Kommentar Niederelbe-Zeitung:

November 2005

Große Koalition: Uul oder Nachtigall?

„Wat denn een sien Uul, is denn annern sien Nachtigall“ sagt ein altes Sprichwort, an das ich zurzeit häufig denken muss. Viele Wählerinnen und Wähler auch in unserer Region verfolgen die Koalitionsgespräche zwischen der SPD und der CDU/CSU mit sehr gemischten Gefühlen, wenn nicht gar misstrauisch. Haben wir nicht gerade einen – wenn auch vergleichsweise kurzen – Richtungswahlkampf geführt? Hatte das nicht einen guten Grund? Gibt es nicht zwischen den beiden großen Volksparteien sehr grundsätzlich unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die aktuellen und die künftigen Probleme unseres Landes zu lösen sind?

Haben wir nicht – unabhängig von real zu bildenden Koalitionen - eine „linke“ Mehrheit als Wahlergebnis? Eine Wählermehrheit, die auf jeden Fall der sozialen Gerechtigkeit hohen Rang einräumt? Und nun sollen Schlag auf Schlag einvernehmliche Lösungen zwischen CDU und SPD gefunden werden – ausgewogen, ohne dass dabei eine Situation entsteht, mit der man sich gegenseitig paralysiert und so jegliche Entwicklung von vornherein verhindert? 

Ich kann das Misstrauen gut verstehen. Als überzeugte Sozialdemokratin bin ich vor und während des Wahlkampfes ganz entschieden für unsere, die SPD-Politik bestimmenden Grundsätze eingetreten. Viele Wähler wollen jetzt durchaus eine große Koalition, das höre ich immer wieder. Aber: Ich kann doch wesentliche Grundsätze meiner politischen Überzeugung nicht einfach aufgeben. Wie soll ich Angela Merkel als Kanzlerin wählen, wenn ich sie für eine denkbar unglückliche Besetzung dieses wichtigsten Amtes in unserem Land halte? Gleiches gilt für Abstimmungen über elementar von uns vertretene Standpunkte. Wie sollte ich einer Anhebung der Mehrwertsteuer zustimmen, wenn wir vor der Wahl deren schädliche Wirkung beklagt haben? Ich jedenfalls fühle mich in der Pflicht gegenüber dem, was ich meinen Wählerinnen und Wählern versprochen habe.

Dennoch habe ich als Demokratin eine große Koalition zu akzeptieren, wenn sie denn tatsächlich am Ende der Verhandlungen stehen sollte. Und so sehr ich ihr auch misstraue, so sehe ich doch durchaus, dass sie auch Chancen bieten kann. Voraussetzung dafür ist, dass es gelingt, notwendige Reformen weiter zu entwickeln ohne die soziale Balance zu gefährden.

Durch die starke Position von CDU, CSU und FDP im Bundesrat konnte die rot-grüne Koalition viele ihrer Gesetzesvorhaben nicht in der Form durchbringen, die sie für richtig hielt. Über den Vermittlungsausschuss wurde vieles in wesentlichen Bereichen zerstört. Eine große Koalition könnte ohne großen Druck des Bundesrates und des Vermittlungsausschusses arbeiten. Manches ließe sich so ruhiger, gelassener und sachgerechter lösen. Fehler könnten vermieden, aber die Zielrichtung behalten werden. Ob in dieser Ausgangslage dann kritische Stimmen besser oder schlechter gehört werden, wird sich zeigen.

Wie wichtig es sein kann, auf kritische Stimmen zu hören, zeigt sich nicht nur in steuerlichen Fragen, wo findige Konzernjuristen schon Umgehungswege gefunden haben, bevor ein Gesetz überhaupt verkündet ist, sondern auch z.B. bei Hartz IV unter dem Stichwort Bedarfsgemeinschaften: Hier hatten viele Mitglieder meiner Fraktion schon früh davor gewarnt, dass besondere Probleme, aber auch Umgehungstatbestände offen gelassen würden, durch die unerwünschte Mitnahmeeffekte eintreten können. In einer großen Koalition würden solche sachgerechten Hinweise hoffentlich früh gehört werden und in die Erarbeitung von Lösungen einfließen, da sie als Beitrag aus der Gemeinschaft und nicht als Miesmacher-Kontra-Haltung verstanden werden. So könnte tatsächlich viel mehr Sachverstand in die Lösung von Problemen einfließen, als in jeder anderen denkbaren politischen Konstellation. Und das wäre ohne Zweifel sehr positiv, - das wäre eine echte Chance auf stabilen Fortschritt.

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