Plenarrede zum Antrag der CDU/CSU und SPD Fraktionen „Notschleppkonzept den veränderten Bedingungen der Seeschifffahrt anpassen“   (Wortprotokoll)

29. Juni 2006

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen,

1994: 852 Menschen verlieren ihr Leben, weil die Fähre „Estonia“ vor der finnischen Küste sinkt. 1998: Die „Pallas“ fängt bei schwerem Sturm und hoher See südwestlich Esbjerg Feuer. Versuche, das Schiff auf die offene See zu schleppen, scheitern, die „Pallas“ verdriftet ins Wattenmeer und läuft vor Amrum auf Grund. 1999: Der Produktentanker „Erika“ bricht vor der bretonischen Küste auseinander. 2002: Der 26 Jahre alte Tanker „Prestige“ quert die Ostsee, passiert die Kadetrinne, gerät im Atlantik in Seenot, bricht auseinander und sinkt vor der Küste Spaniens. 2002: Wenige Wochen später sinkt der Autotransporter „Tricolor“ nach einer Kollision binnen einer halben Stunde im Ärmelkanal. Mehrere Schiffe kollidieren später mit dem Wrack, das erst fast ein Jahr, später in Sektionen zersägt, geborgen werden kann.

 Dezember 1999: Über der Nordsee tobt der Orkan „Anatol“ mit der Stärke drei auf der amerikanischen Hurrikanskala. Der Massengutfrachter „Lucky Fortune“ meldet Maschinenausfall, wirft den Anker und driftet trotzdem mit zeitweise über 5 Knoten auf Sylt zu. Welch ein Glück, dass wir den Notschlepper „Oceanic“ haben, der in 4,5 Stunden trotz des Orkans 52 Seemeilen bewältigt, den Havaristen 12 Meilen vor Sylt erreicht, eine Schleppverbindung herstellen und die „Lucky Fortune“ kurz vor der Strandung stoppen kann! 

Der Nationalpark Wattenmeer ist das größte Küstenfeuchtgebiet Europas. Mehr als 100 000 Schiffe kreuzen jährlich die Deutsche Bucht. Hamburg ist der achtgrößte Hafen der Welt, Wilhelmshaven freut sich auf einen Tiefwasserhafen, in dem die größten Containerschiffe erwartet werden, die derzeit im Bau sind: Sie tragen bis zu 13 000 TEU, allein die Reederei Maersk hat zehn solcher Megaschiffe bestellt. Wilhelmshaven ist Deutschlands größter Ölhafen, Eon plant dort einen LNS-Import- Terminal. Die Zahl der LNS-Tanker ist von 1999 bis 2005 um 70 Prozent auf jetzt 191 gestiegen. Weitere 131 LNS-Tanker sind derzeit bei Werften in Auftrag gegeben. Ein riesiges Chemiewerk wird ebenfalls dort entstehen. 

An der Unterelbe haben wir mit Brunsbüttel und Stade gleich zwei große Chemiestandorte. Keine Frage: Die Gefahrguttransporte nehmen zu, die Zahl der Schiffsbewegungen wächst mit den höchst erfreulichen Umschlagsteigerungen, die die deutschen Häfen, allen voran Hamburg, vermelden. Der Zuwachs soll von heute über acht Millionen TEU im Hamburger Hafen bis 2015 auf über 18 Millionen gesteigert werden. Die Containerschiffe

werden größer. Zugleich wird damit auch ihre Windangriffsfläche größer und das heißt, dass sie erheblich schneller verdriften. Das BSH hat in der Nordsee jetzt bereits elf Offshorewindparks genehmigt, auf die Havaristen gegebenenfalls zutreiben können. Was, wenn die „Lucky Fortune“ auf der Drift gen Sylt in einem Windpark gestrandet wäre? 

Sie mögen sich vielleicht fragen, warum wir Verkehrspolitiker mit unserem Antrag technische Details für die Notschlepper der Zukunft vorgeben? Ist das unsere Aufgabe? Ja, ja und noch einmal ja! Wer, wenn nicht wir, die Parlamentarier der Deutschen Bundestages, haben die Verantwortung für die Qualität und Leistungsfähigkeit der Notschlepper in Nord- und Ostsee, die aus Steuergeldern gechartert und zum effektiven Einsatz vorgehalten werden? Wir haben die Verantwortung dafür, dass die 50 Millionen Touristen, die jährlich in unsere Wattenmeerregion kommen, sicher sind, dass Küstenbewohner und Wattenmeer wirksam geschützt werden vor Ölverschmutzungen oder giftigen Gasen und Chemikalien, die bei Havarien entstehen oder entweichen können. 

Das Notschleppkonzept der Bundesregierung, das nach der „Pallas“-Katastrophe erarbeitet wurde, war unseren europäischen Nachbarn durchaus Vorbild. Es wurde 2001 verabschiedet und nimmt zu Recht für sich in Anspruch, wissenschaftlich korrekt erarbeitet worden zu sein. Aber: Was für Lärmschutzwände gut sein mag – nämlich von Durchschnittswerten auszugehen und sich nicht auf Spitzenbelastungen zu konzentrieren – taugt politisch nicht als Vorbild für große Schiffshavarien. Die Entwicklung geht mit Riesenschritten weiter, keine Prognose konnte realistisch vorhersehen, dass in naher Zukunft bis zu 13 000 TEU-Containerschiffe bei uns geladen und gelöscht werden. Der Umschlagzuwachs in den Häfen wurde drastisch unterschätzt, die Offshorewindparks waren noch vage Utopien. 

