Islamwissenschaft
Das verstärkte Interesse von Politik und Gesellschaft führt zu einer Neuordnung der Forschungslandschaft - inhaltlich und strukturell
Angesichts der zunehmenden Spannungen zwischen dem Westen und der islamischen Welt steht auch die Wissenschaft vor neuen Herausforderungen. Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wird von Fächern wie der Islamwissenschaft oder der Arabistik immer stärker erwartet, dass sie in der öffentlichen Debatte auf die zentralen Fragen der Zeit kompetente Antworten geben und Erklärungen liefern. "Viele Kollegen sind sehr froh, mehr Anerkennung und Interesse zu finden", sagt Gudrun Krämer, Direktorin des Instituts für Islamwissenschaft an der Freien Universität in Berlin. "Ich finde es fantastisch, dass die gesellschaftliche Relevanz so offenkundig geworden ist."
Als die Professorin in den 70er-Jahren Geschichte, Politik- und Islamwissenschaften studierte, galt es noch als ungewöhnlich, politische Fragen in den Mittelpunkt der Islamforschung zu stellen. "Ich fand damals in der Islamwissenschaft noch wenig Gesprächspartner für aktuelle Bezüge", erinnert sich Krämer. Gerade in der klassischen Islamwissenschaft habe eine große Skepsis gegenüber einer gegenwartsbezogenen Betrachtung überwogen. Auch die Arabistik galt vielerorts lange als schöngeistiges, philologisch orientiertes Orchideenfach.
1845 hatten die Orientalisten um den Leipziger Arabisten Heinrich Leberecht Fleischer die "Deutsche Morgenländische Gesellschaft" gegründet. Unter ihrem Dach erforschten die Gelehrten die Sprachen und Kulturen Asiens, Afrikas und Ozeaniens. Heute dominieren das Fach zunehmend die Beschäftigung mit dem Nahen Osten und die Islamwissenschaft. Der Begriff Orientalismusforschung ist aus der Mode gekommen, seit der palästinensische Intellektuelle Edward Said in seinem Buch "Orientalismus" von 1978 den westlichen Orientalisten vorwarf, anderen Kulturen mit imperialistischer Arroganz zu begegnen.
Alle Fächer werden immer stärker zu Regional- und Kulturwissenschaften und entfernen sich von ihrer ursprünglich stark philologischen Ausrichtung. Manche Forscher befürchten, dass die sozial- und politikwissenschaftlichen Fragestellungen die Literatur- und Sprachwissenschaften völlig zurückdrängen könnten. Auch dass zugunsten der Gegenwartskunde frühere historische Epochen nur noch wenig Beachtung finden, ist ein verbreiteter Vorwurf.
"Die Islamwissenschaft hat sich längst aus dem Elfenbeinturm in die Gesellschaft hinaus begeben", urteilt Udo Steinbach, langjähriger Leiter des Hamburger Orient-Instituts. "Das Thema hat für die Außenpolitik essenzielle Bedeutung." Schon 1979 nach der islamischen Revolution von Ajatollah Chomeini in Iran habe sich der Wissenschaft die dringende Frage gestellt, wie man mit deren anti-westlichen Zügen eigentlich politisch umzugehen habe.
Heute stehen fast alle wissenschaftlichen Institute unter Druck, sich angesichts der politischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts der Gegenwartskunde stärker zu öffnen. Auch beim diesjährigen 30. Orientalistentag in Freiburg unter dem Motto "Welche Vergangenheit, welche Zukunft?" wurde deutlich, dass die Wissenschaftler sich dieser Aufgabe stärker stellen. Mehr als 120 Vorträge galten gegenwartsbezogenen Themen, soviel wie noch nie.
Das Interesse für Fragen rund um den Islam sei bei den Studenten groß, beobachtet Krämer. Zeitgenössische Themen wie "Islamismus", "Demokratie und Islam" oder "Frauen und Islam" seien besonders beliebt. Unter ihren Studenten hat nur eine Minderheit einen Migrationshintergrund. Bekennende Muslime finden sich äußerst selten in ihrem Fachbereich.
Absolventen der Islamwissenschaften haben inzwischen auf dem Arbeitsmarkt weniger Probleme als noch vor wenigen Jahren, wo sie noch als Exoten galten. Dass die Mehrzahl der aussichtsreichen Beschäftigungsfelder heute allerdings bei den Sicherheitsorganen liegt, sehen die Hochschullehrer allerdings mit einiger Ambivalenz.
Das verstärkte Interesse der Politik hat in vielen Bundesländern zu einer Neuordnung der Forschungslandschaft geführt. In Hamburg hat dieser Versuch mit der Schließung des renommierten Orient-Instituts in diesem Jahr ein trauriges Opfer gefunden. Sein langjähriger Leiter Udo Steinbach wechselte zwar zunächst an das neugeschaffene Deutsche Institut für Globale und Regionale Studien (Giga), wird es aber Ende des Jahres 2007 verlassen. Die Vorstandsgeschäftsführerin des Nah- und Mittelostvereins, der das Orient-Institut 1960 gegründet hatte, lehnte es ab, das Institut als eigenständige Einrichtung im Giga aufgehen zu lassen. Stattdessen sollen die Reste des Orient-Instituts in eines der vier Giga-Regionalinstitute (Afrika, Asien, Lateinamerika, Nahost) überführt werden.
