des Islams und die Erläuterung von Stichwörtern wie Koran, Sunniten und Schiiten bilden den Auftakt. Im zweiten Teil nimmt er sich dann der Gegenwart an. In kurzen aber ausgesprochen inhaltsstarken Kapiteln werden die Hintergründe und aktuellen Entwicklungen der Krisenregionen Irak, Afghanistan, Iran und Nahost journalistisch und gekonnt dargelegt. Sie seien jedem empfohlen, der sich mit wenig Zeitaufwand auf einen aktuellen und fundierten Stand bringen möchte.
Nun hat die Feindbildforschung häufig die frustrierende Feststellung machen müssen, dass die Rechnung "mehr Wissen gleich weniger Angst" leider häufig nicht aufgeht. So bietet auch dieses Buch in weiten Teilen wenig Grund zur Entspannung. Denn Lüders selbst schreibt der politischen Situation im Nahen und Mittleren Osten "das Potenzial eines weltweiten Flächenbrandes" zu. An anderer Stelle vergleicht er sie mit "einer Anhäufung von Pulverfässern mit mehreren glimmenden Zündschnüren". Gerade im zweiten Teil des Buches schließen nahezu alle Kapitel mit pessimistischen Szenarien. Auch die Kenntnis der zentralen These Lüders, dass die westliche Welt sich ihre Feinde aus der islamischen Welt seit kolonialen Zeiten zu einem erheblichen Teil selbst geschaffen hat, führt nicht zwangsläufig dazu, weniger Angst vor den Folgen zu haben. Davon scheint der Autor jedoch auszugehen, obwohl er sehr anschaulich darlegt, welch desaströse Wirkung gerade die US-amerikanische Außenpolitik bereits gezeigt hat und wohl noch lange zeigen wird.
Auch wenn man die Analyse der weltpolitischen Situation Lüders im Groben für realistisch hält, erscheint es doch überzogen, dass das gesamte Buch an der These "der Westen ist selber Schuld" entlang geschrieben wurde. Spätestens aber bei Passagen, in denen sich der Autor gegen die mediale Thematisierung der "Ehrenmorde" richtet, weil sie die Muslime als Kollektiv unter Anklage stelle, tappt er in die Multikulti-Relativismus-Falle. Überhaupt bietet der Autor unnötig viele Angriffspunkte - beispielsweise inhaltliche Ungereimtheiten. So schreibt er: "Nur vollständige Ignoranten konnten ernsthaft annehmen, Amerikaner und Briten würden im Irak als Befreier angesehen (...)." Einige Seiten vorher liest man dagegen, die irakische Bevölkerung habe den Neuanfang zunächst begrüßt. Nicht zu Ende gedachte historische NS-Vergleiche sowie andere Unreflektiertheiten kommen hinzu. So wird die beliebte These, das Feindbild Islam habe das Feindbild Kommunismus abgelöst, historisch nicht haltbarer, wenn sie nur in schöner Regelmäßigkeit wiederholt wird.
Solche Schwächen sind bedauerlich, denn das Buch ist gleichermaßen informativ und leidenschaftlich. Wertvoll und viel zu selten praktiziert ist Lüders Werben dafür, die verschiedenen Wahrnehmungen derselben Realitäten im Dialog mit dem jeweils anderen zu berücksichtigen. Denn er schafft es, in lebendigen Worten jene Lebenswelten zu skizzieren, die die Sicht der Dinge von vielen Muslimen prägt. Und genau solche Empathieleistungen bergen die Kraft, überzogene Ängste im täglichen Miteinander abzubauen.
Allahs langer Schatten. Warum wir keine Angst vor dem Islam haben müssen.
Verlag Herder, Freiburg/Brsg. 2007; 223 S., 19,90 ¤