Kommentar Niederelbe-Zeitung:

Oktober 2007

Auch „Christl von der Post“ will leben

Wissen Sie, was „Aufstocker“ sind? So bezeichnet man heute die Vollzeitbeschäftigten, die trotz eines vollen Arbeitstages oder mehrerer paralleler Jobs einen Lohn erhalten, der nicht einmal das Existenzminimum erreicht, und deshalb zusätzlich zum niedrigen Verdienst quasi als Aufstockung Arbeitslosengeld (ALG) II bekommen. Rund eine halbe Million „Aufstocker“ mit einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstelle gibt es bei uns heute.

Unternehmen, die Löhne unter das Existenzminimum drücken,  zwingen den Staat durch Ergänzungsleistungen sicher zu stellen, dass diese Vollzeitbeschäftigten genug zum Leben haben. „Aufstocker“ ist deshalb meiner Ansicht nach ein aussichtsreicher Kandidat für das Unwort des Jahres – ein schreckliches Wort, das einen gesellschaftlichen Skandal quasi verniedlicht und dabei fast noch suggeriert, die Ursache liege bei den Betroffenen.

Nicht immer sind „böse Buben“, d.h. Unternehmen, die regelrecht damit kalkulieren, dass der Staat einen Teil des Lohnes ihrer Mitarbeiter trägt, Schuld am Anstieg der Anzahl der Aufstocker. Der Arbeitsmarkt ist seit geraumer Zeit einem so rasanten Wandel unterlegen, dass sich solch negative Entwicklungen einschleichen - und dann allerdings häufig auch bewusst weiter ausgebaut werden. Wie sich dies entwickeln kann, lässt sich gut am Geschehen rund um die Post beobachten. Erinnern Sie sich? In Hadeln haben wir nach Schließung der Oberndorfer Postfiliale 2004 mehrere Jahre für einen Postpoint gestritten, um über den Einzelhandel wenigstens postalische Leistungen für Privatkunden vor Ort zu halten, Ende September ist die Eröffnung nun endlich erfolgt. Das ist zwar für die Kunden auf jeden Fall besser als gar kein Angebot, aber diese Auslagerung von Leistungen der Post bringt auch mit sich, dass im „Postarbeitsmarkt“ unterschiedlicher Lohn bezahlt wird.

Diese Tatsache kann schwerwiegende Bedeutung erhalten, wenn Anfang nächsten Jahres auch noch das Briefmonopol wegfällt. Konkurrenten der Post nämlich sind - trotz Sozialklausel im Postgesetz – nicht unmittelbar zur Zahlung von Post-Tariflöhnen verpflichtet. Die Sozialklausel verlangt, dass Arbeitsbedingungen bzw. die zu zahlenden Löhne sich orientieren an der Post sowie den angrenzenden Märkten für vergleichbare Tätigkeiten und an den Subunternehmen, auf die die Post AG in den vergangenen Jahren Tätigkeiten verlagert hat. Auf diese Weise –also auch durch die Auslagerung von Leistungen der Post - dreht sich die Lohnspirale immer weiter – meist nach unten. Daher ist die Entscheidung des Bundeskabinetts, dass Entsendegesetz für Briefdienstleitungen auf den Weg zu bringen, begrüßenswert, da so faire Löhne gesetzlich garantiert werden können. Die SPD-Bundestagsfraktion hat dem Gesetzentwurf zur Aufnahme der Postdienste in das Arbeitnehmerentsendegesetz einstimmig zugestimmt. Der Koalitionspartner war dazu leider nicht bereit. Dadurch könnte es zu ärgerlichen Verzögerungen kommen, die den Mindestlohn möglicherweise nicht gleichzeitig mit dem Entfallen des Briefmonopols garantiert.  

Der Postbereich aber ist nur ein Beispiel. Die Aushöhlung der Beschäftigungsstandards ist mittlerweile gang und gäbe, die Entwicklung wird bereits mit eindrucksvollen Schlagwörtern wie „Arm trotz Arbeit“, Armuts – und Dumpinglöhne,  „Generation Praktikum“ oder „1000 Euro-Generation“ beschrieben. Wir Politiker haben manchmal weniger Handlungsmöglichkeiten als wir wahrhaben mögen: auf viele direkte Veränderungen des Arbeitsmarktes haben wir kaum Einfluss. Ein weiteres Problem ist, dass immer öfter pfiffige Juristen im Dienst von Unternehmen hemmungslos und umgehend nach nützlichen Gesetzeslücken oder Wegen der Umgehung von Gesetzen suchen und oft auch welche finden.

Ich bin davon überzeugt, dass ein Ausweg aus der Misere der „Aufstocker“, die auf Dauer den sozialen Frieden in unserem Land gefährdet, über den Mindestlohn führt. Bundesarbeitsminister Franz Müntefering verknüpft deshalb auch zu Recht die Frage, ob die Hartz-IV-Bezüge erhöht werden müssen, mit der Forderung nach Einführung eines Mindestlohns. Es kann nicht sein, dass immer mehr Menschen immer weniger Lohn erhalten und die Steuerzahler ihnen einen immer größeren Teil an „Überlebensgeld“ zahlen müssen.

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