Pragmatischer Parlamentsreformer
Nach dem Bundespräsidenten ist er der höchste Repräsentant der deutschen Demokratie: Der Bundestagspräsident – protokollarisch der "zweite Mann im Staate". Mag seine politische Macht auch begrenzt sein, so genießt sein Amt doch höchstes Ansehen. Sein Wort hat in der Öffentlichkeit Gewicht. In unserer Serie stellen wir die zehn Männer und zwei Frauen vor, die an der Spitze des deutschen Parlaments standen. Hier: Kai-Uwe von Hassel, vierter Bundestagspräsident vom 5. Februar 1969 bis zum 13. Dezember 1972.
Er ist Bundestagspräsident in einer Umbruchszeit und wird
selbst zum Reformer: Kai-Uwe von Hassel übernimmt das Amt an
der Spitze des Parlaments nach dem Rücktritt Eugen
Gerstenmaiers im Januar 1969, im letzten Jahr der Großen
Koalition. Schon im Herbst kommt es bei der Bundestagswahl zum
Machtwechsel, der bisherige Außenminister Willy Brandt (SPD)
wird Kanzler der ersten sozial-liberalen Koalition. Doch die
CDU/CSU bleibt die stärkste Fraktion, und von Hassel, der sich
auch beim politischen Gegner Respekt verschafft hat, wird erneut
zum Bundestagspräsidenten gewählt.
Seine Amtsführung gilt als fair und sachlich. Anerkennung
erhält er später insbesondere für sein Bemühen
um eine Parlamentsreform. Die von ihm erlassenen
"Verhaltensregeln", die Abgeordnete verpflichten, jede
vergütete Nebentätigkeit anzuzeigen, sind in weiten
Teilen noch heute in Kraft.
Von Afrika nach Glücksburg und zurück
Kai-Uwe von Hassel wird am 21. April 1913 in Gare/Tansania – der früheren deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika – als Sohn eines Farmers und Schutztruppenoffiziers geboren. Während des Ersten Weltkrieges wird die Familie interniert und muss das Land verlassen. Sie kehrt in die alte Heimat, das nahe Flensburg gelegene Glücksburg zurück.
Kai-Uwe von Hassel legt dort 1933 das Abitur ab und absolviert eine
landwirtschaftlich-kaufmännische Sonderausbildung als
Pflanzungskaufmann für Übersee. Die Lehre wählt er
nicht ohne Grund: Den jungen Mann zieht es 1935 zurück nach
Afrika. Zusammen mit seinem Vater will er eine Plantage aufbauen.
Doch als dieser plötzlich stirbt und zudem eine Kaffeeseuche
die ersten eigenen Pflanzungen zerstört, beginnt der damals
22-jährige Pflanzungskaufmann auf verschiedenen Farmen zu
arbeiten.
Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird er jedoch erneut
interniert und 1940 nach Deutschland ausgewiesen, wo r als Soldat
einberufen wird. Zuletzt ist von Hassel Leutnant in Norditalien,
bevor er in britische Kriegsgefangenschaft gerät.
Politischer Aufstieg in Schleswig-Holstein
Im Dezember 1945 wird von Hassel entlassen und kehrt nach Glücksburg zurück, wo er zunächst die Schlichtungsstelle für Wohnungssachen im Landkreis Flensburg übernimmt. Auch politisch wird von Hassel aktiv: 1946 tritt er der CDU bei und übernimmt in den folgenden Jahren nicht nur viele Partei-, sondern auch zahlreiche öffentliche Ämter.
Es ist eine steile Karriere: 1947 wird er Bürgermeister in
Glücksburg, außerdem zieht er in den Flensburger
Kreistag und in den Landtag in Kiel ein. 1953 bereits erringt von
Hassel ein Bundestagsmandat, das er aber ein Jahr später
aufgibt, um Ministerpräsident in Schleswig-Holstein zu
werden.
