Kommentar Niederelbe-Zeitung:

August 2004

Elektrischer Stuhl oder altes Eisen?

„Kannst Du denn nicht mal die Haare aus dem Waschbecken nehmen!“ Wahrscheinlich hat diesen Satz jeder von uns schon einmal gehört. Ich habe mich an ihn während des Besuchs der Ausstellung „Re-Art-one“ erinnert, der wirklich faszinierenden Querschnittsschau mit Kunstwerken aus Abfällen in Ihlienworth. Kaum zu glauben, dass die zarten, sinnlich-erotischen Zeichnungen, die sich in Waschbecken und Klosett scheinbar verirrt haben, nicht mit Blei- oder Kohlestift skizziert sind. Es sind tatsächlich Haare, die die Künstlerin verarbeitet hat - alltäglich verlorene Haare mutieren hier zu einer zauberhaft anregenden Phantasie. „Da kuschelig sitzen mit einem guten Buch und einem Glas Rotwein!“ wünsche ich mir vor dem dunklen Moorwagen, in dem Stuhl und Lampe vom draußen prasselnden Regen ablenken. „Was, Sie wollen freiwillig auf den elektrischen Stuhl?“ Mein Zufallsnachbar verweist lächelnd auf die Glühbirnen, die Stuhl und Lampe innerlich beleuchten und heizen.  Und ehrlich: die Schlafende reizt zum Anfassen. Zu eigenartig sieht das Material aus, man möchte es fühlen, das Gummi, das offenbar aufgeblasen ist. Wie hält das nur? Ja, und gerade Anfassen darf man eben nicht. Sonst würde das Hautfett das Material angreifen. Sie sind empfindlich, die LKW-Schläuche, die da sehr stimmungsvoll überhaupt nicht mehr an ihre eigentliche Bestimmung erinnern. Bei „Lust und Leid“, einem Kunstwerk aus Watte und den rostigen Resten uralter Bett-Technik, muss ich laut auflachen. Was mag nur in Künstlern vorgehen, die in der Lage sind, mit solchen Materialien ihre Kreativität so intensiv umzusetzen, dass die Betrachter einfach mitgenommen werden? Überhaupt: Wie konnte man so viele internationale Künstler überzeugen, ausgerechnet im Sietland,  - am ausgestreckten Arm der Welt - auszustellen? Haben sie geahnt, dass sie hier mit Begeisterung, Herzlichkeit und Freude unterstützt werden? Was hat die jungen Menschen des internationalen Bauordens motiviert, im Sietland wochenlang unentgeltlich zu arbeiten? Aus so vielen verschiedenen Ländern kommen sie her, um sich hier zu betätigen, und das zeigt, welche Energie manch jungen Menschen zu ganz ungewöhnlichem Einsatz treibt. Mich beeindruckt auch der Mut der Gemeinde, die Idee aufzugreifen, konsequent Unterstützung einzuwerben, immer dran zu bleiben und alle Hemmnisse zu überwinden! Ja, hier haben so viele engagierte Menschen unkonventionell und kreativ zusammen gewirkt, dass das Ergebnis wohl einfach nur überzeugend, anregend, rundherum super werden konnte. Das weckt richtig Stolz auf unsere Heimat! Wir müssen sie nur täglich neu entdecken. Sind Sie eigentlich schon da gewesen? Nutzen Sie die Chance! So etwas Einmaliges sehen Sie vielleicht nie wieder in erreichbarer Nähe! Von wegen Schrott und Abfall.  Das ist Kunst vom Feinsten und zeigt auf kreative, nachdenkliche und humorvolle Weise, was man aus Abfällen alles machen kann. Augenzwinkernd wird uns hier vorgeführt, dass es sich lohnt, mit unseren Ressourcen bewusst umzugehen. Was können wir tun, um den Künstlern und Veranstaltern, den vielen fleißigen Händen, die da gemeinsam gewirkt haben, Respekt und Anerkennung zu zollen? Ganz einfach: Hingehen!
zurück zur Übersicht