Rede bei einer ITF - Konferenz in Riga |
19. November 2003 |
Lieber Herr Lappalainen, meine sehr geehrten Damen und Herren, zunächst einmal ganz herzlichen Dank, das ich hier heute das Wort an Sie richten darf. Es ist mir eine Ehre und eine Freude zugleich. Freude, weil ich hoffe, Sie alle hier von meinem Herzensanliegen überzeugen zu können: Die ILO-Konvention 163 über die soziale Betreuung von Seeleuten an Bord und in den Häfen muss dringend von möglichst vielen Ländern ratifiziert und umgesetzt werden. Ich selbst habe aus zwei ganz unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Konvention 163 zu tun. Einerseits als Parlamentarierin des Deutschen Bundestages, Mitglied des Ausschusses für Verkehr und des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit: Sie sehen, ich bin damit mitten drin in den maritimen Themen der Seeschifffahrt mit allen Aspekten von Sicherheit: der Sicherheit für die Schiffe (safety) und die Besatzung, der Sicherheit vor terroristischen Anschlägen (security), der Standortsicherung Küste, der ständig wachsenden Bedeutung der Zusammenarbeit der Ostsee-Anrainerländer und damit zugleich der Sicherheit der Menschen, die an Bord der Schiffe und in den Häfen international arbeiten. Andererseits bin ich Vizepräsidentin der Deutschen Seemannsmission. Wir unterhalten Stationen zur Betreuung der Seeleute in aller Welt, auf allen Kontinenten. 17 unserer Auslands-Stationen sind hauptamtlich besetzt, weitere 25 Stationen werden neben- und ehrenamtlich betreut, in Deutschland unterhalten wir weitere 16 Einrichtungen. Sie sehen: auch hier bin ich mitten in der Lebenswelt der Seeleute, nicht verwandt und verschwägert – aber Seeleute sind mir, unabhängig von ihrer Nationalität, Rasse, Hautfarbe oder Religion per se gute Freunde. Wie wichtig internationale Übereinkommen sind, muss uns hier, die wir Anrainerländer der Ostsee vertreten, sicher niemand erzählen. Umso bedauerlicher ist es, wenn wir immer wieder feststellen, dass nach jahrelangem Ringen, zähen Diskussionen und Beratungen von Fachleuten aus der Praxis, aus den Ministerien der Länder endlich Entscheidungen getroffen werden und auf den Konferenzen der ILO internationale Konventionen mit Zustimmung der allermeisten Mitgliedstaaten verabschiedet - und dann nicht umgesetzt werden. So ist es der ILO Konvention 163 zunächst auch in Deutschland ergangen. Sie wurde 1987 auf der allgemeinen Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation ohne Gegenstimmen und Enthaltungen, also auch mit der Stimme Deutschlands, angenommen und ist inzwischen aufgrund der Ratifizierung durch zahlreiche Staaten in Kraft getreten. Die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland sah zunächst keinen Handlungsbedarf für eine Ratifizierung. Dies wurde per Beschluss im Mai 1994 vom Deutschen Bundestag zur Kenntnis genommen. Begründung: Die soziale Betreuung der Seeleute gäbe es in Deutschland nicht nur nach Art und Umfang der Anforderungen der Konvention, nein, sie ginge sogar zum Teil deutlich darüber hinaus. Ja, wir haben in Deutschland in allen wichtigen Häfen Stationen der Deutschen Seemannsmission, getragen von der Evangelischen Kirche Deutschlands und ihren Landeskirchen. Sie sind organisiert in Vereinen, die weitreichend – aber sehr unterschiedlich – unterstützt werden von vielen Institutionen der Maritimen Wirtschaft, von der öffentlichen Hand, durch freiwillige Schiffsabgaben der Reeder, Spenden von Hafenumschlagsunternehmen, auch von Einzelpersonen. Daneben gibt es Einrichtungen der katholischen Schwesterorganisation; es gab außerdem das so genannte