Von der "Spiegel-Affäre" zur "Starfighter-Krise"
Als im Januar 1963 Franz-Josef Strauß (CSU) im Zuge der "Spiegel-Affäre" zurücktritt, ist es Kai-Uwe von Hassel, der sein Nachfolger im Bundesverteidigungsministerium in Bonn wird. Als Ludwig Erhard (CDU) wenig später die Regierungsverantwortung übernimmt, behält von Hassel das Amt, auch wenn er wiederholt von der Opposition im Zusammenhang mit der "Starfighter-Krise kritisiert wird.
Das Kampfflugzeug, das gegen den Rat von Experten unter
Strauß in großer Stückzahl für die Bundeswehr
beschafft worden ist, weist große Mängel auf, die
schließlich zu einer Serie von tödlichen Unfällen
führen. Allein 1965 sterben 17 Soldaten bei Abstürzen.
1970 verunglückt auch von Hassels Sohn Jochen
tödlich.
Reformen für ein leistungsfähiges Parlament
In der Großen Koalition wird von Hassel im Dezember 1966 Vertriebenenminister. An einem Gesetz zur Gleichstellung der Flüchtlinge aus der DDR mit den Vertriebenen ist er maßgeblich beteiligt. Etwa zwei Jahre später schlägt dann die CDU/CSU-Fraktion das "nüchterne Nordlicht" als Nachfolger für den zurückgetretenen Eugen Gerstenmaier als Bundestagspräsidenten vor.
Von Hassel wird am 5. Februar 1969 gewählt und übernimmt
das Amt in einer Phase heftiger gesellschaftspolitischer
Auseinandersetzungen. Die noch junge parlamentarische Demokratie
gerät in die Kritik einer rebellierenden Jugend. In dieser
Situation ist es das zentrale Anliegen von Hassels, mit einer
umfassenden Parlamentsreform Arbeit und Ansehen des Parlaments zu
verbessern.
Das Ziel ist ein leistungsfähiger Bundestag: Von Hassel baut
die Wissenschaftlichen Dienste entscheidend aus, richtet ein
Presse- und Informationszentrum ein und schafft für die
Abgeordneten die Möglichkeit, Enquete-Kommissionen einzuberufen. Schnell erwirbt sich
der Pragmatiker Respekt für seine faire und
überparteiliche Amtsführung. Besondere Beachtung finden
die von ihm zum Ende seiner Amtszeit erlassenen "Verhaltensregeln",
die Abgeordnete unter anderem verpflichten, jede vergütete
Nebentätigkeit anzuzeigen.
Leidenschaftlicher Europapolitiker
Das Amt des Bundestagspräsidenten sei das "wichtigste und schönste" gewesen, dass er je innegehabt habe, das soll von Hassel oft gesagt haben, so berichtet später Rita Süssmuth, von 1988 bis 1998 selbst Bundestagspräsidentin. Doch als nach der Bundestagswahl am 13. Dezember 1972 die SPD die größte Fraktion stellt, wird die Sozialdemokratin Annemarie Renger zur Bundestagspräsidentin gewählt.
Als fast 60-Jähriger entdeckt von Hassel eine neue Passion
– die Europapolitik. Bis zu seinem Tod wird er sich ihr in
verschiedenen Positionen widmen: Ab 1977 als Vizepräsident der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates und von 1979 an als
Abgeordneter des Europäischen Parlaments, dessen Mitglieder in
diesem Jahr erstmals durch die Bürger der Mitgliedstaaten
direkt gewählt wurden.
1984 scheidet von Hassel schließlich aus der aktiven Politik
aus, begleitet sie aber weiterhin interessiert und kritisch. In
Erinnerung ist seine Bemerkung geblieben, nicht Politik verderbe
den Charakter, sondern "schlechte Charaktere haben die Politik"
verdorben. Für von Hassel kann dies wohl kaum gelten: Er gilt
als unprätentiös und integer.
Am 8. Mai 1997 bricht Kai-Uwe von Hassel im Alter von 84 Jahren bei der Verleihung des Karlspreises an den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog tot zusammen.