Zwangsheirat
Das neue Zuwanderungsgesetz ändert kaum etwas an dem schwerwiegenden Delikt. Frauen werden gedemütigt und mit dem Tode bedroht.
Gül war schon lange einem Cousin versprochen. Die Heirat war ausgemacht. Doch dann lernte sie Mustafa kennen, verliebte sich in ihn, wollte bei ihm bleiben. Seither ist das Paar auf der Flucht, denn ihren Eltern konnte sie Mustafa nicht vorstellen. "Mein Vater hätte mich zu Hause eingesperrt und gezwungen, den Kontakt zu Mustafa abzubrechen. Wir hatten nur die Wahl: Trennung oder Flucht", sagt die 23-Jährige und wischt sich die Tränen aus den Augen. Mustafa hält ihre Hand. "Wir hätten so gern mit ihrer Familie Hochzeit gefeiert", bedauert er. "Aber sie ließen uns keine Chance. Jetzt ist sie meine Frau und ich will alles tun, was in meiner Macht steht, um sie zu schützen." Fast klingen seine Worte wie eine Beschwörung. Denn auch Mustafa muss um sein Leben fürchten. Er hat die Familienehre seiner Braut verletzt. In einem Schreiben der Polizei heißt es nun, dass überall dort, wo die beiden von Amts wegen ihre Adresse hinterlassen, ein Sperrvermerk hinzugeschrieben werden muss.
Nicht nur Gül und Mustafa sind auf der Flucht. Insgesamt steigt die Zahl der Hilfesuchenden. Meldeten sich auf der Webseite www.Hennamond.de früher rund fünf Betroffene pro Monat, ist ihre Zahl mittlerweile auf 40 gestiegen. Fatma Bläser, Initiatorin der Website, begründet das mit der Ermutigung, die die Frauen zunehmend durch Organisationen und Presseberichte erhalten. "Die Frauen fangen an, sich zu wehren." Fatma Bläser hat mit ihrem Buch "Hennamond" die Geschichte ihrer Flucht veröffentlicht und liest daraus regelmäßig in Schulen vor.
Bläsers Kindheit ist über 30 Jahre her, aber das Ehrkonzept, nach dem die Frau Eigentum der männlichen Familie ist, existiert bis heute. In einer 2005 in Diyarbakir in der Türkei gemachten Umfrage bestätigten 64 Prozent der Befragten, es sei das Recht des Ehemannes, über die Bestrafung einer untreu gewordenen Ehefrau zu entscheiden und die Strafe selbst zu vollstrecken. 37 Prozent meinten, die Frau habe in diesem Fall den Tod verdient, 30 Prozent befürworteten Strafen wie Nase oder Ohr abschneiden.
Dass viele Migranten ihre Denktraditionen auch nach Jahrzehnten in Deutschland nicht hinter sich gelassen haben, ihre Kinder und Enkel, geprägt vom deutschen Schulsystem, aber um Freiheit und Gleichberechtigung ringen, zeigt die kontinuierlich wachsende Zahl der Hilferufe bei der Frauenrechtsorganisation "Terres des Femmes" in Tübingen: 2004 meldeten sich 104 bedrohte Menschen, 2005 fast doppelt so viele. Myria Böhmecke von "Terres des Femmes" bekam letztens auch den Anruf eines homosexuellen Iraners. Als die Familie von seiner Neigung erfuhr, sei er verprügelt worden und sollte dann ganz schnell verheiratet werden. "Für Frauen gibt es viel zu wenige Hilfseinrichtungen, für Männer aber gar keine", bedauert Myria Böhmecke.
Denn auch Männer können Opfer von "Ehrenmorden" werden, wie der Gerichtsfall von Hatice und Moussad (Namen von der Redaktion geändert) aus Kassel zeigt. Im Mai 2004 spürten Hatices Bruder und zwei ihrer Cousins die beiden auf, erschossen den werdenden Vater. Die hochschwangere Hatice überlebte schwer verletzt, brachte am Tag nach der Tat ihr Kind zur Welt und lebt seither unter Polizeischutz.
Beim Prozessauftakt im Dezember 2004 und während der 49 folgenden Verhandlungstage verwandelte sich das Landgericht Kassel in eine Hochsicherheitszone. Man fürchtete Blutrache und einen weiteren Mordanschlag gegen Hatice.
