Kommentar Niederelbe-Zeitung:

143 Jahre gegen Armut

                                                                                                                           November 2006

Erstaunt, bestürzt und heftig wurde in den vergangenen Wochen in den Medien und in der Politik über Armut in Deutschland diskutiert. „Höchste Zeit, dass über dieses Thema auch in der Öffentlichkeit ausgiebig gesprochen wird“, mögen engagierte und betroffene Menschen gedacht haben. Auch ich halte die Diskussion – über die Grenzen der Politik hinaus – für längst überfällig, bin aber auch erstaunt über das Erstaunen:
Armut ist keine neue Erscheinung in unserem Land! Die 143jährige Geschichte der SPD ist vor allem eine Geschichte des Kampfes gegen Armut und Unterdrückung, gegen Klassengesellschaft und soziale Ungerechtigkeit. Immer ging es den Sozialdemokraten dabei um langfristig wirkende Lösungen, um praktische Politik.
Dieses Ziel verfolgen wir bis heute und haben es – entgegen mancher Behauptung - auch in den sieben Jahren rot-grüner Koalition verfolgt. Während sich CDU/CSU und FDP noch bis Ende ihrer Regierungszeit 1998 geweigert haben, Armut in Deutschland als Fakt anzuerkennen, haben wir 1999 sofort den regelmäßigen nationalen „Armutsbericht“ eingeführt, um stetig und aktuell Ursachen aufdecken und Strategien für deren Bekämpfung entwickeln zu können. Auch Hartz IV hat diesen Effekt. Hartz IV hat Armut nämlich nicht verursacht, sondern sichtbar gemacht: Früher waren viele Sozialhilfebezieher nicht in der Arbeitslosenstatistik erfasst. Heute beziehen sie Arbeitslosengeld II und die Statistiken zeigen sie uns deutlich und machen Arbeitslosigkeit und Armut erheblich transparenter. Das Erkennen eines Problems aber ist immer Voraussetzung für seine Lösung!
Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2004 bilanzierte im Übrigen bereits elf Millionen Menschen in Deutschland, die in Armut leben oder von Armut bedroht sind – schon damals war eine deutlich steigende Tendenz erkennbar. Armut, sagen daher manche, spielt sich längst nicht mehr nur am Rand der Gesellschaft ab, sondern reicht bis in ihre Mitte hinein.
Als Hauptursachen gelten die anhaltende Binnennachfrageschwäche und die hohe Arbeitslosigkeit. Zu den besonders gefährdeten Gruppen gehören Arbeitslose, Alleinerziehende und Ausländer. An diesen Ursachen und bei diesen Betroffenen haben die sozialdemokratischen Regierungen und auch die rot-grüne Koalition mit verschiedenen Maßnahmen angesetzt. Unter den Sozialdemokraten wurde z. B. das Bafög eingeführt und damit auch Kindern von Nichtakademikern der Aufstieg ermöglicht. Mit dem Programm JUMP erreichte Rot-Grün erste Erfolge bei der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und mit dem engagierten Aus- und Aufbau von Ganztagsschulen versuchte die Koalition gleiche Bildungschancen zu festigen. Die Konjunktur haben wir durch Steuererleichterungen und Abbau von Bürokratie angekurbelt. Die Arbeitsämter wurden umstrukturiert, um ihre Arbeit effektiver zu gestalten und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wurde in den sieben Jahren rot-grüner Koalition durch eine ganze Reihe von Maßnahmen gefördert.
Ich bin davon überzeugt, dass wir diese eingeleiteten Wege weiter fortführen müssen: Bildung z. B. ist nach wie vor ein Schlüssel zur Auflösung von Armut. Jugendliche ohne Ausbildung finden auf Dauer keinen Zugang zum Arbeitsmarkt. Die einfachen Jobs werden immer weniger und wir entwickeln uns zu einer Wissensgesellschaft, in der zunehmend höhere Qualifikation verlangt wird.
Aber: Mit diesen Maßnahmen allein kann das Problem nicht gelöst werden kann.
Konjunkturbedingtes Wachstum ist nicht automatisch an das Wachstum von Arbeitsplätzen gekoppelt. Die effizientere Gestaltung der Arbeitsämter bringt nicht automatisch mehr Arbeitslose in Arbeit und auch junge Menschen mit gutem Realschulabschluss haben Probleme bei der Jobsuche, arbeitslose Akademiker sind keine Seltenheit.
Wir müssen deshalb ganz neue Fragen stellen und ganz neue Antworten finden. Ist Vollbeschäftigung eine Illusion? Wenn ja, wie gehen wir dann mit den jeweils Erwerbslosen um? Brauchen wir einen neuen Ansatz der Verteilung von Arbeit? Ist eine Grundsicherung der richtige Weg? Erstaunen, Schuldzuweisung, Wortklauberei und alte Schablonen bringen keine Lösung, wir brauchen ein völlig neues Denken.
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