Sozialwerk für Seeleute, in dem sich die Tarifpartner für das Wohl der Seeleute engagierten. Das Sozialwerk für Seeleute wurde Anfang der neunziger Jahre aufgelöst. Inzwischen sind die finanziellen Mittel weniger geworden. Überall gibt es Kürzungen, Streichungen von Zuschüssen und die Spendengelder fließen auch oft nur kläglich. Dies zu verkraften ist für die Seemannsmission in Deutschland außerordentlich schwierig, aber überlebensnotwendig. Deshalb habe ich im September 2000 einen Antrag für den Deutschen Bundestag entwickelt, der immerhin bis zum Februar 2002 in der Beratung war, bevor er vom Parlament einstimmig, also mit den Stimmen aller Fraktionen des Bundestages angenommen wurde. Meine Kollegen Parlamentarier haben eingesehen, dass es Handlungsbedarf gab und gibt: Keine Nation darf sich darauf ausruhen und verlassen, dass die soziale Betreuung von Seeleuten schon irgendwie laufen wird. Dieser einstimmige Beschluss wurde bei allen maritim Interessierten mit großer Freude aufgenommen. Er forderte die Bundesregierung auf, die Ratifizierung vorzunehmen. Dies erfolgt immer in Gestalt eines Gesetzes, das in Deutschland von der Bundesregierung vorbereitet und vom Deutschen Bundestag gesondert verabschiedet wird. Allerdings – und das ist mein größter Ärger – ist dies bis heute nicht erfolgt. Mit dem kleinlichen Argument, die möglicherweise auf die öffentliche Hand zukommende finanzielle Belastung sei immer noch nicht abschließend geklärt, wird die Vorlage des Gesetzentwurfs ständig weiter verzögert. Gerade letzte Woche habe ich wieder mit Unterstützung der Tarifpartner, der Gewerkschaft und der Reeder, den Staatssekretär im Arbeitsministerium gedrängt: Der aktuelle Sachstand ist nun die feste Zusage des Staatssekretärs, die Frage der finanziellen Verantwortung zügig zwischen Regierung und Internationalem Arbeitsmarkt zu klären und dann ggf. umgehend das Gesetz vorzulegen. Wir brauchen die soziale Betreuung der Seeleute mehr als je zuvor: Sie haben völlig andere Arbeitsbedingungen als Arbeiter an Land. Reeder, Agenten, Schifffahrtsgesellschaften können sich noch so viel Mühe um das Wohlergehen der Seeleute geben, Einrichtungen wie die Seemannsmissionen muss es einfach in allen bedeutenden Häfen der Welt geben. Lassen Sie mich Ihnen einige Beispiele nennen: Sie erinnern sich: Im März 2001 kollidierten der Tanker Baltic Carrier und das Frachtmotorschiff Tern vor der Kadetrinne in der Ostsee. Zur Reparatur lief die Tern Rostock an. Begleiten Sie mich jetzt einfach für wenige Minuten an Bord der "Tern" zu den philippinischen, rumänischen und polnischen Seeleuten. Durch die Kollision schwer traumatisiert, darf die Besatzung dennoch nicht von Bord, sie muss aufräumen, steht oft knöchelhoch im Ölschlamm. Die griechische Schiffsleitung ist misstrauisch, das macht die seelsorgerische oder psychologische Betreuung der Besatzung zunächst unmöglich. Die Männer dürfen zwar telefonieren, aber nur 5 Minuten pro Mann und Tag unter Aufsicht der Schiffsleitung oder eines Reedereivertreters. Kann man in solchen Fällen der Reederei einen Vorwurf machen? Nicht wirklich. Nach einer Woche darf die Besatzung erstmals von Bord, die Seeleute können aufatmen im Seemannsclub, ungestört und lange mit der Familie telefonieren, Seelsorge wird möglich, auf Wunsch der Besatzung wird eine gemeinsame Andacht gehalten. Sie wissen sicher, dass gerade Seeleute meistens tief gläubig sind. Nicht umsonst braucht jede Seemannsmission einen Raum der Stille, in der der Seemann Andacht halten, an seine Familie denken, zu seinem Gott beten kann. Begleiten Sie mich nun nach