Rede am 1. Mai 2004 in Stade |
1. Mai 2004 |
Lieber Udo Kalmutzke,
lieber Heinz Dabelow,
liebe Freunde und Familien der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, und - das darf ich als Gewerkschafterin mit silberner HBV-Nadel heute mit großer Freude sagen - liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich bei denen, die mich eingeladen haben, heute hier zu reden. Das ist mutig. Denn wir leben in einer kritischen Zeit und sind heftiger Kritik ausgesetzt. Natürlich werde ich nicht nur etwas zu Europa sagen, sondern auch zur gegenwärtigen Reformpolitik, zum Verhältnis von Gewerkschaften und SPD und zu unserer Zukunftsperspektive als Gewerkschafter in Deutschland und Europa. – Und um möglicher Aufregung zuvor zu kommen: auch zum Ladenschlussgesetz. Heute ist ein ganz besonderer Tag. An diesem historischen 1. Mai 2004 überwinden wir die Teilung Europas nach dem zweiten Weltkrieg. Wir begrüßen die Menschen aus 10 osteuropäischen Nachbarstaaten. Jahrzehnte haben sie unverschuldet in Armut und Unterdrückung gelebt. Jetzt werden sie unsere Mitstreiter beim Zusammenwachsen zu einem Europa der Freiheit, der Gleichheit, der Toleranz und des Friedens. Lasst uns diesen 1. Mai als Symbol nehmen, als Aufruf und Mahnung: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen sich in die Gestaltung Europas ganz energisch einmischen! Unser Europa muss zu einer Macht des Frieden, aber auch des sozialen Friedens, der Sicherheit und Stabilität auf unserem Kontinent werden. Wirtschaftliche Abhängigkeit, Armut und Hunger sind wesentliche Ursachen für blutige Bürgerkriege. Militärische Hochrüstung kann weder sicheren Schutz bieten noch Frieden garantieren. Die Menschen in Europa waren – anders als ihre Regierungen – einig darin, nicht Krieg gegen den Irak zu führen. Kolleginnen und Kollegen, hätten wir eine CDU-Regierung gehabt, stünden unsere Soldaten heute im Irak. Wir wollen keine Soldaten in Särgen zurückbringen. In dieser Frage bin ich stolz auf den Mut unseres Kanzlers, der allen Vorwürfen, wir würden die NATO sprengen und unseren außenpolitischen Einfluss verlieren, standgehalten und NEIN zur Beteiligung Deutschlands am Irak-Krieg gesagt hat. Aber sozialer Frieden ist ebenso wichtig. Die Beitrittsländer haben intensiv darauf hingearbeitet, „europatauglich“ zu werden. Das hat viele Veränderungen, Unsicherheiten, Umstürze für sie gebracht. Regierungen wurden dafür abgestraft. Im Baltikum bleiben Regierungen kaum ein Jahr im Amt, immer wieder finden sich neue Koalitionen, neue Mehrheiten. Ihre Industrie wurde privatisiert, Bürokratien, Standards und Normen eingeführt, aber Steuern, Löhne, Mitbestimmung und Kündigungsschutz werden ganz klein geschrieben. Ein Eldorado für die Wirtschaft. Nur: stabil ist da noch gar nichts. Aber bleiben wir hier bei uns: Ich sehe doch die geballten Fäuste in den Hosentaschen. Viele von Euch haben Angst, haben berechtigte Sorgen angesichts der anhaltenden Konjunkturflaute und der Massenarbeitslosigkeit. Viele sind wütend über die Reformpolitik, fühlen sich von der Sozialdemokratie im Stich gelassen, empfinden die Politik als sozial ungerecht. Kolleginnen und Kollegen, es gibt nichts zu beschönigen oder klein zu reden: In den 90er Jahren haben unsere europäischen Nachbarn, Frankreich, Schweden, Dänemark u. a. die notwendigen Reformen durchgeführt. Regierungen - vor allem sozialdemokratische - wurden überall dafür abgestraft: Aber in diesen Ländern geht es inzwischen wieder aufwärts. Wir haben während der Zeit die deutsche Einheit zu bewältigen gehabt. Weltweit gibt es kein einziges Beispiel für eine derart riesengroße Herausforderung. Unsere Sozialsysteme wurden hoch belastet, die Staatsverschuldung in schwindelnde Höhen getrieben. Wir im Westen waren solidarisch, wir haben geholfen möglichst schnell gleiche Lebensbedingungen in Deutschland zu haben, die Infrastruktur auszubauen, die Technologie auf wettbewerbsfähige Standards zu bringen. Das hat viele Milliarden gekostet. „Und jetzt sollen wir schon wieder bluten?