Für Opferbeistand Regina Kalthegener war dies nicht der erste Ehrenmordfall, den sie betreute. Im Umgang mit Frauen wie Hatice hat sie immer wieder festgestellt, wie tief die Tradition und das damit verankerte Schuldgefühl sitzt. "Obwohl man ihnen Gewalt angetan hat, fühlen sich die Frauen schuldig für das Dilemma, in das sie, wie sie denken, ihre Familien gebracht haben." Immer wieder machen sie deshalb ihre polizeilich gemachten Aussagen vor Gericht rückgängig und deckten damit die Täter. Wie viele Ehrenmorde es in Deutschland schon gegeben hat, dafür gibt es noch immer keine offiziellen Zahlen.
Moussads Mörder waren 15, 18 und 25 Jahre bei der Tat - typisch für Ehrenmorde. Fast immer beauftragen Familien dafür ihre jüngsten männlichen Angehörigen, weil diese dann nur Jugendstrafen bekommen und weil es in der patriachalen Familienordnung Aufgabe der jungen Männer ist, über die Moral der Frauen in der Familie zu wachen. Wenn sie dabei "versagen", verliert die Familie ihre "Ehre". Und die kann, so glauben einige, nur durch den Tod wiederhergestellt werden. Für Hatice ist die Bedrohung daher nicht aus der Welt, auch wenn die Täter derzeit im Gefängnis sitzen. Andere Rächer aus der Familie könnten folgen - und das lebenslang.
"Leider glauben viele jetzt, dass die neue Praxis des Ehegattennachzugs Zwangsverheiratungen verhindern wird und dass das Problem damit langsam aus der Welt geschafft werden könne", seufzt Rechtsanwältin Kalthegener. Das reformierte Zuwanderungsgesetz ist seit Juni in Kraft. Mit der so genannten Nachzugsregelung wollte die Große Koalition den Zustrom minderjähriger Importbräute drosseln. Jetzt müssen aus der Türkei nachziehende Ehegatten mindestens 18 Jahre alt sein und Deutschkenntnisse nachweisen. "Aber das verhindert doch nicht, dass man sie vorher verheiratet hat. Und es sagt gar nichts darüber aus, ob die Frauen diese Ehe freiwillig eingegangen sind und wie sie dann nachher hier leben", sagt die Frauenrechtslobbyistin und prangert die Ungleichbehandlung an, die in dem Gesetz steckt. Nachziehende Ehegatten aus den USA, Australien oder Japan müssen nämlich kein Deutsch können.
Ein Deutscher türkischer Herkunft, der seine Frau aus Ostanatolien nach Deutschland holen möchte, will deshalb jetzt dagegen klagen. Er hat den Berliner Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Rechtsanwalt Volker Ratzmann mit dieser Aufgabe betraut. Ratzmann schließt eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht nicht aus, denn aus seiner Sicht verstößt das geänderte Zuwanderungsgesetz gegen den Gleichheitsgrundsatz und den Schutz von Ehe und Familie im Grundgesetz. "In Ostanatolien gibt es kein Goethe-Institut, in dem die Frau Deutsch lernen könnte. Hier werden rein formale Sprachhürden aufgebaut, die das Problem der Zwangsverheiratung nicht lösen", kritisiert Ratzmann.
"Terres des Femmes" hatte bereits im Juni bei der Verabschiedung des neuen Zuwanderungsgesetzes mit über 3.000 Unterschriften dagegen protestiert. Anders als erhofft, ermöglicht es kein vereinfachtes und verlängertes Rückkehrrecht bei Heiratsverschleppung. Werden in Deutschland aufgewachsene Migrantinnen gegen ihren Willen ins Ausland verheiratet, so haben sie derzeit lediglich sechs Monate Zeit, bevor sie ihr Rückkehrrecht nach Deutschland verlieren. Terres des Femmes hält eine dreijährige Karenzzeit deshalb für dringend erforderlich.
Auch die frauenpolitische Sprecherin der Grünen, Irmingard Schewe-Gerigk, ist unzufrieden mit dem, was die Regierung bislang von den im Koalitionsvertrag vereinbarten Maßnahmen gegen Zwangsheirat auf den Weg gebracht hat: "Es wird ganz viel geredet, aber wenig getan." Die Grünen wollen deshalb ihre bereits abgelehnten Gesetzänderungsvorschläge zur Zwangsverheiratung noch einmal ins Parlament bringen. Auch Kanzlerin Angela Merkel fordert inzwischen ein schärferes Vorgehen gegen Zwangsehen und setzt sich für einen eigenen Straftatbestand ein. Der war bis jetzt noch nicht so vorgesehen.
Renate Bernhard und Sigrid Dethloff sind Autorinnen des Films "Zur Ehe gezwungen - Frauen fliehen aus ihren Familien".