Hamburg, in den Internationalen Seemannsclub Duckdalben: Sonntag Abend, 19.00 Uhr. Ein Seemann aus Tuvalu bittet um Teststreifen für sein Diabetes-Messgerät von einem deutschen Hersteller. Bis Montag Mittag sollten sie wohl zu besorgen sein. Die Realität sieht anders aus. Das Testgerät wurde in Frankreich gekauft, die passenden Teststreifen gibt es nur dort. Die Internationale Apotheke braucht 14 Tage, um sie zu besorgen. Vom Hamburger Seemannsclub aus wird der Kollege in Le Havre angerufen, er kauft eine ausreichende Menge Teststreifen, schickt sie auf schnellstem Weg voraus zum nächsten Hafen: In Felixtowe wartet der Diakon mit den Teststreifen auf den Seemann aus Tuvalu. Das ist "soziale Betreuung von Seeleuten", meine Damen und Herren, eine Betreuung, die kein noch so bemühter Reeder oder Agent sicherstellen könnte. Ohne die Missionen wären Seeleute manchmal völlig hilflos, ohne Telefonkarten oder -zellen, allein zwischen Containern, Kränen und Kaimauern, garantiert auch kein Öffentlicher Nahverkehr oder ein Taxi weit und breit. Kennen Sie das weltweit einschlägige Symbol für festen Boden unter den Füßen? Es ist der Billardtisch! Können Sie sich die unbändige Freude des nigerianischen Seemanns vorstellen, der, mitten im tiefen Winter, in leichter Sommerkleidung von Bord kommt, im Seemannsclub zufällig einen Fußball sieht, fragt, ihm ein ganzjährig bespielbares Fußballfeld bestätigt und die Winterkleidung incl. fester Schuhe aus dem ITF-Fond gezeigt werden? Verwunderung im Club: Er lässt sich sofort zurück an Bord bringen. Dort erst zeigt sich das ganze Ausmaß seiner Begeisterung: Aus allen Ecken stürmen Seeleute, in Kochskleidung, in Blaumann, mit Helm, mit Sicherheitsschuhen, mit Badelatschen, so viele wie möglich quetschen sich in den Kleinbus, stürmen die Schuh- und Kleidungskiste im Club. Sie genießen das Fußballspiel, wie es wohl keiner von uns jemals nachempfinden könnte, sie haben einige schöne, entspannende Stunden erfahren. Zuwendung, Freude, Spaß, Vergnügen. Dank ITF und Seemannsmission eine gute, eine freundliche, eine liebevolle Visitenkarte eines deutschen Hafens. 1,2 Millionen Seeleute sind immer in der Fremde, fremd unter Fremden. Sie finden Fürsorge, Zuwendung, Freundlichkeit, Hilfe, wenn nötig: Sie dürfen ein Stück zu Hause sein im Seemannsheim, im Club, manchmal sogar in der Home Mission, der Aufnahme in die Familie des Seemannsdiakons. Oder freuen Sie sich mit mir über Swaanke, heute gerade drei kleine Jahre alt, ist sie Sonnenschein und Maskottchen im Internationalen Seemannsclub Duckdalben. Tochter der Diakonin: sie hat schon so viel Zeit ihres kleinen Lebens im Club verbracht; schwarz, weiß, gelb oder braun, klein oder groß, laut oder leise, Bart oder Glatze - sie sieht all diese vielen Nationen, Kulturen, Sitten, Gebräuche - das alles ist selbstverständlicher Alltag für sie: Können Sie ermessen, was Seeleute empfinden, wenn sie - oft monatelang fern von der eigenen Familie, den eigenen Kindern - plötzlich solch ein kleines Knuddelkind treffen? Oder den Hauskater? Nicht umsonst haben wir die Identität unserer deutschen Seemannsmissionen in den Begriff "Support of Seafarer's dignity" gefasst. "Support of Seafarer's dignity" - das kann man nicht kaufen. Das muss man leben. In unseren Missionen wird das gelebt. Und weil das Parlament des Deutschen Bundestages das erkannt hat, wurde die Ratifizierung der ILO- Konvention 163 einstimmig beschlossen. Die unverzichtbare Arbeit der sozialen Betreuung von Seeleuten muss politisch unterstützt werden. Und lassen Sie mich – dies dann als Wirtschaftspolitikerin - bitte