Demokrat im politischen Wettbewerb
Zum Tod des früheren Bundestagspräsidenten Dr. Rainer Barzel
Er war einer der prägendsten politischen Persönlichkeiten der Nachkriegsgeschichte: Rainer Barzel, der am 26. August 2006 nach langer schwerer Krankheit im Alter von 82 Jahren gestorben ist. In den drei Jahrzehnten, in denen er Mitglied des Deutschen Bundestages war, gestaltete er in verschiedenen Ämtern bundesdeutsche Politik mit. Barzels politische Karriere begann rasant und wurde 1972 durch das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt gebremst und in andere Bahnen gelenkt. Sein höchstes politisches Amt trat er 1983 an, als ihn der Bundestag zum 8. Bundestagspräsidenten wählte.
1924 wurde Rainer Candidus Barzel in Ostpreußen geboren. Wie sein Vater trug er den zweiten, lateinischen Vornamen, der soviel wie „der Glänzende“ bedeutet und auf einen frühchristlichen Martyrer zurückgeht. Barzel war Marineflieger und studierte nach dem Krieg Rechtswissenschaft und Volkswirtschaft. Mit 23 Jahren schrieb er noch als Student sein erstes Buch über „Die geistigen Grundlagen der Parteien“. In die Politik trat er als Redenschreiber des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold ein. Mit 33 Jahren wurde er im Wahlkreis Paderborn für die CDU in den Bundestag gewählt. Von 1957 bis 1987 gehörte er dem Bundestag an. Im fünften Kabinett Adenauers war er Minister für Gesamtdeutsche Fragen, ab 1964 Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU. In dieser Funktion wurde er zwischen 1966 und 1969 zusammen mit seinem sozialdemokratischen Amtskollegen Helmut Schmidt zum Garanten der Großen Koalition.
Als die Mehrheit von Kanzler Brandt bei dem Streit um die Ostverträge schmolz, forderte ihn Barzel als Kanzlerkandidat der Union heraus. Völlig unerwartet scheiterte er im April 1972 mit dem Misstrauensvotum im Bundestag, weil ihm zwei Stimmen aus der eigenen Fraktion fehlten. Wie sich in den 90er Jahren herausstellte, waren zwei Unionsabgeordnete vom Staatssicherheitsdienst der DDR bestochen worden.
Danach ereilten den Katholiken Barzel eine Reihe von familiären Schicksalsschlägen. Seine einzige Tochter nahm sich das Leben, seine Ehefrau starb an Krebs. Die zweite Ehefrau kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben.
20 Jahre nach seinem ersten Ministeramt übernahm er 1982 im Kabinett von Helmut Kohl für einige Monate erneut das inzwischen in Ministerium für innerdeutsche Beziehungen umbenannte Haus. 1983 wählte der Bundestag Barzel zum Bundestagspräsidenten. Doch im Zusammenhang mit der "Flick-Affäre“ trat er 1984 zurück. Die Vorwürfe gegen ihn haben sich später als haltlos erwiesen.
Barzel lebte nach seiner Zeit in der aktiven Politik als Autor und Politikberater. Seine 2001 erschienene Biographie überschrieb Barzel mit „Ein gewagtes Leben“. Barzel hat sich in diesem Sinne als Mensch und Politiker den Herausforderungen stets gestellt – in erfolgreichen und in Zeiten von Rückschlägen. „Demokratie ist Wettbewerb, auch der Meinungen und Personen. Keiner ist im Besitz der alleinigen Wahrheit“, sagte Barzel.
Bundestagspräsident Norbert Lammert würdigte Barzel als einen der herausragenden Parlamentarier Deutschlands, der ungewöhnlich lange Zeit in ungewöhnlich vielen Spitzenämtern dem Land gedient habe. „Mit besonderer Leidenschaft hat er sich für die Wiederherstellung der deutschen Einheit eingesetzt – auch in Zeiten, in denen dieses Ziel vielen Beobachtern und politisch Aktiven völlig unrealistisch erschien“, so Lammert.