“ fragen viele. Nein, sie wollen keinen Verzicht mehr, sie wollen nicht noch mehr Zumutungen! – Und wenn, dann nur, wenn es alle, wirklich alle trifft. Der SPD und den Gewerkschaften laufen Mitglieder weg – und das macht mich sauer und traurig! Ja, ich würde auch eine bequemere Politik wollen, eine die gestalten und verteilen kann. Nur – vieles von dem, was da gefordert wird, ginge nur – und auch dann nur vielleicht -, wenn wir saubere sozialdemokratische Mehrheiten hätten. Die haben wir aber nicht! Unsere Demokratie schafft sich ihre Stolpersteine immer ganz allein. Vielleicht ist es aber gerade das, was so aufregend an der Demokratie ist? In Koalitionen wackelt der Schwanz mit dem Hund: Die Grünen stehen für Natur- und Umweltschutz, haben aber mit Sozial- und Arbeitsrecht wenig am Hut, keine Einbindung in die Kommunalpolitik, keine Wahlkreise und damit auch keine eigene Standortbindung. 80 % aller politischen Entscheidungen sind durch EU-Beschlüsse vorgeprägt. Urteile der Bundesgerichte müssen, - z. B. im Steuer- und Rentenrecht – ohne „wenn und aber“ mit ganz geringen Spielräumen umgesetzt werden. Im Bundesrat haben wir eine satte schwarz-gelbe Mehrheit, die uns immer wieder in Vermittlungsverfahren hanebüchene Kompromisse aufzwingt. Ob Gesundheitsreform, Steuerreform, kommunale Finanzen, oder inzwischen sogar beim Haushalt: Entscheidungen im Vermittlungsausschuss werden ausgehandelt wie auf einem orientalischen Basar. Minister beißen zu jeder Tages- und Nachtzeit in jedes Mikro, dass ihnen vorgehalten wird, notfalls auch ohne das Gehirn vorher einzuschalten. Professoren aus Kommissionen führen sich auf, als seien sie der Kanzler persönlich. Kein normaler Mensch kann mehr überblicken, wer was bewirkt hat: Unser demokratisches System macht sich damit selbst handlungsunfähig. Aber: Verantwortlich ist immer die amtierende Regierung! Und deshalb ist ein „BASTA“ einfach zu kurz – Vertrauen schafft man nur durch Überzeugung, durch Erklärung, dadurch, die Menschen mitzunehmen, besonders wenn Entscheidungen so schwierig sind wie in dieser kritischen Zeit. Glaubt doch nicht, dass Eure Ängste uns verborgen bleiben. Auch in unserer Fraktion toben die Auseinandersetzungen, wird gekämpft und geworben. Jedem ist sein Fachgebiet, sein soziales Anliegen oder das Interesse seines Wahlkreises am nächsten – man versucht zu retten, was zu retten ist. Wie bei den Zumutbarkeitsregeln für Langzeitarbeitslose: Wir haben doch gesehen, welch ein Druck auf die Löhne da entsteht! Aber im Vermittlungsausschuss war das einfach nicht zu halten. Ein hoher Preis. Aber wir würden lügen, wenn wir sagten, wir könnten da jetzt etwas ändern. Und gerade das, Kolleginnen und Kollegen, muss doch Euren Kampfgeist wecken: Wenn wir eine soziale Politik in Deutschland und Europa gestalten wollen, müssen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sich einmischen, hier bei uns und gemeinsam mit den europäischen Gewerkschaften! Einigkeit und nur Einigkeit macht uns wirklich stark! Das haben wir gemerkt im Kampf um die Tarifautonomie. Ihr kennt die Angriffe der CDU auf die Tarifautonomie. Ein herzliches Dankeschön an die Gewerkschafter, die sich auf allen Ebenen, in unendlich vielen Gesprächen eingebracht haben. Die Tarifautonomie ist eine wesentliche Grundlage von sozialer Gerechtigkeit. Sie ist ein Freiheitsrecht, bei dem die Sozialpartner auf gleicher Augenhöhe verhandeln. Tarifverträge haben eine Schutzfunktion, sie sichern das Mindestniveau der Löhne – das auch nicht durch einen staatlich geförderten Niedriglohnsektor unterlaufen werden darf! Ich will mich heute auch bei den Betriebsräten bedanken. Sie haben sich aktiv eingebracht, haben uns den Rücken gestärkt in der politischen Diskussion um das Erneuerbare Energien Gesetz. Im Konflikt zwischen notwendigem Klimaschutz und der Wettbewerbsfähigkeit