auch noch auf den ökonomischen Nutzen des Wohlergehens von Seeleuten für die Reeder und Schifffahrtsgesellschaften hinweisen, auf den Sicherheitsaspekt. Die Liegezeiten der Schiffe werden immer kürzer, die Häfen größer und weitläufiger. Ständig muss auch im Hafen verholt werden, es gibt nicht mehr den ausgiebigen Landgang früherer Jahre, das Abenteuer die Welt zu sehen, fremde Länder kennen zu lernen. Nein, der Seemann lebt oft genug sprachlich isoliert in einer multikulturellen Besatzung mit minimalen Verständigungsmöglichkeiten, wenig Freizeit, kaum Abwechslung, ohne sportliche Betätigung, ohne Waldspaziergänge, ohne seine Freunde, seine Frau, seine Kinder, seine Familie, er fühlt sich oft mutterseelenallein. Als Unternehmer können Sie ermessen, dass ausgeruhte, zufriedene, sorgenfreie Mitarbeiter, die in einem angenehmen Betriebsklima arbeiten, viel leistungsfähiger, konzentrierter und einsatzfreudiger arbeiten. Ein ausgeglichener, wacher, aufmerksamer Seemann ist ein Sicherheitsrisiko weniger! 80 % der Unfälle mit Seeschiffen geschehen aufgrund menschlichen Versagens, viele durch Übermüdung (fatigue). Safety ist nicht nur eine technische Frage des Schiffbaus, nicht nur eine Frage des Alters und Zustandes der Schiffe, sondern auch eine Frage der Qualifikation und Aufmerksamkeit der Seeleute. Die neuen Gefahren durch terroristische Anschläge lassen uns befürchten, dass Terroristen Schiffe auch als Waffe einsetzen könnten: Ich hoffe, Sie stimmen mir zu, dass eine aufmerksame Besatzung hier allergrößten gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Schaden verhindern könnte. Das alles wird unterstützt durch das Wohlergehen der Seeleute – und dies wiederum bedarf unser aller Unterstützung durch die Sicherstellung der Dienste der Seemannsmissionen. Reeder, Charterer, Schifffahrtsgesellschaften müssen ein ureigenes Interesse an der Unterstützung der sozialen Betreuung von Seeleuten haben. Gewerkschaften und Kirche kümmern sich schon aufgrund ihres originären Auftrages um das Wohlergehen der Seeleute. Staatliche Institutionen brauchen keine Sorge wegen einer möglichen finanziellen Überforderung zu haben: Erstens sei ihnen gesagt, dass jeder Unfall volkswirtschaftlich immens höhere Kosten verursacht, jeder vermiedene Unfall also entsprechend hohe Einsparungen bedeutet. Auch die Konvention selbst spricht den Unterzeichnerstaaten als Aufgabe nur die Sicherstellung der Bereitstellung der sozialen Dienste zu. Die dazu gehörige Empfehlung 173 (Recommendation 173) weist den Staaten die Koordinierungsaufgabe für die vielfältigen möglichen Formen der Betreuung von Seeleuten durch alle damit befassten Einrichtungen zu. Es gilt also, das Bewusstsein für die besondere Bedeutung der Arbeits- und Lebenswelt der Seeleute und ihrer Unterstützung breit in die Entscheidungsgremien hinein zu tragen. Dazu können wir alle beitragen: Gewerkschafter, Parlamentarier, Reeder, Kirchenvertreter, Mitarbeiter in den Ministerien der Seefahrtsländer. Je mehr Nationen die ILO - Resolution 163 ratifizieren, desto zuverlässiger wird das Wohlergehen der Seeleute gesichert, desto sicherer wird die Schifffahrt: Ökonomischer Nutzen für die Reeder und die Gefahrenabwehr gegen ökologische Schäden sind willkommene – und beabsichtigte – Nebeneffekte der ILO – Resolution. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, es gibt noch viel zu tun! Ich bin sehr daran interessiert zu hören, wie die formale und die materielle Umsetzung der sozialen Betreuung von Seeleuten in den baltischen Staaten aussieht. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. |