In den letzten Jahren gab es zahlreiche öffentlich geführte Auseinandersetzungen um die Leistungskriterien der Notschlepper, bei denen Vertreter der Behörden in fachlichem Widerspruch zu Experten aus vielfältigster maritimer Praxis standen: Wenn Experten sich streiten, haben Politiker die Pflicht, zu zweifeln, zu prüfen und genau abzuwägen, ob sie eingreifen und politisch entscheiden, wie und mit welcher Leistung unsere Küsten geschützt werden sollen. 

Das haben wir getan, und zwar ganz bewusst und im Fachausschuss einvernehmlich über alle Fraktionen: Wir wollen für die Nordsee als Ersatz für den Schlepper „Oceanic“ einen Bergungsschlepper, der bei 6 Meter Tiefgang 19,5 Knoten Geschwindigkeit und einen Pfahlzug von 200 Tonnen bringt und damit auch in flacheren Gewässern einen leistungsstarken Einsatz ermöglicht. Der Notschlepper sollte die Schleppverbindung zum Havaristen so früh wie möglich legen: Also muss er seinen Tiefgang erhöhen können. Damit verbessert sich seine Wirkleistung auch bei schwerem Wetter, er hat gewisse Leistungsreserven. Der neue Schlepper muss 19,5 Knoten Geschwindigkeit bringen, damit der deutlich höheren Windangriffsfläche und der größeren Driftgeschwindigkeit von Megacontainerschiffen wirksam begegnet werden kann. 

Ich betone ausdrücklich: Wir wollen einen richtigen Bergungsschlepper mit hoher Schlechtwettergeschwindigkeit, keinen Ankerziehschlepper oder Bohrinselversorger! 

Unsere französischen Nachbarn haben gerade berichtet, dass nur aufgrund der Rumpfform und der Geschwindigkeit von 19,5 Knoten der neue französische Notschlepper mit einer Anfahrtszeit von 1,5 Stunden einen auf die bretonische Küste zutreibenden Frachter circa 30 Minuten vor der Strandung erfolgreich abfangen konnte. Der Nordseenotschlepper muss zusätzlich mit Gas- und Explosionsschutz nach den Richtlinien des GL für Chemikalienunfallbekämpfungsschiffe ausgerüstet sein. Die Besatzung braucht wirksamen Eigenschutz und optimale Zugriffsmöglichkeiten für jegliche Art von Havarie. 

Für die Ostsee unterstützen wir den Wunsch der Bundesregierung, den neuen Schlepper, der die Kadetrinne absichern soll, nach den Leistungskriterien vorzuhalten, die auch in Schweden zum Einsatz kommen: 100 Tonnen Pfahlzug bei 16,5 Knoten Geschwindigkeit und 6 Meter Tiefgang mit einer Ausrüstung nach den Bauvorschriften des GL für Ölfangschiffe. 

Eine unserer wichtigen Forderungen ist, dass das Schiffsführungspersonal über gute Kenntnisse der englischen Sprache verfügen, die gesamte Besatzung aber deutsch in Wort und Schrift beherrschen muss. Eine gute Kommunikation der Einsatzkräfte sichert den Erfolg im Ernstfall. Die gecharterten Notschlepper und ihre Besatzungen werden von der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung eingesetzt. Sie erstellt die Einsatzpläne, führt Übungen durch und erteilt der Besatzung Anweisungen, die verstanden werden müssen. Im Einsatz müssen die gecharterten Notschlepper mit bundeseigenen Schiffen unter schwierigen Bedingungen zusammenarbeiten. Auch unsere Nachbarn England, Frankreich, Niederlande, Spanien, Italien fordern, dass ihre Notschlepperbesatzungen die Nationalsprache in Wort und Schrift beherrschen müssen. Dies ist also kein deutscher Alleingang, sondern ein wichtiger Baustein für ein erfolgreiches nationales Notschleppkonzept. 

Unsere parlamentarische Initiative, die Leistungsdaten der neuen Notschlepper für Nord- und Ostsee vorzugeben, erfolgt einstimmig über alle Fraktionen und in ausdrücklicher Übereinstimmung mit der politischen Leitung des BMVBS. Mit Befremden haben wir Versuche der letzten Tage zur Kenntnis genommen, Stellungnahmen von behördenexternen Fachleuten öffentlich zu diskreditieren. Wissenschaftliche Sorgfalt mag gut sein, aber die politische Verantwortung für Entscheidungen hat das Parlament: Wir übernehmen diese Verantwortung im Wissen um die Gefahren, vor denen wir unsere Küste, die Menschen hinter den Deichen und das Wattenmeer wirksam schützen wollen. Wir erwarten jetzt, dass die Ausschreibung schnellstmöglich erfolgt, weil die Lieferzeiten für Motoren, Propeller, Getriebe und andere Großkomponenten über 18 Monate betragen und aufgrund der erfreulichen Auslastung der Werften für den Bau der Notschlepper zwei Jahre kalkuliert werden müssen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 

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