unserer Industriestandorte haben wir gemeinsam gekämpft, Seite an Seite, für die Arbeitsplätze in unserer Region. Wir waren einig, gemeinsam waren wir stark und wir haben uns durchgesetzt! Deshalb bitte ich Euch: Seht ganz genau hin, wofür und wogegen wir gemeinsam kämpfen. Beim Erneuerbare Energien-Gesetz war es Wirtschaftsminister Clement, der aus der Sicht des Industriestandortes Stade die „richtige“ Position vertrat. Wenn er jetzt aber unter dem Deckmäntelchen des Bürokratieabbaus die FDP- und CDU-Positionen vertritt, das Ladenschlussgesetz praktisch ganz abzuschaffen, wird mir angst und bange zugleich! Das ginge voll zu Lasten der Arbeitnehmerinnen im Einzelhandel: Kolleginnen und Kollegen, das können wir nicht wollen! Oder habt Ihr nachts um elf mehr Geld in der Tasche als nachmittags um fünf? Nein! Und deshalb haben Öffnungen der Ladenschlusszeiten nie zu mehr, sondern immer zu weniger Arbeitsplätzen, zum Ausbluten des ländlichen Raumes geführt! Auf der grünen Wiese bestimmen die Konzerne Preis und Löhne. Wir müssen uns dagegen wehren, gemeinsam und einig! Hoffentlich gibt das Bundesverfassungsgericht, das uns viele der Reform-Eier ins Nest gesetzt hat, nicht dem Berliner Kaufhof Recht, denn wir leben nicht in den Innenstädten internationaler Großstädte, sondern hier auf dem platten Land, in Dörfern und kleinen Städten, in denen wir wohnen, leben und vernünftig bezahlt arbeiten wollen. Wir sagen NEIN zu einer Freigabe des Ladenschlusses! Viele von Euch haben Angst davor, dass osteuropäische Arbeiter Euch die Arbeitsplätze wegnehmen: Sie sind gut ausgebildet, niedrig bezahlt und hungrig auf den Westen. Die 7 Jahre Übergangsfrist sind schnell vorbei. Deshalb brauchen wir die intensive Zusammenarbeit der europäischen Gewerkschaften! Gleicher Lohn für gleiche Arbeit gilt nicht nur für Männer und Frauen. Das ist unser Ziel für ganz Europa – aber auf einem Niveau, bei dem eine Familie von einem Monatslohn ohne Sorgen, ohne Überstunden und ohne Schwarzarbeit leben kann. Arbeitgeber drohen nicht nur immer wieder offen mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen in die Niedriglohn- und Niedrigsteuerländer. Nein, sie gehen inzwischen auch. Das geht voll zu Lasten der Arbeitnehmer – bei uns und in den neuen Mitgliedsländern. Deshalb brauchen wir eine europäische Mindeststeuer. Wir wollen keinen Wettlauf um die niedrigsten Löhne und die schlechtesten Sozialbedingungen. Osteuropa muss lohn-, arbeits- und sozialrechtlich kontinuierlich auf unser Niveau gehoben werden. Schon jetzt drückt bei uns das sinkende Lohnniveau, das fehlende Urlaubs- und Weihnachtsgeld spürbar auf die Einnahmen der Sozialversicherungen. Wer immer noch nicht begriffen hat, dass wir starke Gewerkschaften und viel mehr Einigkeit der sozialen und politischen Kräfte brauchen, sollte einen Blick in das „Wachstumsprogramm“ der CDU / CSU werfen: Arbeits- und Tarifrecht sollen „verschlankt“, die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen abgeschafft und betriebliche Bündnisse für Arbeit ohne Zustimmung der Tarifparteien möglich werden, das Günstigkeitsprinzip und die Nachwirkung der Tarifbindung sollen zu Lasten der Arbeitnehmer verändert, der Kündigungsschutz weitgehend aufgehoben und die Neuerungen des Betriebsverfassungsgesetzes, die wir erst in der letzten Legislaturperiode eingeführt haben, sollen aufgehoben werden. Kolleginnen und Kollegen, seid wach – das darf nicht geschehen! Die CDU will das Recht auf Teilzeitarbeit und gleiche Arbeitsbedingungen von Leiharbeitnehmern abschaffen. Wir wollen sie europaweit festigen! Junge Leute brauchen eine verlässliche Ausbildung. Wenn gute Worte und Selbstverpflichtungen nicht helfen, muss eine Umlage her – auch wenn der Gesetzentwurf längst noch nicht das Gelbe vom Ei ist: Unter dem Druck der drohenden Ausbildungsplatzumlage kommen neue Ideen von der Wirtschaft. Gut! Sollen sie sie doch sofort umsetzen und Ausbildung