Seither existiert die einst anerkannte Forschungsstätte nur noch auf dem Papier, ein "Geister-Institut ohne Geld und Mitarbeiter", wie die Fachpublikation "Zenith" schrieb.
Ein vielversprechender Neuanfang ist in Marburg mit dem neuen Centrum für Nah- und Mittelost-Studien geglückt. Das Land Hessen hat dafür Fachbereiche wie die Islamwissenschaft aus Gießen und die Arabistik aus Frankfurt am Main nach Marburg verlagert. Dabei ist 2006 an der Philipps-Universität ein interdisziplinäres Zentrum entstanden, das die Orientforschung konzentriert und ausbaut. Vier Professuren für die moderne Arabistik, die Iranistik sowie die Politik und die Wirtschaft des Nahen und Mittleren Ostens wurden geschaffen.
Das Thema "Muslime in Deutschland" ist für die Islamwissenschaft ein neues Feld, weil sie sich traditionell eher den muslimischen Mehrheitsgesellschaften widmete. Es waren vor allem die Soziologen und Ethnologen, die sich dieses Forschungsbereichs als erste annahmen. Heute sind auch Pädagogen, Politikwissenschaftler, Zeithistoriker und vereinzelt Islamwissenschaftler damit befasst. An der Freien Universität Berlin entsteht nach dem guten Abschneiden beim Exzellenzwettbewerb ein neues Graduiertenkolleg, das auch eine Juniorprofessur "Islam in Europa" vorsieht. Die bekannteste Forschungsstätte ist das Zentrum für Türkeistudien in Essen, das neben Studien zur Türkei einen Schwerpunkt auf Fragen der Arbeitsmigration und Integration der über zwei Millionen Menschen türkischer Herkunft in Deutschland legt.
In einer Studie stellte das Zentrum fest, dass das Islambild in der öffentlichen Meinung in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2004 deutlich negativer geworden sei. Insbesondere die Darstellung von Muslimen als Terroristen und Gewalttäter habe nach dem 11. September 2001 überproportional zugenommen, sagt der Leiter Faruk Sen.
"Heute sind wir in einer Art von Krieg, bei dem der Islam als Fundus für die Mobilisierung gilt", beobachtet Steinbach. Seit diese Gewalttätigkeit durch Anschläge wie in Madrid 2004 oder in London 2005 bis nach Europa reiche, wachse in der Bevölkerung das Gefühl der Bedrohung. Wenn man aber als Wissenschaftler versuche, diese komplexen Themen differenzierter zu analysieren, sehen sich viele Experten schnell dem Vorwurf ausgesetzt, sie wollten die Bedrohung durch den Islam verharmlosen oder gar verniedlichen.
Für die Fachleute sind die verbreiteten Vorurteile und die mangelnde Sachkenntnis in der öffentliche Debatte häufig frustrierend. "Das wird eher immer schlimmer", beobachtet Krämer. "Wenn man so viele dumme und von Halbwissen geprägte Fragen hört, kommt man selbst oft in die falsche Stimmung." Als Wissenschaftler, der sich ja oft als Mittler oder Brückenbauer zwischen den unterschiedlichen Kulturen verstehe, gerate man leicht in die Defensive. "Wir sollen immer auf die ganz großen Fragen antworten", sagt Krämer: "Warum gibt es keine Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt? Warum ist die Aufklärung ausgeblieben? "Wissenschaft besteht immer darin, zu differenzieren, das bedeutet ja keineswegs verharmlosen", so Krämer. Viele Wissenschaftler beklagen, wie verbreitet heutzutage in Deutschland eine grundsätzliche Mistrauenshaltung gegenüber Muslimen und dem Islam sei.
"Der Islam ist nicht bedrohlich", sagt der Marburger Altorientalist Walter Sommerfeld. "Die Angst kommt vor allem daher, dass man zu wenig weiß." Der Zugang zur islamisch-arabischen Kultur sei eindeutig noch zu stark in einer exotischen Nische angesiedelt.
Als zusätzliche Schwierigkeit werten viele Forscher, dass sie bei Differenzierungen auch schnell dem Verdacht ausgesetzt werden, anti-israelisch zu sein. "Wenn man versucht, die grundschwellige Animosität gegen den Westen mit der israelischen Besatzungspolitik Israels in Verbindung zu bringen, wird einem sogar schnell unterstellt, man sympathisiere mit Antisemiten", ist auch Steinbachs persönliche Erfahrung.
Der Hamburger Islamexperte sucht bewusst die Öffentlichkeit. "Es ist notwendig, dass wir uns den Medien stellen, schon als notwendiges Korrektiv zu den gängigen Pauschalierungen", sagt Steinbach. Heutzutage bedeute dies, dass man sich in echte Konflikte begebe. Wer versuche in der aufgeregten Kopftuchdebatte klarzumachen, dass dies vor allem ein Ausdruck religiöser Gefühle sei, sehe sich sehr viel Widerspruch ausgesetzt. "Es ist wichtig, dass sie als Islamwissenschaftler Zivilcourage haben", sagt Steinbach. "Die Islamwissenschaft ist heute längst ein Teil der Friedens- und Konfliktforschung geworden."
Die Autorin ist freie Journalistin in Berlin.