anbieten – dann wird die Umlage nicht greifen. Sie haben es doch in der Hand! Ausbildung ist die beste Investition in die Zukunft! Betriebe, die viel ausbilden, sollen unterstützt und die, die sich darum drücken oder keine direkte Ausbildung ermöglichen können, durch eine Umlage mit in die Verantwortung genommen werden. Die Wirtschaft hat eine Pflicht zur Ausbildung, wir müssen in Ausbildung investieren, die Erbschaftssteuer reformieren und ggf. auch Vermögen in geeigneter Weise für Investitionen in Bildung und Ausbildung heranziehen. Jeder junge Europäer hat das Recht auf Bildung und Ausbildung! Auch unsere Jugendlichen werden nur dadurch europatauglich! Sprachkenntnisse sind zukünftig ebenso gefragt wie solides technisches und handwerkliches Können. Konzerne lösen Standorte auf, verschieben mit immer neuen Tricks Kapital und Gewinne am globalen Markt per Mausklick. Deshalb muss auch die Mitbestimmung europa- und weltwirtschaftstauglich werden! Betriebsräte auf europäischer Ebene müssen gestärkt und auf das deutsche Mitbestimmungsniveau gebracht werden! Solange es schwarze Kassen à la Kanther, Kiep, Koch und Kohl gibt, Leute wie Esser, Zwickel und Ackermann sich an feindlichen Übernahmen gesund stoßen und Weltecke sich im Adlon aushalten lässt, ist etwas faul im System. Die Länder kündigen den Tarifvertrag und wollen Vorreiter sein für Arbeitszeitverlängerung. Teufel meint, es spielt keine Rolle, ob gesunde Menschen 38,5 oder 41 Stunden arbeiten: Nein! Vielleicht spielte es keine Rolle, wenn nicht Nieten im Nadelstreifen durch mieses Management Arbeitsplätze aufs Spiel setzen, internationale Konzerne gnadenlos Standorte vernichten, wenn die Mehrarbeit bezahlt wird, wenn es bei Nacht- und Feiertagszuschlägen bleibt und vor allem: wenn die Wirtschaft ausreichend Arbeitsplätze für alle schafft! Längere Arbeitszeiten schaffen nicht mehr, sondern weniger Arbeitsplätze. Und deshalb dürfen wir uns auch nicht über noch so ärgerliche Einzelentscheidungen entzweien, sondern müssen uns auf unsere Stärke durch Einigkeit besinnen, müssen im Konsens von Gewerkschaften und rot-grüner Regierung die für Arbeitnehmer wichtigen Positionen behaupten und durchsetzen! Die christliche Seefahrt musste sich schon immer am globalen Markt orientieren und wir können zumindest eines davon lernen: Weltweit wird das sichere Fahrwasser durch grüne und rote Tonnen angezeigt, schwarz-gelbe Tonnen warnen vor Wracks und Untiefen! Lasst uns darum einen großen Bogen machen! Ein letzter Punkt: Pro Tag wird in Deutschland für eine Milliarde Euro Schwarzarbeit geleistet! Wenn das Geld in reguläre Tariflöhne, Steuern und Sozialabgaben fließen würde, bräuchten wir auch keine so schmerzhaften Reformen! Schwarzarbeit geht alle an: diejenigen, die die Aufträge erteilen, diejenigen, die den Schwarzarbeitern das Werkzeug mitgeben, die die Schwarzarbeit machen und die, die sie nicht verhindern! Ein soziales und gerechtes Europa klappt nur ohne Schwarzarbeit und mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, nicht gegen sie! Der wachsende gemeinsame Währungsraum wird nach und nach die Abhängigkeit vom Dollar entschärfen und uns eine stärkere Position am Weltmarkt bringen. Dann kann Europa auch stärker Einfluss auf den Frieden in der Welt nehmen: Dafür lasst uns gemeinsam kämpfen. Lasst uns diesen 1. Mai 2004, unseren Kampftag der Arbeit, als Aufbruchsignal nehmen, eine größere, gemeinsame, europäische Bewegung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu neuer Stärke, zu mehr Einfluss und aktiver politischer Gestaltung zu entfalten. Wir lassen uns nicht unterkriegen! Wir lassen uns nicht klein reden! Wir sind stolz auf das, was wir können! Und wir bestimmen mit! Ich danke Euch für die Geduld und Toleranz des Zuhörens. Ich wünsche uns allen noch einen Tag, an dem wir uns unserer Solidarität erfreuen und unsere Einigkeit voranbringen. Und das lasst uns mit in unser neues Europa nehmen! |